31. August 2011

Hier geht es evtl. rund! Kraska ist moseln...
Es gilt unter Kennern nicht gerade als untrügliches Zeichen geistigen Überfliegertums, sich über das Wetter zu beklagen, ich weiß. Es wäre so, als wollte man über die Gravitation jammern, was ich aus schwergewichtigen Gründen zwar im Stillen auch manchmal tue, aber es ist halt dieses Allerweltslamento doch von so eklatanter Sinnlosigkeit und ein derart plattes Klischee, dass man gute Erziehung und korrekt gebügelte Lebensart eher dadurch unter Beweis stellt, dass man mit einem mild stoischen Lächeln über die unvermeidlichen Unbill des Erden-Daseins hinweg geht. Vielleicht ist es ein Vorurteil, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein britischer Gentleman jemals über das Wetter spricht. – Freilich gibt es zu jedem einer- auch ein andererseits.
In dem Film „Willkommen Mr. Chance“ (im Original: „Being there“), einem meiner zehn Lieblingsstreifen aus den späten 70ern, die ich einst in Cihcago, Illinois, im Kino sah oder sehen und entziffern durfte (war ohne Untertitel!), spielt der legendäre Peter Sellers in einer seiner letzten Rollen einen tumben Einfaltspinsel von Gärtner, der nur eine Weisheit beherrscht: „Well, first there is spring, then you’ll have summer, which just follows autum, and after that – winter. Then spring again“. Diese Binsenweisheits-Worte spricht er aber mit solchem Ernst und so großer Emphase, dass alle Welt denkt, er meint das bestimmt irgendwie metaphorisch und als sibyllinische politische Anspielung; man hält es für ein Statement über Ökonomie und Marktzyklen, lädt ihn in TV-Talkshows ein und am Ende wird er damit Präsidentschaftskandidat in den USA. Damals eine super Satire, würde der Film heute nicht mehr funktionieren, weil die Behauptung, dem Frühling folge der bzw. ein Sommer, nicht mehr als Binsenweisheit gilt, sondern als heikle, unsichere und höchst umstrittene Prophezeiung.
Das Blöde ist: Ich bin Sternzeichen Salamander, von der Physiologie also wechselwarm, und hatte eine längere sonnig-warme Phase fest eingeplant, um leichtblütig über die bevorstehende Herbst- und Winterdepression zu kommen. Stattdessen regnete es mir monatelang kühl und herzlos ins Hirn. (Wer sich Sorgen um mich machen will, sollte es JETZT tun, bitte. – Vielen Dank, sehr freundlich.) Die Depression erhebt ihr träges Haupt. Bang deklamiere ich für mich den armen Hölderlin: „Weh mir, wo nehm ich, wenn
/ Es Winter ist, die Blumen, und wo
/ Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde?
/ Die Mauern stehn
/ Sprachlos und kalt, im Winde
| Klirren die Fahnen.“ So sieht es doch aus! Vor lauter Fahnenklirren und Blumenvermissen ist mir schon jetzt ganz blümerant zumute.
Erstaunlicherweise war es der große Elisabethanische Unterhaltungsschriftsteller, theatralische Räuberpistolen-Dichter und Prophet William Shakespeare, der meinen Zustand vorausahnte, als er seinen Narren („Was ihr wollt“) folgenden Singsang anstimmen ließ: „Und als der Wein mir steckt’ im Kopf / Hopheisa, bei Regen und Wind! / Da war ich ein armer betrunkener Tropf; / Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag.“ – Yes, Sir, so kann man es ausdrücken! Hier im Westen regnet in der Tat der Regen jeglichen Tag. Erst war er warm, der Regen, dann fröstelig kühl, jetzt wird er schon empfindlich kalt. Ich will nicht übertreiben, aber – ist schon mal jemand am Wetter gestorben? Darauf ankommen lassen werde ich’s grad nicht, Freunde – weshalb ich zu einem verzweifelten Mittel greife: Obwohl ich diese Tätigkeit perhorresziere: Ich reise! Und zwar ab!
Bloß an die Mosel zwar nur, und lediglich ein paar Tage, weswegen die Gattin schon ätzt: „Das wird bestimmt mehr so’n Rentnerurlaub!“ – Sicher, doch „immerhin“, repliziere ich schlagfertig, „wandern wir noch nicht durch den Harz, du mit blauem Popeline-Blouson und ich in straff gebügelter beiger Anglerweste!“ Kann nichts schaden, der Gattin schon mal die eheliche Zukunft auszumalen; die stillen Tage im Alzheim.
Wenn also hier einige Tage nichts Neues unter der Sonne (Ha!) erscheint, dann, weil ich moseln gefahren bin. Entweder herrscht dort eitel Sonnenschein, oder ich stecke mir enorme Mengen Wein in den Kopf. Vielleicht, begeisterungshalber, auch beides. Danach habe ich mit Sicherheit SAD („seasonal affective disorder“), wofür zumindest die Klassiker noch angemessenes Verständnis hatten. Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, werde ich von dem romantischen Moselort keine Fotos machen, keine Klöster und Burgen beschreiben und auf die Belobigung von Restaurants und Weinprobierstuben strikt verzichten. So viel Noblesse muss sein. Indes, falls ich dort, in der Fremde, dem wahren Leben begegne, dann lass ich es von euch grüßen.
