Posted tagged ‘Lärm’

Lerm und Geräusch. Plus 1 Hobby

23. Januar 2013

1315671233

Ins Fenster gucken (Künstler und Fotograf sind mir leider unbekannt)

Irgendwo, ich nehme an „im Netz“, hat man nun jüngst ein Museum ausgestorbener oder vom Verschwinden bedrohter Geräusche aufgemacht. Dorthin kann man am Sonntagnachmittag das zukunftsfrohe, aber erfahrungsarme und vielleicht widerstrebende Jungvolk hinschleppen, um ihm vorzuführen, wie die analoge Antike geklungen hat: Das Rattern des Super8-Projektors, das Schnurren der Telefondrehwählscheibe, das feenhafte Wispern und Quietschen vorspulender Musikkassetten, das Klappern der Gabriele-Schreibmaschine von der Firma Adler usw. Herrlich!  Man wird wieder richtig jung! Obwohl, jung ist man ja eh, zumindest inwendig. „Das Ich altert nicht“ – das hat eine kluge Frau mal gesagt, Susan Sontag, Hannah Arendt oder Hertha Däubler-Gmelin, ich erinnere mich nicht mehr so gut. Die Frage ist natürlich: Wie jung ist dieses unverwüstliche innere Ich? Trägt es kurze Hosen und hat noch immer Angst vor der Mathe-Arbeit? Oder ist das Ich schon etwas weiter, zieht saugend an einer Haschisch-Zigarette und greint weinerlich: „Ich MERK überhaupt GAR nichts…“? Und ist prolongierte Infantilität überhaupt etwas Gutes? Die einen sagen so, die anderen so, oder sie werfen das Problem auf, ob forever young eigentlich auch bedeutet, dass man sozusagen konstitutiv zu den Ewiggestrigen gehört. Das möchte man ja nämlich nicht.

Andererseits hat Gestrigkeit einen unleugbaren, unverwüstlichen Charme, wovon mir meine fast neunzigjährige Nachbarin erzählte, zum Beispiel aus der Frühzeit des Telefonierens auf dem Lande: Wenn in ihrer Jugend ein Gespräch anstand, kam ein Bote des Bürgermeisters auf dessen Dienstklepper angeritten und kündigte das alsbaldige Eintreffen eines Anrufes an, worauf man sich gemächlich zum Postamt verfügte, um dort von der Vermittlung eine Kabine zugewiesen zu bekommen, in der man gespannt auf das Klingeln des ungefähr fünf Kilo schweren Apparates wartete. Man darf gewisslich davon ausgehen, dass die anrufende Person dann weder „Hi, was machsn nachher so?“ oder „Ich sitze jetzt noch in der Bahn“ sagte, sondern etwas Wichtiges zu melden wusste, was sie sich zuvor vorsichtshalber auf einer Serviette notiert hatte, und zwar mit Füller!

Aufgrund der wohlerwogenen Seltenheit solcher Fernmündlichkeiten hatte ein jeder hinreichend Zeit für erbauliche Selbstgespräche, die das Ich trainieren und jung halten. Bushaltestellen waren noch Orte mitmenschlicher Begegnung, an denen mittels verstohlen gewechselter schwärmerischer Blicke zarte Bande zum anderen oder meinetwegen ruhig auch eigenen Geschlecht geknüpft werden durften. Heute starrt alles hypnotisiert aufs blassblau blinkende Handy und vereinsamt dabei, sitzt dann abends allein in der Küche und löffelt miese Fertiggerichte von Unilever mit tausend chemischen Zusätzen, von denen man eklige Allergien bekommt. Ruft man wo an, um sich auf ein Bier zu verabreden, heißt es: „Nee du, tut mir leid, heute geht schlecht, ich will mit der Gesine und dem Tobias die neue DVD mit Geräuschen aus den 80ern anhören!“ Hätte man sich doch beizeiten auch so ein Hobby zugelegt!

