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Das wahre Leben (ist nicht empfehlenswert)

18. September 2011

Wenn mir echt GAR nichts einfällt: Eigen-Nase in die Kamera

Huihh, puh, endlich! Darf nach öder Sommerpause wieder den Engel der Verwaisten, Bekloppten und Bescheuerten im Geddo spielen. Die Flaute bedrohte mich schon mit narzisstischer Störung! Aber jetzt ist alles gut, – d. h. also schlimmer denn je. Erstens ist der komplett wahnsinnige, aber beängstigend lebenstüchtige Rombach wieder da, der energetisch-meschuggene Querulanten-Prozess-Rentner mit „doppelt beiderseitig Lunge im End-Stadion“, der in Ägypten erwartungsgemäß seine Perle nicht wiederfand, sein Geld nicht mal ansatzweise wieder einspielte und ferner schwerstoperiert resp. lungenmäßig halbiert jetzt nur noch raucht, wenn er vorher eine Morphin-Tablette eingenommen hat. Immerhin ist er jetzt der braun gebrannteste Krebspatient, den ich kenne.

Ich durfte schon wieder eine kleine Übersetzung für ihn machen, aus dem Deutschen ins Internationale, und zwar einen Drohzettel an einen nigerianischen Dealer am HBF. Ich habs, glaub ich, ganz gut hingekriegt und auf Englisch heißt es ungefähr so: „Ey, Fucker! Don’t’cha sell any drugs further to A***, ’cause she’s observed by german drug police authorities! Otherwise I’ll smash your head on the wall and put the pieces of your shit head in your fucking asshole, you dirty motherfucker!“ Ich hoffe, ich habe Intention und Impetus stimmungsmäßig ziemlich original rübergebracht.

Rombach hat nämlich einen neuen Schützling, A*** (20), polytoxikomanische Junkie-Nutte, die ihn schon mehrfach ausgeraubt hat. Rombach ist wie ich: Er will einfach nicht lernen! Immer bloß Welt retten und gefallene Engel auf therapeutische Rosen betten. Wir beknackten Weltretter lieben so was. Einen Augenblick war ich versucht, ihm klar zu machen, dass es in unserer Stadt ca. 20.000 Drogen-Dealer gibt und er soviel Drohzettel gar nicht mal drucken kann, geschweige denn in schmutzige Hände drücken, aber ich hab’s dann gelassen. Die Lust, Menschen Illusionen zu nehmen, ist mir komplett vergangen. Wer bin ich denn.

Spät abends aber dann noch voll den Schutzengel gemacht. Schieb gerade mein Rad in den Hausflur und seh im aufflammenden Treppenlicht, wie eine ertappte Motte, Pitti (70), den frisch verwitweten und verzweifelten Ex-Hausbesorger durchs Treppenhaus geistern, die circa bummlig 28. Flasche Alt in der rechten, mir mit der linken Hand wattig zuwinkend, wie er, elegant in der Hüfte einknickend, mir Hopp! Hopp! Hoppfff! Rabumms! die Stufen entgegen stolpert, taumelt und rumpumpelt, auffm Arsch, um’s deutlich zu sagen. „Datt is, weil hier de Motten reinkommen“ begründet er seine momentane Stehschwäche etwas unmotiviert. – „Kenn ich, Pitti“, repliziere ich begütigend, „DIE Motten hatte ich auch schon mal!“ und rette ihm dann geistesgegenwärtig den Oberschenkelhals. War knapp. Jetzt sitzt er sicher unten im Hof, neben seiner Gattin in Form einer DM-Markt-Plastik-Totenkerze, trinkt Bier und saugt aus dem herbstlich warmen Abend den letzten Bodensatz abgrundtiefer Traurigkeit.