Kategorien: Emotional Weatherreport
Tags: 70er, Alter, Alzheimer, andererseits, Anglerweste, ausdrücken, autum, Ökonomie, Überfliegertum, übertreiben, Bangigkeit, beige, Being there, Binsenweisheiten, Blouson.opeline, Blumen, britisch, Burgen, Chicago, Danke, das Blöde, das wahre Leben, Dasein, deklamieren, Depression, Der Regen regnet jeglichen Tag, doofe Fotos, Drama, Ehe, elisabethanisch, empfindlich, Emphase, Ernst, Erziehung, Fahnen, Femde, Feunde, Fotos, Frühling, Gattin, Gärtner, geistig, Gemüt, Gentleman, Gravitation, Harz, Haupt, Hölderlin, heikel, Herbst, heute, Hirn, irdisch, Jahreszeiten, Jammern, kalt, kühl, Kino, Kino. Anspielung, Klassiker, Klischee, Kopf, Kraska, Lamento, Lächeln, Leben, Lebensart, Lieblingsfilme, Lyrik, Marktzyklen, Metaphorik, metaphorisch, Mittel, Mosel, moseln, naiv, Narr, Noblesse, perhorreszieren, Peter Sellers, Phase, platt, Popeline-Blouson, Präsidentschaftskandidat, Prophet, Prophezeiung, Räuberpistole, Regen, Reise, Reisen, Rentner, Rentnerurlaub, Restaurant, Restaurantlob, Restaurants, rind, Rolle, SAD, Salamander, Satire, Schlösser, Schwergewicht, seasonal affective disorder, sibylinisch, Singsang, Sinnlosigkeit, Sir, Sommer, Sonne, Sorgen, spring, Sterben, Sternzeichen, Stoizismus, summer, TAG WAHNSINN, Theater, träge, Tropf, tumb, TV-Talkshows, umstritten, Untertitel, Urlaubsfotos, USA, Vorurteil, warm, Was ihr wollt, wechselwarm, Weh, Wein, Weinprobierstuben, Welt, Westen, Wetter, William Shakespeare, Willkomen-Mr.-Chance, Winter, Zitat, Zukunft
Comments: 10 Kommentare
30. August 2011

Klar, JETZT, wo es arbeiten SOLL, schläft es natürlich, das Plapper-Hirn!
Item: Me and my brain. – Mein Gehirn und ich, wir sind schon ein verrücktes Paar! Zwei glorreiche Halunken! Die rechte und die linke Hand des Teufels! Jedenfalls weiß die rechte nie, was die linke tut und vice versa. – Der Zwist beginnt immer am späten Abend zur Kuschelzeit: Ernie, der Körper, ein hinfälliger alter Sack, will ruhen und träumt von „der Langen Nacht des Schlafens“ (titanic); Bert, das hyperaktive Hirn, will aber unbedingt plappern. Hört einfach nicht auf, hat Plauderlaune, Quackelwasser getrunken, rappelt und sabbelt vor sich hin, in einem fort. „Gib Ruhe jetzt, Hirn!“ fordert der gesetzte Herr Körper. „Ja, ja, gleich, warte, nur eines noch will ich loswerden…“ antwortet die interne Wörtermühle. Irgendwann duselt Körper-Ernie mal weg, wacht aber in der Gespensterstunde wieder auf und lauscht: Da quatscht doch wer! – Bert, das Hirni, labert fröhlich vor sich hin! Es ist drei Uhr, Mensch! Hirni indes kennt keine Ruhezeit.
Tagsüber ist es ins Joch gespannt, pflügt noch immer durch Hegels „Wissenschaft der Logik“, studiert Wahrheitstabellen oder müht sich, Luhmanns System der Systeme zu begreifen, des nachts aber hat es sozusagen sturmfrei und klatscht, klabautert und kaspert fröhlich im Leerlauf. Der verständige Körper bemüht sich, beim Aufwachen ganz leise zu sein, um zu horchen, was Hirn-Bert so treibt. Und? – Er redet jetzt schieren Unfug vor sich hin! „Sieben Jahre Bratherrschaft sind genug – geht ihr mal ruhig jetzt tanzen!“ frohlockt es da, oder grölt sinnlose Parolen wie „Durch das Land muss eine Korpulenz-Initiative gehen!“ bzw. summt zur hirnrissigen Operettenmelodie ein saudummes Liedchen in endloser Wiederholung: „Keiner ist ja richtig gut / und besser erst / viel später...“
Das Körper, ermattet von Tagwerk, Wein und Alterszwicken, schlummert wieder ein, schreckt aber im Morgengrauen auf – das werte Gehirn hat noch immer Logorrhöe, bzw. noch schlimmer, denn inzwischen wird es frech und (das ist die gefürchtete seniorale Morgendepression!) richtig gemein: „Du mieser Versager!“ krakeelt es Schuldbewusstsein einflößend, „du kannst doch nichts, du bringst es nicht, du elender Prokrastinierer und Alles-Versäumer! Ich zähl dir mal auf, was du alles nicht gebacken kriegst…“ – Menno, muss man sich denn vom eigenen Gehirn derart unflätig beschimpfen lassen?