Meines ist, vor allem in der Winterzeit, die hierzu besonders viel Gelegenheit bietet, das Glotzen in anderer Leute Wohnungen. „Pfui Teufel, du Spanner“, schallt es mir entgegen, „das ist doch kein Hobby, das ist eine Perversion!“ Aber ich glotze keineswegs aus sexuellem Interesse, es ist mehr so ein Zwang, der wahrscheinlich aus meiner im tiefsten Unbewussten wurzelnden Überzeugung resultiert, das Leben der anderen müsste doch immerhin wenigstens etwas interessanter sein als mein eigenes. Natürlich ist das nur selten der Fall, was mich dann wiederum beruhigt und tröstet. Am liebsten schaue ich daher durchs Fenster Nachbarn beim Fernsehen zu, oder beim Telefonieren, aber bitte übers Festnetz. Das könnte ich stundenlang machen! Leider ist es dazu draußen zu kalt. Das Geräusch meiner klappernden Zähne stifte ich dem Museum.

 

 

Moment verpennt

13. Juni 2011

 

Mozart mit Kopfhörer (Gemälde von Anna Maria Dusl für "Falter")

Immer wieder gern gehört wird das Stück „4’33“ von John Cage, eine dreisätzige Komposition, bei der alle Instrumente schweigen („tacet“). Das Stück gibt es für Klavier, Kammer- sowie Sinfonieorchester. Ich bevorzuge die machtvoll schweigende („tutti“!) Londoner Orchesterfassung, die ich oft auflege und so laut drehe, dass sie eigentlich alles andere übertönen müsste. Leider funktioniert es nicht – die Straße will einfach nicht, wenn ich das mal so lautstark ausdrücken darf, ihre Fresse halten! Ich beklagte dies schon öfter, in letzter Zeit nicht nur aus rentnerhafter Ruhebedürftigkeit, sondern auch aus richtig gewichtigen Gründen: Ich soll nämlich Texte von mir einsprechen und hab dafür eigens ein teures Profi-Mikrophon-Headset von Sennheiser auf den Kopf geschraubt bekommen. Wenn ich aber meine elaborierten Klügeleien (von Augustinus bis Zoroaster!) später abhöre, klingt es immer, als hätte ich Kiplings Dschungelbuch vertont, sofern man als Dschungel akzeptiert, dass dort türkisch gebellt, Arabesk-Musik oder Gangsta-Rap gespielt und die Rolle kreischender Papageienschwärme von dauerfußballernden Kindern übernommen wird.

Ich meine, wer will schon erklärt bekommen, warum Hegel meinte, das Wirkliche sei das Vernünftige, wenn dann auf der Soundspur ewig das doofe Geddo lärmt? Die Straße ist zwar nie vernünftig, aber immer verdammt wirklich! Man stelle sich vor: Die zart-filigrane Abstraktionsarchitektur von Immanuel Kants „Kritik der“ leisen, quatsch, „reinen Vernunft“, und dann brüllt ständig einer dazwischen: „Du blöde Votze, ich hau dich zu Brei, du Nutte! Ich frag zum letzten Mal: Wo ist das Geld“? Das ist doch weder pädagogisch noch didaktisch als wertvoll einzustufen, Wirklichkeit hin oder her. – „Kinder, so kann ich nicht arbeiten!!!“

Aber jetzt, heute, Pfinxen, Montag. Ich erwache verkatert (hatte Pfinxen mal wieder mit Vatertag verwechselt, passiert mir jedes Jahr) um 6.00 Uhr morgens in meinem Schlaf-Büro und: ……….. es herrscht himmlische, ja göttliche Stille! Mein Hirn spielt alarmierende Musik ein (Eminem: „…the mike is yours and you’ve got only ONE SHOT, ONE OPPORTUNITY“!) und empfiehlt senile Bettflucht. Jetzt oder nie! Ran an den Schreibtisch, Hörbücher produziert, garantiert ohne Nebengeräusche! Negergeräusche? Nein, nein, Nebengeräusche. Natürlich bin ich es gewohnt, spontane Impulse noch mal reflektierend zu überdenken. Als ich zehn Minten später damit fertig bin, ist es 9.30 Uhr. Auf dem Hörbuch-Track nur weißes Rauschen, untermalt mit John Cage. Immerhin. Es war einfach zu ruhig zum Arbeiten.

