Lerm und Geräusch. Plus 1 Hobby


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Ins Fenster gucken (Künstler und Fotograf sind mir leider unbekannt)

Irgendwo, ich nehme an „im Netz“, hat man nun jüngst ein Museum ausgestorbener oder vom Verschwinden bedrohter Geräusche aufgemacht. Dorthin kann man am Sonntagnachmittag das zukunftsfrohe, aber erfahrungsarme und vielleicht widerstrebende Jungvolk hinschleppen, um ihm vorzuführen, wie die analoge Antike geklungen hat: Das Rattern des Super8-Projektors, das Schnurren der Telefondrehwählscheibe, das feenhafte Wispern und Quietschen vorspulender Musikkassetten, das Klappern der Gabriele-Schreibmaschine von der Firma Adler usw. Herrlich!  Man wird wieder richtig jung! Obwohl, jung ist man ja eh, zumindest inwendig. „Das Ich altert nicht“ – das hat eine kluge Frau mal gesagt, Susan Sontag, Hannah Arendt oder Hertha Däubler-Gmelin, ich erinnere mich nicht mehr so gut. Die Frage ist natürlich: Wie jung ist dieses unverwüstliche innere Ich? Trägt es kurze Hosen und hat noch immer Angst vor der Mathe-Arbeit? Oder ist das Ich schon etwas weiter, zieht saugend an einer Haschisch-Zigarette und greint weinerlich: „Ich MERK überhaupt GAR nichts…“? Und ist prolongierte Infantilität überhaupt etwas Gutes? Die einen sagen so, die anderen so, oder sie werfen das Problem auf, ob forever young eigentlich auch bedeutet, dass man sozusagen konstitutiv zu den Ewiggestrigen gehört. Das möchte man ja nämlich nicht.

Andererseits hat Gestrigkeit einen unleugbaren, unverwüstlichen Charme, wovon mir meine fast neunzigjährige Nachbarin erzählte, zum Beispiel aus der Frühzeit des Telefonierens auf dem Lande: Wenn in ihrer Jugend ein Gespräch anstand, kam ein Bote des Bürgermeisters auf dessen Dienstklepper angeritten und kündigte das alsbaldige Eintreffen eines Anrufes an, worauf man sich gemächlich zum Postamt verfügte, um dort von der Vermittlung eine Kabine zugewiesen zu bekommen, in der man gespannt auf das Klingeln des ungefähr fünf Kilo schweren Apparates wartete. Man darf gewisslich davon ausgehen, dass die anrufende Person dann weder „Hi, was machsn nachher so?“ oder „Ich sitze jetzt noch in der Bahn“ sagte, sondern etwas Wichtiges zu melden wusste, was sie sich zuvor vorsichtshalber auf einer Serviette notiert hatte, und zwar mit Füller!

Aufgrund der wohlerwogenen Seltenheit solcher Fernmündlichkeiten hatte ein jeder hinreichend Zeit für erbauliche Selbstgespräche, die das Ich trainieren und jung halten. Bushaltestellen waren noch Orte mitmenschlicher Begegnung, an denen mittels verstohlen gewechselter schwärmerischer Blicke zarte Bande zum anderen oder meinetwegen ruhig auch eigenen Geschlecht geknüpft werden durften. Heute starrt alles hypnotisiert aufs blassblau blinkende Handy und vereinsamt dabei, sitzt dann abends allein in der Küche und löffelt miese Fertiggerichte von Unilever mit tausend chemischen Zusätzen, von denen man eklige Allergien bekommt. Ruft man wo an, um sich auf ein Bier zu verabreden, heißt es: „Nee du, tut mir leid, heute geht schlecht, ich will mit der Gesine und dem Tobias die neue DVD mit Geräuschen aus den 80ern anhören!“ Hätte man sich doch beizeiten auch so ein Hobby zugelegt!

Meines ist, vor allem in der Winterzeit, die hierzu besonders viel Gelegenheit bietet, das Glotzen in anderer Leute Wohnungen. „Pfui Teufel, du Spanner“, schallt es mir entgegen, „das ist doch kein Hobby, das ist eine Perversion!“ Aber ich glotze keineswegs aus sexuellem Interesse, es ist mehr so ein Zwang, der wahrscheinlich aus meiner im tiefsten Unbewussten wurzelnden Überzeugung resultiert, das Leben der anderen müsste doch immerhin wenigstens etwas interessanter sein als mein eigenes. Natürlich ist das nur selten der Fall, was mich dann wiederum beruhigt und tröstet. Am liebsten schaue ich daher durchs Fenster Nachbarn beim Fernsehen zu, oder beim Telefonieren, aber bitte übers Festnetz. Das könnte ich stundenlang machen! Leider ist es dazu draußen zu kalt. Das Geräusch meiner klappernden Zähne stifte ich dem Museum.

 

 

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8 Kommentare - “Lerm und Geräusch. Plus 1 Hobby”

  1. karu02 Says:

    Na endlich darf ich mal wieder auf hohrem Niveau schmunzeln.

  2. Lakritze Says:

    Ha, schön! (Dieses Museum werde ich natürlich baldmöglichst aufsuchen und von der Vitrine mit dem Zähneklappern ein hübsches Händifoto anfertigen, Titel: »Warme Gedanken«.)

  3. rotewelt Says:

    Herrlich, der Artikel, Herr Magister, hat Spaß gemacht, ihn zu lesen! 🙂

  4. /cbx Says:

    Immer wieder ein Ereignis, wenn der Meister persönlich in die wohl gefüllte Wortkiste greift und nach Wochen des Schweigens – einfach so – schnell mal ein paar Maßstäbe setzt.

    Endlich fühle ich mich wieder wie ein lallender Analphabet.
    Ich habe den Text aber trotzdem genossen.


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