Ist erst sechs Uhr, aber trotzdem, was hilfts, ich stehe auf und gucke mir verschwiemelt selber beim Kaffee-Kochen zu, setz mich im Frottee-Morgenmantel an den Streitschrift-Schreibtisch, wo allerhand Arbeit ruft. Und wer hört mal wieder nicht? Genau! Hirn ist jetzt endlich eingeschlafen und nimmt den Hörer nicht ab. Nobody at home! Mein Gehirn und ich, wir ziehen einfach nicht am gleichen Strang. Wir streiten sogar darüber, wer von uns ich ist.
Kategorien: Me myself I, Philosopher's Corner
Tags: Ernie und Bert, Gehirn, Ich, Körper, Logorrhöe, Nachtschlaf, Plappern, Wörter
Comments: 7 Kommentare
29. August 2011

Dies ist schon nicht mehr die Teetasse, sondern die Zuckerdose (Timing hat versagt)
Generell tendiere ich dazu, in Formularen die Frage zur Religionsangehörigkeit mit „Taoist“ auszufüllen. Taoismus ist weitgehend ohne Brimborium, Götter, Päpste und doofes Gedöns; bösartiges oder auch nur nerviges Missionieren entfällt, dergleichen Pflichthungern, Sportbeten und Nettigkeitszumutung. Obschon uralt, ist der Taoismus eine elegante, nutzerfreundliche Religionsversion für Menschen, die schon alles haben, zum Beispiel alle Tassen im Schrank. Meine gute Oma (die doofe Oma war, glaub ich, Nazi) war schon Taoistin, ohne es freilich zu wissen. Widerfuhr einem Übles wie Windpocken, Liebesunheil oder Karriereknick, pflegte sie zu sagen: „Wer weiß, wozu das noch mal gut ist“, und das stimmte ja auch und deckt sich mit der taoistischen Einsicht, dass man als beschränktes Individum nie wissen kann, was beispielsweise ein Hals- oder Beinbruch oder so später noch Ersprießliches zeitigen kann. Vielleicht gründet man mit der eingipsenden Krankenschwester eine Familie und wird glücklich bis ans Lebensende.
Allerdings, auch Taoisten kennen Glaubenskrisen. Es gibt Dinge, wo die Möglichkeit, es könnte auch irgendwas Gutes daran sein, die menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Aus den USA, wo solche Dinge meistens herkommen, meldet man mir, es würde jetzt daran gearbeitet, E-Books mit einer Geräuschefunktion auszustatten. Man muss sich das so vorstellen: Wenn im Buch steht: „Es klingt an der Tür“, dann, äh, ja, klingelt es auf der Geräuschespur an der Tür. Wenn in einem Krimi Schüsse fallen, macht es „Peng! Peng!“ Angeblich wird dabei die individuelle Lesegeschwindigkeit des jeweiligen Buchnutzers gemessen, damit es nicht an völlig falscher Stelle „Peng!“ oder „Klingeling“ macht, denn das könnte ja doch irritierend wirken; Schussgeräusche bei Kussszenen könnten atmosphärische Störungen auslösen.
Unter denen, die mir erklären können, wozu solche Soundtracks gut sein sollen, verlose ich eine Hör-CD von mir, wo ich rede und dazu passende Geräusche mache! Das einzige, was mir bisher einleuchtet: Bei Gesellschaftsromanen aus dem 19. Jahrhundert, von Jane Austen etwa, hört man, heißt es, an den passenden Stellen dann das Geklirr und Geklapper von Teetassen. Für das Jungvolk, das seine Latte-to-go nur noch aus Pappbechern schlürft, hätte dies einen bildungsbereichernden Effekt: Immerhin weiß man dann, wie es sich anhört, wenn man noch Tassen im Schrank hat.
Am Ende dieses Textes hörte man, wäre er mit Soundtrack, als Schlusstusch so ein Geräusch, wie es entsteht, wenn aus einem Ballon die Luft entweicht, ein leicht pfeifendes, schnurriges Furzen also, und das hätte, zugegeben, schon seinen Reiz…
Kategorien: Die Banalität des Blöden: Zur Semiologie des Alltags
Tags: E-Book, Innovationen, Soundtrack, Taoismus, Tassen im Schrank
Comments: 10 Kommentare
29. August 2011

Wer das Glück hatte, Kinder zeugen zu dürfen, weiß, dass dieses ein durchaus zweischneidiges ist. Vom vierten bis zum achten Lebensjahr sind Menschenjunge oft beinahe entzückend, besonders, wenn sie eine Spur altklug sind oder ein Musikinstrument (Ausnahmen: C-Blockflöte, Geige, Schlagzeug) spielen. Dann allerdings geht es bald zügig bergab: Trotzkopfphase, extreme Pampigkeit, patzige Pubertät. Mit ca. 14 bricht die sog. Hebephrenie aus, früher auch Jugendirresein oder Läppische Verblödung genannt. In diesem Stadium erreicht der Mensch den Höhepunkt seiner Unzurechnungsfähigkeit.
Diese Phase dauert, je nach dem, so rund 20, 30 Jahre, dann tritt bei manchen allmähliche Besserung ein. Zuvor jedoch herrscht Unerträglichkeit, besonders bei Mädchen. Tragik der Natur: In einem Alter, in dem die jungen Damen zum Anbeißen anmutig aussehen, sind sie leider kognitiv komplett außer Kraft gesetzt und haben einen IQ, der weit unterhalb der Körpertemperatur rangiert. In diesem Entwicklungsstadium finden junge Menschen alles peinlich“. „Meine Eltern, ey, die sind sooo was von voll peinlich!“ ist ein auf dem Schulklo beim Nachschminken häufig gehörter Satz. Es ist die Zeit, wo man sich als Vati oder Mutti unauffällig schon mal nach geeigneten Heimen umhört oder öfter mit dem Jugendamt telefoniert.