Zu meiner Zeit reichten Knicks und Diener

1. Mai 2011

Verfluchte Küsserei! (Quelle: Bundesarchiv/Wikipedia) – Zu meiner Zeit küssten sich nur Liebende...

Keine Frage, sobald man beginnt, immer häufiger Sätze mit „Zu meiner Zeit…“ anzufangen, offenbart man, definitiv vom Laufband jugendlichen Up-to-date-Seins gefallen zu sein. Ich krieg nur nie mit, wann die Zeit eigentlich aufgehört hat, die meinige zu sein. Zum Beispiel: Wann hat das angefangen und welcher Benimm-Papst hat das eingeführt, dass man auf Parties oder sonst wo praktisch wildfremde Menschen gleich welchen Geschlechts, die vielleicht gerade mal Cousinen von Kollegen einer Freundes-Freundin sind, mit angedeuteter Umarmung sowie links und rechts der Wangen in die Luft gespitzten Küsschen zu begrüßen hat? Ich möchte das nicht! Ich bin nordisch-protestantisch erzogen! „Zu meiner Zeit“ taten es Knicks oder Diener, und bei der Tanzstunde seiner latein-amerikanischen Standardtanz-Partnerin auf den spitzbeschuhten Fuß zu treten, galt schon als Gipfel körperlicher Intimität. Schweißausbrüche bekam ich schon von solchen körperlichen Zunahetretungen! Und jetzt immer dieses Vollkontakt-Bussibussi.

In Großbritannien hält man wenigstens noch an sich: Prinz Willi und seine Käthe küssten sich bei der Hochzeit (!) laut Pressemeldung gerade mal 0,7 Sekunden– und die kennen sich schon zehn Jahre! Käme vielleicht jemand auf die Idee, die Queen bei der Schulter zu packen, ihr die komische quietschgelbe Hutkreation vom Kopf zu reißen und die alte Dame mit Boden-Luftkuss-Raketen zu beschießen? Eins, zwei, drei wäre man lebenslang von der royalen Gästeliste gestrichen! Mich aber schleift man auf Geburtstagsfeten, wo ich eh niemanden kenne, und ehe ich mich versehe, habe ich eine Vroni, eine Heidrun, „den Klaus“ und „Ali, ihr müsstet euch eigentlich kennen“, hüftsteif halb-umarmt und links, rechts luftgeküsst. – Moment mal Ruhe, jetzt singt gerade der Chor: „Da-ha-has gi-hibt ja nun würklich wei-heiß Go-hott schlümmeres!“ Ja klar gibt es schlimmeres, immer.

Vor allem für ungesellige Grizzleys wie mich, die ohnehin schwer aus ihrer Höhle zu locken sind, und sich plötzlich im Zentrum eines brachialen Höllenlärms wieder finden, der heute Party heißt. Aus viel zu mickrigen Boxen dröhnt, schrillt und scheppert überwiegend schlechte Musik, die von Gruppen exaltierter Menschen, die sich unmotiviert um Stehtische drängen, versuchsweise überschrieen wird; übertönt wird die Kakaphonie lediglich von Damen in den Mittvierzigern, die gekleidet sind wie 20-, sich aber benehmen wie 14-Jährige und mit Hilfe kreischenden Gelächters unsagbare Spontaneität und ziellose Begeisterung abstrahlen. Eigentlich hülfe jetzt nur die zügig eingeleitete Narkotisierung durch einen zuverlässig zünftigen Vollrausch, was sich aber leider verbietet, weil die Gattin auch da ist und ein Auge auf mich hat, meine hilfesuchenden Verzweiflungsblicke aber zunächst streng ignoriert. Dabei hasst sie solche Events mehr als ich, sie lässt es sich nur nicht so anmerken.

„Zu meiner Zeit“ waren Parties natürlich auch doof, aber man konnte sich wenigstens in der Küche absentieren, mit einigen verständigeren Menschen ein Konventikel bilden und bei geistigen Getränken geistvolle Bemerkungen austauschen. Aber es gibt keine Küchen mehr! Man steht oder, wenn Gott einem gnädig ist, hockt in einer Ein-Raum-Galerie oder Avantgarde-Kiez-Bude mit abstrakt-expressionistischen Bildern an der Wand, nirgends Nischen, Höhlen oder Verstecke, man kennt niemanden, auf den man einbrüllen könnte oder möchte, und aus den Schepperboxen kommt Elektro-Pop der späten 90er. Keiner kümmert sich um wen anders als um die Mitglieder der ur-eigenen Brüll-Gruppe, und trotzdem hab ich das Gefühl, einen schlechten Eindruck zu machen. Mit krampfigem, fest in die Backen gedübeltem Grinsen sitze ich da und beschaue konsterniert den Vorhof zur Hölle. Bei anderen Gelegenheiten exkulpiert mich die Gattin schon mal mit der mitleidigen Bemerkung: „Mein Mann ist Philosoph“, als sei das kein Beruf, sondern eine Diagnose wie Diabetiker oder Tourette-Syndrom.

Hier und heute ist es für solche Feinheiten zu laut. Im Übrigen, falls es jemanden interessiert, das einzige, woran ich kranke, ist ein angeborener Mangel an aufgesetzter Begeisterung. Und vielleicht noch eine gleichfalls hereditäre Überempfindlichkeit der Nah-und Fernsinne. – Drei Stunden später, ich hab die Stadien Tinnitus, Trigeminus-Neuralgie und Trisomie 21 schon durch, kenne ich noch immer niemanden. Das liegt an meiner altersbedingten Unpässlichkeit. „Zu meiner Zeit“ hatte ich noch Kraft zum Übermut. Ich wäre aufgestanden, schnurstracks auf irgendeine Bärbel, Ines oder Irmtraud zugegangen, hätte sie gepackt, ihrer Gruppe entrissen und sie mit fröhlich brüllendem „Hi! Ich bin der Kraska!“ gnadenlos abgeküsst, umarmt und so meinem Freundeskreis einverleibt. Dazu fehlt mir inzwischen Chuzpe, Dreistigkeit und Lust an dadaistischer Provokation.

Ich kann von Glück sagen, wenn es morgen heißt: „Wer war denn eigentlich dieser dicke alte Mann in Schwarz mit dem schmerzverzerrten Gesicht?“ – „Ach, das war bloß der Mann von der X* (*Name geändert, i. e. Gattin), der soll ja Philosoph sein oder jedenfalls so Psycho, irgendwie“. Aber, bitte: Was tut man in solchen sich hinziehenden Stunden quälender Lebenszeitverschwendung? Ich habe einen Freund, der memoriert dann im Stillen Logarithmen-Tafeln. Kann ich leider nicht. Ich meditierte – immer noch nach allen Seiten grinsend  – den berühmten, zweieinhalbtausend Jahre alten Satz des Anaximander: „Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahinein erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit; denn sie schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“ – Das will heißen: Wenn du als notgedrungen nun mal „Seiender“ schon da bist, Platz wegnimmst und auf Parties Kanapees verdrückst und sauren Wein trinkst, dann zahl halt auch den Preis dafür! Existieren ist nun mal nicht kostenlos!

Später, in eine stille Kneipe retiriert, starren die Gattin und ich in je ein wohlverdient großes Glas Absacker-Gutedel; wie Karpfen öffnen wir ab und zu den Mund – und schließen ihn dann wieder, in resigniertem Einverständnis. Kein Grund, noch Lärm zu machen. Wir sind Party-Spoiler. Ein Wunder, dass man uns immer noch einlädt. Unsere Zeit ist nämlich vorbei. Na ja, der Mai ist dann trotzdem gekommen…

Noise Day gefeiert

28. April 2011

Arm dran, wer gleich zwei solcher Geräte besitzt (Quelle: Wiki)