Nun, sagen wir es ungeschminkt: Nichts ist so peinlich wie junge Menschen. Wobei „jung“ unter Umständen ziemlich lange dauern kann.
Ich persönlich erreichte, das Internet war kürzlich so freundlich, mir das ungebeten unter die Nase zu reiben, den Gipfel unsäglicher Peinlichkeit erst mit 26 Jahren. Ich hatte schon gehofft, ich könnte die Tatsache, von meinem 16. bis zu meinem 28. Lebensjahr ein blickdicht beratungsresistenter Idiot gewesen zu sein, im engeren Familienkreis halten, aber Pustekuchen. Irgendein blödes Sozialgeschichte-Institut an der FU Berlin hatte nichts besseres zu tun, als die Geschichte „der außerparlamentarischen Opposition“ zu dokumentieren. Und? Unter der Rubrik „maoistische Jugendorganisationen“ werde ich da als „1. Sekretär der Roten Garde“ ausgegraben und gezeigt, wie ich in meinem umgearbeiteten Konfirmationsanzug auf irgendeiner bescheuerten Bühne stehe und unsägliche stalinistisch-maoistische Stanzphrasen aufsage, die Welt erkläre (voll imperialistisch!) und deren sofortige Umarbeitung verlange (Diktatur des Proletariats!). – Grundregel für die Jetztzeit: Wem an Verdrängung liegt, der sollte nicht den eigenen Namen googeln!
Kategorien: Aus dem Kulturbeutel älterer Jugendlicher, Eigenlebenserinnerungen
Tags: FU Berlin, googeln, Hebephrenie, Jugend, Maoismus, Peinlichkeit, Pubertät, Verdrängung, Vergangenheit, Zeitgeschichte
Comments: 10 Kommentare
28. August 2011

Ziemlich gescheit ohne Forschungsauftrag: Alter Mann (Euripides, 485/84-406 v. Chr.)
Meine Lieblings-Provinz-Postille, die liberal-katholische „Rheinische Post“, schätze ich für den in ihren Texten gelegentlich aufblitzenden staubtrockenen Humor. Beispiel? „Die klassische Entscheidungstheorie“, wird aus der Welt der Wissenschaften reportiert, „geht bislang davon aus, dass der Mensch ein höchst rationales Wesen ist – ein Zustand, der in der Realität so nicht nachgewiesen werden konnte.“ Ob wohl ich nur selten Berührung mit der Realität habe, ist mir der Verdacht auch schon gekommen, dass Rationalität etwas überschätzt wird. Ganz genau wissen kann mans freilich nicht, also untersuchen wir das sicherheitshalber mal wissenschaftlich. Gottlob haben wir eine „Arbeitsstelle Rationalität im Licht der experimentellen Wirtschaftsforschung“. Die untersucht in einem auf zehn Jahre (!) angelegten Projekt (Gesamtkosten 2,7 Mio.!), ob es eventuell sein könnte, dass Menschen nur „eingeschränkt rational“ handeln. Bis 2016 will man das herausgefunden haben.
Obschon, eigentlich weiß das der Altsprachlich-Humanistisch-Gebildete schon seit rund 2500 Jahren, wie die kürzlich bereits angeführten Euripides-Worte zeigen: „Einsicht fehlt /
den meisten nicht, ganz anders liegt der Grund:
/ Was recht ist, sehen wir und wissen wir
/ und tun es doch nicht, seis aus Lässigkeit,
/ seis weil die Lust des Augenblicks / das Werk
verdrängt, und mancherlei Verlockung gibt’s …“ Nicht wahr? Vernunft, das ist ein hohes Gut, nur fragt sich, wer besitzt davon genug? Na, ich jedenfalls nicht. Ich selber trinke, lese, esse, liebe, enthusiasmiere & bewundere mehr, als mir gut tut. Ich lebe praktisch ständig wider besseres Wissen! Das könnte auf meinem Grabstein stehen: „Er lebte wider die Einsicht“. Was ich mich sehr beschämt und mich meine Eitelkeit gewahr werden lässt: Ich habe nicht zu der unnachahmlichen Noblesse und Zurückhaltung von Loriot gefunden, dem einhellig zum ewigen Bundespräsidenten deutsch-humorigen Selbstverständnisses gekorenen großen verstorbenen Mannes, der, auf die Frage, was auf seinem Grabstein stehen solle, geantwortet hat:„Nun, es wäre wahrscheinlich zweckdienlich, wenn mein Name darauf stünde.“
Wenn ich in hohem Lebensalter noch einen Wunsch hätte, dann wäre es wohl der, ein solcher zu werden, wie der Herr von Bülow einer war: Geistvoll, bescheiden, nobel bis vornehm, unschlagbar in seinem göttlichen Understatement und unnachahmlich in seiner hoch-eleganten Selbstironie! Ich schaffe es nicht. Ich bin zwar auch preußischer Herkunft, aber eher pommersch-plebeisch-proletenmäßig, peinlich pöbelhaft um meine Reputation bedacht. Um jede Peinlichkeit, vor allem die der Eitelkeit zu vermeiden, muss man es wahrscheinlich genetisch-gebürtig „nicht nötig haben“. Im Zeitalter egozentrisch-selbstbewusster Ich-Ich-Brüllerei gebe ich gern zu: Ich wäre gern ein anderer. Für mediale Karrieren ist das schlecht. Jungen rational handelnden Menschen rate ich daher unbedingt, sich selber absolut und zweifelsdicht „echt toll“ zu finden. Das hilft! Sich selber peinlich und aller Zweifel wert zu finden, ist echt keine gute Voraussetzung, um öffentliche Aufstiegschancen zu befeuern!
Übrigens, gegen die eigene vernünftige Einsicht Mist zu bauen – was man eigentlich für unmöglich hielt! – nannte man in der Antike akrasia. Vielleicht lag es daran, dass man damals leckere Zigarettchen nicht kannte. Sokrates zum Beispiel hätte sonst nicht verstanden, wie man trotz der Vernunfteinsicht, dass Rauchen schädlich ist, trotzdem seine Kippen durchzieht. Der Großphilosoph Platon und seine literarische Marionette Sokrates waren allen Ernstes der Meinung, wer auf dem Athener Markt 400 Drachmen für ein Stück Räucheraal ausgab, könne nur nicht ganz richtig im Kopf, vulgo von übellaunigen Göttern missleitet sein. Nobel gedacht, wenn auch unrealistisch
Ab 2016, wenn man dann wieder Kapazitäten frei hat, möchte ich anregen, könnte man ja mal experimentell erforschen, ob der Kapitalismus vielleicht gar nicht nur auf das soziale Wohl aus ist, sondern ein bissl auch auf Habgier beruht. Könnte ja doch sein!
Kategorien: Philosopher's Corner
Tags: Akrasia, eingeschränkt rational, Eitelkeit, Eleganz, Entscheidungstheorie, Euripides, Forschung, Gesellschaft, Grabstein, Handlungstheorie, Kapitalismus, Loriot, Ohio Sate University, Platon, Profit, Rationalität, Rheinische Post, Sokrates, Soziologie, understatement
Comments: 8 Kommentare
21. August 2011
Das aktuelle Wort der Woche: Zwetschgenkuchenwespenplage. – Wer sich schon immer gefragt hat, für wen eigentlich diese trash news sind, die von Unterschichtsmedien wie SPON, Bild.de, ARD-„brisant“ oder ZDF-„Hallo Deutschland“ verbreitet werden – die sind für mich, die philosophierende Couch-Kartoffel, die seit ihrem vierten Lebensjahr ebenso gierig wie mechanisch alles wegliest, was ihr vor die Augen kommt. Klar, ich könnte mir an einem blanken Sommertag im Freibad auch mal wieder Kants „Kritik der reinen Vernunft“ vornehmen, oder, auch erregend, Hegels „Wissenschaft der Logik“, aber nein, heute widme ich mich der Revolution bei N. Abd El-Faraq. Das ist kein von libyschen Rebellen eingenommener Grenzort, sondern bloß eine etwas abgetakelte Medienschnalle, die mal was mit Dieter Bohlen hatte. Ihr Spitzname ist „Naddel“. Ob sie sonst noch was kann, weiß ich nicht. „Über mich“, lässt sie die Medien verbreiten, „hat sich viel Häme ergossen“. Mein Unbewusstes, ein fürchterlich pubertär unartiges Ding, das ich nie in den Griff kriege, posaunt mir blitzschnell, eh ich erzieherisch eingreifen kann, ein „Na, wird nicht nur Häme gewesen sein“ ins Bewusstsein. Das ist mir peinlich. Ich distanziere mich vom Sexismus meines Unbewussten!
So, nun rasch zu den breaking news. Frau Abd El-Fraraq hat „nach fünfzehn Jahren ihre Perücke abgenommen!“ (Beweisbilder überall im Netz) – und dies sei für sie „ein Befreiungsschlag“ gewesen. Eine neue Perle in der Kette der arabischen Revolutionen! Ich erkläre mich uneingeschränkt solidarisch! Wenn doch nur alle Frauen so mutig wären und ihre Perücke, oder wenigstens das Kopftuch ablegten! – Festzuhalten für das Lexikon der Zeitgeschichte ist, dass Frau Nadja „Naddel“ Abd E. jetzt wohl die einzige Frau ist, die dafür international-medial berühmt ist, „in Wirklichkeit halblange Haare zu haben“. Möge ihr das auf ihrem weiteren Lebensweg viel Schwung geben!
Über die besagte Zwetschgenkuchenwespenplage habe ich Innerfamiliäres zu berichten. Die Gattin, eigentlich beinhart pragmatisch und als Journalistin berufsbedingt ohne sentimentales Mitgefühl für z. B. meine (wirklich jetzt echt schlimmen!) Alterswehwehchen oder das sonstige Leid der Kreatur („la bella donna senza pietà“) berichtete beim Abendbrot von einem Ereignis, das an Bedeutung der Perücken-Sache nahe kommt: Ihr ist, als sie mit dem Wagen im Stau stand, eine solche Wespe ins Auto geflogen, sei gegen die Scheibe geknallt und habe sich offenbar, so die Gattin, „wohl eine Gehirnerschütterung zugezogen“. (Ich musste erstmal googeln, ob Wespen überhaupt ein Gehirn haben!) Dem folgte eine ergreifende pantomimische Darstellung der Verwirrung, Desorientiertheit und Bestürzung des Insekts, dergestalt, dass ich beinahe in Tränen ausbrach, denn so packend, dramatisch, ja, tragödienhaft ist mir die schmerzerfüllte Derangiertheit einer verunfallten Wespe bislang nie in die Seele gedrungen, ich schwör! Meine Liebe erblühte abermals frühlingshaft: Ich bin vielleicht der einzige glückliche Mann, dessen Gattin in einem Stummfilm mit Klavierbegleitung eine „Wespe mit Gehirnerschütterung“ darstellen könnte, auch wenn sie das natürlich leider nie tun würde, denn sie verschmäht medialen Ruhm.