Ich hab noch immer keinen Schimmer, wer diese Tage immer festlegt – Tag der Milch, Tag des Buches, Tag des wohlverwahrten Spargroschens usw. Urplötzlich heißt es in den Medien, z. B. morgens in diesen als „Frühstücksfernsehen“ firmierenden digitalen Höllenvisionen, die einen eigentlich sofort wieder ins Bett treiben müssten, mit grauenhaft fröhlich vor sich hin pfeifender Gutelaunehaftigkeit: „Guuuten Mooorrrgen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Heute ist der Tag des…“ – und dann hat man noch verfluchtes Glück, wenn nicht gerade „Tag der Darmkrebsvorsorge“ ist und man, während man sein einsam-mönchisches Frühstücksei vor dem Computer/Fernseher aufklopft, von eigens dazu engagierten, berühmten, graumelierten TV-Kommissaren ermahnt wird, sich als älterer Herr nun aber mal dringend von einem Proktologen in den … – zack! Puh! Gerade noch rechtzeitig weggezappt auf Phoenix-Tierfilm! Wobei man dann wieder sich freuen darf, wenn gerade über Mitgeschöpfe berichtet wird, die nicht mehr als vier Beine besitzen und sich angemessen fellpuschelig zum freundschaftlichen Kuscheln und Streicheln anbieten.

Ich genieße das unverdiente Privileg, mit einer Journalistin verheiratet zu sein, die ihr Büro direkt am Puls der Zeit aufgeschlagen hat und mich notfalls mit Nachrichten aus der sog. Wirklichkeit versorgt. Als ich ihr gestern morgen wehleidig die Nöte meiner Existenz e-mailte, replizierte sie fröhlich: „Passt ja! Heute ist doch Tag des Lärms!“ Es verhielt sich nämlich so und begann morgens um 8.00 Uhr: Nachbar Özgür machte ernst mit der Ankündigung, es könne demnächst „vlleich ma bisschen laut“ werden und bearbeitete zusammen mit seinen Mitstreitern die Wand zu meinem Arbeitszimmer mit Bohrer, Vorschlaghämmern und Spitzhacken. Im Frühstücks-TV kam gerade ein Bericht darüber, wie Lärm den Blutdruck in lebensbedrohliche Höhen treiben könne, wovon ich zum Glück nur wenig mitbekam, weil es nämlich viel zu laut war. Minütlich erwartete ich, dass das Osmanenheer bei mir durchbräche, sodass ich es persönlich bei mir am Schreibtisch zu begrüßen die Ehre hätte. Stattdessen machte der Baulärm pünktlich Pause, damit ich Zeuge eines mörderischen Radaus vor meinem Hause werden durfte.

Hab ich schon mal über die Irren in unserem Viertel geschrieben? Wohl nicht, oder? Meistens hacke ich ja auch bloß auf den Migranten herum.  Dabei haben wir im Geddo auch Irre, Meschuggene, Psychos und Bekloppte, die übrigens, fall es jemanden interessiert, zumeist die deutsche Minderheit repräsentieren. Bei dieser bunten Minorität handelt es sich zumeist um Delirierende, alkoholbedingt stark verwirrte Korsakoff-Patienten, Schizos, Paralytiker, Paranoiker und freiberufliche Phantasten, denen vor langer Zeit leider abhanden kam, was der Normalbürger ehrfurchtsvoll „Sinn & Verstand“ nennt. Gott, ja, ist halt so. Einer von der Zunft der Teilzeit-Außerirdischen, der mir noch neu war, kam um ca. 11.00 Uhr mit seinem feuerroten Fliwatüt vulgo irgendwie aufgemotzten Kehrgerät (das aber nichts kehrte!) ins Geddo gebrettert, hielt, den Motor aufbrüllend lassend, gegenüber meiner Haustür und produzierte, dem Tagesmotto entsprechend, LÄRM.