Da ich geringfügig anders gestrickt bin als Herr Bohlen, der wohl zu den von Robert Walser so perhorreszierten „pomadisierten Gorillas“ gehört, freue ich mich überdies darüber, dass die Gattin keine Perücke trägt.
Über all diese beglückenden Nachrichten, Neuigkeiten und Gewissheiten fühle ich mich vitalisiert und verjüngt. Fast bin ich revolutioniert. Aber sich die dritten Zähne herauszunehmen, würde vermutlich nicht als Befreiungsschlag gewertet und in den Medien erwähnt werden, oder? Aber Männer-Befreiung ist eh eine andere Baustelle.
Was übrigens das Schicksal der demolierten Wespe angeht: Geleitet von einer vorbildlich buddhistischen Einstellung hat die Gattin – im Stau war Zeit genug – die arme Wespe therapiert, gesund gepflegt und nach geeigneten Reha-Maßnahmen in die Freiheit entlassen. Nie, wirklich nie werde ich die pantomimische Darstellung der Wiedererlangung des wespischen Bewusstseins vergessen!
Wer ihr, also der Wespe, nicht der Gattin, auf seinem Zwetschgenkuchen begegnet, begegne ihr mit Respekt. Sie hat, wie „Naddel“, viel durchgemacht. Ach, ach, wie ich die Frauen liebe! Man könnte fast wesbisch werden!
Kategorien: Uncategorized
Tags: arabische Revolution, Befreiung, Gattin, Gehirnerschütterung, Kopftuch, Liebe, Macho, Naja "Naddel" Abd El-Faraq, Pantomime, Perücke, Sexismus, Stummfilm, Wespe
Comments: 12 Kommentare
16. August 2011

Abklatschen im Darkroom
Neueste Nachricht aus dem Geddo: Gerade wird es dunkel! Das ist keine Nachricht? Ist es wohl! Jedenfalls für meine vom Ramadan gebeutelten Nachbarn. Heftiges Tellerklappern und gieriges Geschirrgeklirr zeugen davon, dass Allah gnädig ist und es nicht übertreibt! Guten Appetit! Afiyet olsun, Nachbarn. Wie? Nein, vielen Dank, ich hab schon gegessen. Meinem Gott ist es ja egal, wann wir essen. Oder sogar ob überhaupt. Unser Gott ist gerade von einer Dienstreise aus Somalia zurück und es geht ihm gut. Er hat ein bisschen zugelegt und ordentlich Farbe bekommen. Wir sind ihm übrigens grundsätzlich eigentlich egal, lässt er ausrichten. – So, nach diesem eher funebren Tusch des Orchesters jetzt etwas leichtere Kammermusik.
Als Jugendlicher war ich etwas sperrig, weswegen mein Vater mich gern ins Heim gesteckt oder auf die Militärakademie geschickt hätte. Auf milderndes Drängen von Mutti wurde die Strafe zur Bewährung ausgesetzt und ich musste bloß zur Tanzschule. Trotzdem: Traumatisiert bin ich davon! Aber das nebenbei. – Jedenfalls, aus diesem hier nur knapp angedeuteten Bedeutungsuniversum kenne ich „von früher“ das Verb „abklatschen“. Ein Lexikon für aufgeweckte Heranwachsende hätte es so definiert: Abklatschen ist, wenn du siehst, wie deine Flamme schon viel zu lange mit diesem affigen Schnösel aus der Parallelklasse tanzt; dann gehst du dahin und „klatscht“ die Braut „ab“, was günstigenfalls bedeutet, dass sie sich vom Lackaffen ab und dir, dem wahren Sternenprinzen, zuwendet. Manchmal klappt das, manchmal nicht. Wenn du Pech hast, kriegst du was aufs Maul, was dem Begriff „abklatschen“ eine unangenehme Neben-Konnotation verleiht.
Alles ist im Wandel, warum nicht auch die Semantik. Heute klatscht andauernd jeder jeden ab, nicht nur im Sport. Abklatschen ist heute eine ubiquitär-universale Blöd-Geste, wenn ich das richtig sehe. Esoterische Poeten klatschen ihre Frau ab, wenn ihnen eine gute Zeile eingefallen ist; Koch-Show-Teilnehmer klatschen sich ab, wenn die Risotto-Pampe geriet; Plünderer tun es, wenn sie einen Flachbildfernseher ergattert haben und phänomenale Liebhaber reichen ihrer Bett-Gespielin die Hand zum Abklatschen, wenn diese einen furiosen Orgasmus gespielt hat; und ich, schon im Sarg, klatsche den Pfarrer ab, der mich beerdigt, weil mein Leben so irre gut gelungen ist.
„Abklatschen“ heißt heute, bzw. man tut es fortwährend deswegen, um sich gegenseitig zu beglückwünschen, wie toll man ist. Ist man denn toll? Daran nagt der Zweifel, und je mehr er nagt, desto öfter reckt man das Patschehändchen in die Luft und hofft, dass irgendein schlicht gehäkelter Mitbürger dagegen klatscht. Dann weiß man: Doch, doch, du bist ein Hecht. Sicher.
Apropos Klatsch. Die Dichterin Charlotte Roche, so dröhnt es mir vom SPIEGEL bis zur Bäckerblume werbefeucht entgegen, hat ein Buch verfasst, in dem sie ihre Erfahrungen mit Fellatio, Anal- und Trio-Sex aufarbeitet. Ganz schön mutig, finde ich! Als frühreifes und selbstaufgeklärtes Kind, wenn ich auf der Straße eine Schwangere sah, hab ich still bei mir immer gedacht: „Ha! Die hat bestimmt Sex gemacht!“ Jetzt weiß ich, dass Frau Roche auch Sex macht. Dieses Wissen wird mein Alltagsleben vielleicht nicht beträchtlich bereichern, aber es ermutigt mich, mein Privatleben ebenfalls öffentlich zu machen: Ich war mal in einem Swingerclub! Gern teile ich meine diesbezüglichen Erfahrungen mit dem bildungshungrigen Publikum: Es ist im Darkroom nicht nötig, sich namentlich vorzustellen – und Abklatschen ist dort weitgehend verpönt.
Kategorien: Die Banalität des Blöden: Zur Semiologie des Alltags
Tags: abklatschen, Öffentlichkeit, Charlotte Roche, Darkroom, Fellatio, Geddo, Gott, intime Geständnisse, Privates, Ramadan, Sex, Somalia, Swingerclub, Tanzstunde
Comments: 28 Kommentare
15. August 2011

Dem, der das an meine Hauswand geschrieben hat, schleudere ich energisch folgendes entgegen: 1. heißt das "dein Blog". Man schreibt ja auch nicht "Keiner bügelt deinen Hemd". 2. Woher willst Du das denn wissen? 3. Stimmt ja gar nicht!
Das Leben – ein Traum, oder? Alte Weisheit, klar, wenn auch als Titel für ein schmales Taschenbüchlein vielleicht noch immer Bestseller-tauglich, jedenfalls, weil, manchmal schläft man ein und wacht in Lummerland wieder auf, und dann tastet man vergeblich nach der Nachttischlampe und hat zugleich Angst, sich zu bewegen, denn die Puppenhäuschen um einen herum sind so zerbrechlich, die Menschen so winzig und die Verhältnisse von peinsam prekärer Abstrusität, man hat zwar das Gruseln gelernt und möchte aufwachen, was aber nicht geht, obwohl man vor Lachen nicht mehr schlafen kann, außerdem ist die Brille beschlagen, oder verlegt, man hat den dringenden Wunsch, zu sprechen oder zu schreien, doch die Lippen bewegen sich nur tonlos und man watet durchschnittsgelähmt durch einen See von Heuchelschleim. – Was man einwerfen muss, um einen derart delikaten Bewusstseinszustand zu erlangen? Es reicht, Nachrichten zu gucken.
Da steht vor einem Wald eindrucksvoll erigierter Mikrophone im Blitzlichtgewitter ein gedemütigtes, seelisch schwer derangiertes Anzugmännlein, offenbar ein Politiker, knüllt ein vollgeheultes Tempotuch und entschuldigt sich mit zittrig-gebrochener Stimme unter Schluchzen dafür, eine (einvernehmliche!) Liebesbeziehung mit einem Mädel aus dem U18-Bereich unterhalten zu haben. Danach muss er einen hohen Schandhut aufsetzen und wird weggeführt, um füsiliert zu werden, oder er tritt jedenfalls zurück, irgendwas derart. Die Medien kommentieren mit der Hand in der Hose.
Die Menschenwürde ist unantastbar? Nun, zumindest nicht mehr tastbar, sie scheint derart tiefer gelegt, dass die Gürtellinie schon als Hochgebirgshorizont erscheint. Was für ein degoutantes Schauspiel. Es sei diese Amoure zwar „kein rechtlicher oder privater, aber ein politischer Fehler“ gewesen, muss der zusammengestauchte CDU-Schranze aufsagen – und niemand schreitet ein, fängt an zu schreien oder, meinetwegen, zu speien. Was soll das sein? Politik in der Puppenstube? Leben wir im amerikanischen Bibel-Gürtel, dass die Liebe zu einer jungen Frau „ein politischer Fehler“ sein kann? Schwindel erregend, welcher verzwergte Begriff des Politischen dem zu Grunde liegen mag; frappierend auf jeden Fall das Maß an Hypokrisie in einer Spießer-Gesellschaft, in der 14-Jährige, auf „sexy“ dressiert, über Heidi Klums Laufstall stöckeln dürfen, eine 16-jährige Autorin (kennt noch jemand Frau Hegemann?) sabbernd dafür gefeiert wird, über Analsex auf der Disco-Toilette zu berichten und … ach, was rege ich mich auf.