Vom „Bock“ stieg ein älterer Hardrocker im Arbeitsanzug, mit schütterem, rötlich-blonden Wikinger-Pferdeschwanz, der hoch echauffiert Zornentbranntes in sein Handy brüllte. Es dauerte ein bisschen, bis er begriff, dass er zum Behuf der angestrengten Telekommunikation vielleicht doch besser vorher die Lärmschutzkopfhörer absetzen sollte. Hierauf freilich wurde er zwangsläufig Opfer meines aus dem Fenster gebölkten Hinweises, dass er, würde er dermaßen weiterbrüllen, eines mobilen Telefongerätes weißgott nicht länger bedürfe. Der an seiner Weltsicht kurzfristig irre gewordene Schreihals stutzte, bedachte meinen Ratschlag mit zunehmend wohlwollendem Nicken, zögerte noch ein kurzes Weilchen, steckte das Gerät dann folgsam in die Hosentasche, – um in weiterem den Disput mit dem jetzt endgültig als imaginär entlarvten Gesprächspartner nunmehr mithilfe etlicher ins Irgendwo gerichteter, lauthals gebrüllter Bemerkungen fortzusetzen. Da dies seine Energie noch nicht erschöpfte, tigerte er wild gestikulierend unter meinem Fenster auf und ab, mit sich selber telefonierend, aber in einem Ton, also, da hätte ich längst aufgelegt.

Danach das allfällige Kindergeschrei, das sich hier im Geddo anhört wie eine Horde (sagt man Horde? Herde? oder Schwarm?) Papageien bei der Gruppernbalz im Regenwald, fortwährend misstönendes, hochfrequentes, unartikuliertes Kreischen, von dem nicht auszumachen ist, ob es einer irgendwie gearteten Kommunikation oder lediglich lauterer Daseinsfreude zum Ausdruck dient. Bevor mich jemand belehrt: Ich weiß, dass man mit der Zwille nicht auf Kinder schießen darf.

Wenigstens hat sich das Baupionier-Batallion von nebenan jetzt erholt und kann wieder in die Wand. Zwar hat der Elan nachgelassen, aber es reicht noch, um meine vorbehandelten Nerven mit beharrlichen Scharren, Kratzen und Schleifen richtig blank zu bekommen, sodass sie beim abwechslungsreichen Arabesk-Geknödel aus den fahrbaren HiFi-Türmen arrivierten Zuhälternachwuchses, unten auf der Straße, schon präventiv mitschwingen. Fasziniert betrachte ich die kleinen kreisförmigen Mini-Wellen in meinem Kaffeebecher und frage mich, ob es theoretisch auch akustisch ausgelöste Tsunamis geben könnte.

Den Abend des Tags des Lärms begehe ich mit der Gattin in aller Stille. Mit einer Ausnahme: Als sie fragt: „Warum bist du denn so gereizt?“ schreie ich markerschütternd: „Ich BIN nicht gereizt! Ich freue mich nur auf den TAG DES ZORNS!“

Geddo Symphony

6. Oktober 2010

 

Hätt ich auch gern manchmal: Eine sog. Schallkanone (hier zur Piratenabwehr an Bord der Queen Mary). Fotoquelle: Wikipedia, Artikel "Lärm"

 

 

Wenn mich Leute mitleidig angucken, bloß weil ich erwähne, freiwillig im Hochfelder Geddo zu leben, krieg ich ja Trotzphase. „Hier, meine Lieben“, patze ich pampig oder prahlerisch zurück, „ist jedenfalls tausendmal mehr Leben auf der Straße als in euren muffig-putzigen Kleinbürger-Vorstädten mit Vorgarten-Idylle und Keramikschild an der Tür („Hier wohnen Anika und Thorben Mustermann mit Finn-Luka, Cleo-Malwine und Hund Nappo“); in solchen sklerotischen Norm-Schlafboxen für mittlere Angestellte möchte ich ja nicht für geschenkt wohnen!“

Sitz ich hingegen in der stylisch-coolen Wohnung der Gattin bei Abendessen und Tagesrückblick, hört sich das etwas anders an, in etwa so: „Dieser gottverfluchte verfickte Scheißlärm in meinem Geddo macht mich noch krank! Da hast du keinen Augenblick Ruhe, Mensch! Können die nicht mal für ’ne Minute die Klappe halten, das Kreischen und Bölken einstellen und ihr bescheuertes Arabesk-Gedudel runterdrehen?!“ – Beides ist nicht falsch. Leben find ich eigentlich ganz gut, und die vollverklinkerten niederrheinischen Mittagsschlafmützendörfer, die hinter heruntergelassenen Sicherheitsjalousien immer wie verzehrsberuhigt ausgestorben wirken, machen mir eher Angst. Andererseits bin ich ruhebedürftiger, denkberufstätiger Nörgelrentner, der auch schon mal gut ohne Soundtrack auskäme.

Leider fehlt mir die technische Ausstattung, sonst würde ich euch einen achtzehnstündigen Mitschnitt aufnehmen. Los geht’s um 7.00 Uhr. Ouvertüre: die städtischen Müllharmoniker. „Kraaatz-rawong! Braatzkrackgrommel? Mjampftrumbrummel Rattazong! Und Wrummm.“ Das Geddo steht an der Spitze der Welt-Müllproduktion, weswegen jeden zweiten Tag die Stadtreinigung mit einem airbusgroßen Schreddermonstertruck heranbrettert, um zerschlissene Sitzgruppen, kaputte Schrankwände und anderes undefinierbares Geraffel an Ort und Stelle herzhaft saftkrachschmatzend zu zermalmen. Leider geht das nicht erschütterungsfrei, so dass regelmäßig zwei, drei Auto-Alarmanlagen anspringen („Lalüüüja, lalüüüi, lalüüiiiii“), was die Besitzer aus den Betten scheucht, die vor dem Haus erst einmal ein ausgedehntes Palaver veranstalten, also nicht die Betten, aber die arbeitslosen Daimler-Besitzer von nebenan („Oooh, ağabey, olmaz! Sizin arabınz  kırıldı mı? Lanet olsun!“ – Yook, ama bilmiyorum ya, bu işi anlayamamıyorum, allahbilir!“*). [*= Etwa: „Oh weh, großer Bruder, das kann doch nicht! Ist Ihr wertes Automobil etwa entzweigegangen? So’n Mist!“ – „Nee, aber weiß ich ja auch nicht; werde aus der Kiste nicht schlau, weiß Gott!“] Dann: „Bollatabolla bollertromm bong dongboller“ – die geleerten Mülltonnen werden geborgen.

Sobald sich der Dorfplatz etwas beruhigt, schwärmen die Kids aus. Kinder treten ja hier grundsätzlich in Schwärmen auf. Kaum sind die kleinen Prinzen vor der Tür, schreien sie schon nach Mama: „An-nne! An-nne!“ gellt es die Fassaden hinauf, „den Yavuz, den scheiß orospuçocuğu, will misch der Ball nich…!“ Der Ball wird aber, nachdem „An-nne“ aus dem vierten Stock ausgiebig keifend die gelbe Karte gezeigt hat, doch frei gegeben, um dann für die nächsten Stunden ausdauernd gegens Garagentor gedonnert zu werden. Es holzbollerbolzt Galatasaray gegen Beşiktaş Istanbul; manchmal funkt auch Inter Mailand alias „Mehmed, den makat* [*=Arschloch]“ dazwischen. Der fette blonde Dirk kräht: „…unn deine Mudda is’ne Schwuchtel!“ – Der Pegel steigt. „An-nnne! An-nne!!“ Mama hat aber jetzt den Papp auf, hält einen erzieherischen Vortrag in mehrstimmig anatolischen Oberton-Koloraturen und trompetet abschließend ein energisches, arabisch aspiriertes „Bana rahat birak!“ in den Morgenhimmel. Ja, „laß mich in Ruhe“, das denke ich da auch schon.