„Es war schlichtweg Liebe“ beteuert der arme Sünder. Na, wenigstens mal gut, dass es nicht Geilheit war. Freilich, wenn ich als Alt-Macho, der durchaus gewisse Erfahrungen mit dem Liebreiz 16-18-jähriger Backfische machen durfte, mich jetzt einmal kurz in eine junge Frau versetze – und ich muss dann sehen, wie mein Ex-Lover, der mich bis kürzlich noch ganz doll „geliebt“ hat, sich eben dafür nun im Fernsehen „entschuldigt“, dem würde ich von Herzen gern in die Eier treten. Wenn er nur welche hätte.
Sicher, selbst im Zwergenmaßstab von Lummerland nur ein Stürmchen im Eierbecher, und das Sommerloch muss gestopft werden, klar, aber, mit Verlaub, verehrte Medien, trotzdem ein Indiz dafür, dass Onanieren eben doch schädlich ist.
Kategorien: Die Banalität des Blöden: Zur Semiologie des Alltags, Kraskavers diskutiert
Tags: Backfisch, Begriff des Politischen, CDU Schleswig-Holstein, Christian von Boetticher, Geilheit, Heuchelei, LUmmerland, Macho, Menschenwürde, Onanie doch schädlich, sweet little sixteen, Traum
Comments: 11 Kommentare
12. August 2011
Die Medien sind insgesamt ein gutes Beispiel für Schwarm-Dummheit. Jaulend und japsend, fortwährend über einander stolpernd und sich vor Eifer überschlagend, hechelt die Meute von einem Zentralaufreger zum nächsten. Und wir immer hinterher! Was kommt morgen? fragen wir uns fingernägelbeißend und vorfreudig erregt, Atom, Krawall, Börse, Euro oder wieder was ganz anderes? Um die Spannung nicht bis zur Unerträglichkeit hochschnellen zu lassen, gibt es aber auch Fixpunkte, von ganz weitem Vorhersehbares, nach dem man seinen Kalender stellen kann – Jahrestage etwa. Fünfzig Jahre Mauerbau, dreißig Jahre IBM-PC, oder demnächst, mir wird jetzt schon schlecht, zehn Jahre 11. September.
Von der medialen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet verstrich heuer hingegen, sagen wir mal als Beispiel, der 1891. Todestag des berühmten Thaumaturgen Apollonios von Tyana. Als Wundertäter machte er einst selbst Jesus Konkurrenz. In Ephesos soll er eine Jugendbande angestiftet haben, einen obdachlosen Bettler zu steinigen. Hinterher behauptete der heilige Mann, dabei habe es sich um einen verkleideten Pestdämonen gehandelt, und siehe: Die Pest trat unter den Ephesern tatsächlich nicht auf! Apollonios hat auch irgendetwas Bahnbrechendes geschrieben, was teils leider verschollen ist, teils ein Konvolut von Fälschungen darstellt, die auf einen gewissen Flavius Philostratos zurückgehen, der auch die Biographie des Wundermannes, auf die wir uns hauptsächlich stützen, weitgehend frei erfand und zusammenfabulierte. Letzterer, der Heilsbringer, war evtl. gelegentlich in Äthiopien oder sogar Indien, oder er ist, anderen Quellen zufolge, vielmehr aus Klein-Kappadokien nicht herausgekommen. Aus den Lehren des Apollonios wurde man übrigens nie recht schlau; als verbürgt gilt lediglich, dass er wahrscheinlich Vegetarier war und die Meinung vertrat, Gott sei an der Verehrung der Menschen nicht im geringsten interessiert.
Mich würden solche Denkwürdigkeiten erfreuen, wenn sie in den Nachrichten kämen, denn ich habe es gern, wenn hier und da Fragen offen bleiben und mir nicht immer gleich jedes Problem von Expertokraten zugemüllt wird. Diese Welterklärer dürften meinetwegen ohnehin gern einmal spannenderen Fragen nachgehen, anstatt immer den neuesten Weltdorftratsch mit Trivialitäten zu kommentieren – etwa, warum, nach einem halben Jahrhundert Raumfahrt und digitaler Revolution, fabrikneue Hemden immer noch mit heimtückisch versteckten Stecknadeln fixiert werden, von denen man nie alle findet, sondern etliche stets unter veitstanzähnlichen Verrenkungen aus entlegenen Körperteilen ziehen muss, während man im Hemd schon drinsteckt und eine äußerst unwürdige Figur abgibt! Über so etwas wird nie berichtet, und später wundert man sich dann, woher die Gewaltbereitschaft des kleinen Mannes auf der Straße herkommt (oder schreibt man in diesem Falle „klein“ groß?).
Der Alltag der übergroßen Mehrheit der Menschen setzt sich aus kleinen Katastrophen zusammen – bei großen gibt’s ja den Alltag nicht mehr. Aus kleinen Anlässen entsteht oft Verblüffendes. Zum Beispiel dieser Text, der sich eigentlich bloß dem im Grunde nichtigen Wunsch verdankt, ein einziges Mal öffentlich das Wort „Thaumaturg“ verwenden zu können, um es so der Vergessenheit zu entreißen.
Kategorien: Notizen
Tags: Apollonios von Tyana, Flavius Philostratos, Gewaltbereitschaft, Hemden, Jahrestage, Jesus, kleine Katastrophen, Medien, Schwarm-Dummheit, Schwarm-Intelligenz, Stecknadeln, Thaumaturg, Wundertäter
Comments: 2 Kommentare
Neueste Kommentare