Später Vormittag. Die ersten Trucker und Busfahrer aus dem Montenegro trudeln im Café Lipa ein. Als erstes treten sie steifbeinig vor die Tür, um der Heimat von ihrer glücklichen Ankunft („dobro! dobro, hvala!“)  zu berichten.  (Seltsames Phänomen: Die Serben qualmen zwar im Lokal, zum Telefonieren gehen sie aber grundsätzlich nach draußen…) Zuhause ist indes sehr weit weg, da müssen sie schon volle Lungenkraft einsetzen. Je kleiner das Handy, desto lauter; um die Nachbarschaft nicht auszuschließen, wird gastfreundlich auf Lautsprech geschaltet – man hört die Stimme Serbiens sogar bis hier hin („krrchz, rhzrntsch, prrschtnscht vryznntpt?“).  Außerdem donnern, rumpeln und klabautern jetzt in endlosen Krawallkarawanen die Lieferwagen, Vans und SUVs mit bulgarischem Kennzeichen durch die Straße. Vom Balkan haben die Fahrer die schöne Sitte mitgebracht, mitten auf der Kreuzung stehen zu bleiben, um sich, von Seitenfenster zu Seitenfenster, mit einem Bekannten auszutauschen. Das allfällige Hupkonzert wird dabei wohlwollend in Kauf genommen und fröhlich beantwortet.

Mittag. Einkaufszeit für Semra, Dilem und Aynur. Die Kinder kreischen markerschütternd. Die Mädchen kriegen eine geschallert, die Proto-Paschas werden zusammengebrüllt. Dorftratsch wird furioso con fuoco e fortissimo bequaakgackelt. Trolleys holpern übers Rumpel-Pflaster. Es wird Zeit, die heimischen HiFi-Türme auf Muezzin-Lautstärke zu bringen: gnadenlos jodelt, knödelt und jault das ewig gleiche Arabesk-Geschluchze durchs Viertel und gibt bis abends nicht mehr Ruhe.

Ab Nachmittag versammelt sich männliche Jugend, zumeist um ein Auto, dessen Motorklappe aufklafft. Man spielt „türkisches Ferngespräch“. (Vallah! Das geht preisgünstig ganz ohne Telefon – einfach bloß quer über die Straße schreien!) Johlend werden Jungmänner begrüßt, die im BMW-Cabrio auf extra breiten Schlappen vorbeipatroullieren, um uns großzügig und flächendeckend mit („Umpf! Umpf! Uffta-umpf!“) Gangsta-Rap und HipHop zu bedröhnen. Bei mir im ersten Stock beginnen alle Tassen im Schrank  zu klirren. Zum Glück nähert sich ein Streifenwagen mit Sirenengeheul. Aus dem Café Lipa schallen traurige Lieder. Die Heimat, die schöne Heimat.

„Düüdelflöt, flööt, flöööt!“ – die ambulanten Schrotthändler bitten um Aufmerksamkeit. „Schrapp schrapp futscherfutscherfutscher“ – ein Polizeihubschrauber kreist überm Viertel – die „Bandidos“ vom Chapter um die Ecke haben heut Jahreshauptralley mit geselliger Sammelausfahrt („Dröhndröhndonner, wummerkrawrrrumm, krawroll!“). Es wird Abend. Zeit für ein bissel marginales Bollywood-Quäken, Reggae-Tamtam und Radio Gaziantep. Fußball ist zuende („Geh isch gezz Video!“), Zeit für den Obst- und Gemüsehandel („schleif, kräwatter, rummbums“), die Kisten im Sprinter zu verstauen. „Krömmmm, wrömmmm rödelröchelrödel“ – Nachbar Izmet versucht noch immer, den maroden Motor seines Zweit-Astra zu starten.“Trömmel trömmel trömmel“ – endlich läuft er und wird vorsichtshalber die nächste Stunde angelassen, damit er nicht wieder ausgeht.

Letzten Sonntag war mal für eine halbe Stunde himmlische Ruhe – da wummerte urplötzlich etwas in die Stille, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: DEUTSCHE SCHLAGERMUSIK! „Ruhe da unten!“ hörte ich mich brüllen, während ich nach dem Besenstiel suchte, um gegen die Wand zu bollern. Ist doch wahr, Mensch!