So, Geddo, was noch. Özgür steht im Schlafanzug in meiner Studierstube, rollt wild mit den Augen, sträubt den Schnauzbart und ringt die Hände. Mein Vorwurf, seine wahrscheinlich „scheiße verschweißten Rohre“ hätten meine Bude geflutet, kränkt ihn zutiefst in seiner anatolischen Ehre. „Ağabey“ (sprich: „Aaahbii!“) sagt er, die Hand auf dem schmerzenden Herzen, „vallah, isch schwör, das nich mein Wasser!“ Stimmt. Muss ihn rehabilitieren! Schuld war eine kaputte Heizung. Ich bescheinige hiermit anatolischen Schwarzarbeitern, die gewissenhaftesten Rohrverschweißer Europas zu sein, die ich nur wärmstens empfehlen kann.

Herr Ezme, vormaliger Kunstmaler aus Antalya, jetzt Multitasking-Hausmeister in Deutschland und praktizierender Alltagsphilosoph, schweigt weise, beäugt still den Wasserschaden, kratzt sich wie ein perfekter Bergmann am Kopf und sagt schließlich begütigend zu Özgür: „Na, weißt, Ağabey, bei DEIN Hottentottenhaus kann man ja auch nie wissen…

Im Park ist Ahmed unterwegs und will mir für 10 Euro einen iPod verticken. Sein Verkaufsargument: „Hab isch selbz geklaut“ zieht bei mir ja nun gar nicht. Ich hab nämlich schon einen iPod. „Aber, Bruder, Alder“, spricht Ahmed mit Emphase und legt die Hand aufs Herz, „wir sind hier im GEDDO! Für dich 5 Euro, Brrruder!“ Mein Herz bleibt kalt. „Mann, Alder“, flucht Ahmed, „ich brauch aber fünf Euro für Ganja!“, was mir dann einleuchtet.

Hömma!“ brüllt Anatol, der 50-jährige Altpunk durch den Hausflur. Ich erstarre, weil Sätze, die mit „Hömma!“ anfangen, dauern bei Anatol Stunden und enden in endlosen Jeremiaden darüber, dass man von Hartz4 nicht leben kann. Wovon ich leben muss, verschweige ich, ganz verarmter Adel mit Stock im Arsch, aufs Vornehmste. Wäre ja obszön irgendwie.

„Ich, ähm“, sag ich, „ich hab ma den Pitti im Hof geparkt. Schieb’tn scheiße schwarzen Blues wieder wegen Elly.“ Anatol nickt verständig und sinnig. „Kannze ma’n Auge drauf haben?“ Anatol nickt noch mal, gerade hinreichend beflissen. Okay, soll mir genügen. Ich geh mit, na, mit wem wohl? Mit meinem Gewissen ins Bett. Heißes Paar, wir beide. Wird wieder klasse Nacht.

Und? Oben in der Klause? Welche Musik jetzt zur Nacht? Tom Waits? Frankie Miller?  Tim Harding? Nee, wär alles Klischee. Bei mir muss es anti-zyklisch und kontrafaktisch klingen. Zu den heroisch-pathetischen, erz-verlogenen Klängen von Hanns Zimmers „Pirates of the Carribean“ stapfe ich ins Bett. Ich liebe das Stück. Es klingt, als könne man komplett neben der Spur sein und trotzdem ein Held: Damm-tatta-da-dam, dam-tatta-da! – Grandios, oder? Irgendwie?

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Elefantenbeerdigung. Schweigen oder Schreien?

25. Juli 2011

Musik: Gustav Mahler

Ist dies ein retrograder, die Vergangenheit verklärender Wunschtraum, oder gab es das in meiner Kindheit tatsächlich einmal? Dass das Radio – Fernsehen spielte noch kaum eine Rolle –, bei wirklich erschütternden Welt-Ereignissen, stundenlang bloß getragene Musik spielte? Knapp und beherrscht, sozusagen mit schwarzer Krawatte in der Stimme, wurden die Nachrichten verlesen, dann gab es Chopin und Brahms zum Nachdenken und In-Ruhe-Traurigsein. Wer nicht traurig war oder keine Lust auf Nachdenken hatte, schaltete das Radio halt aus oder er konnte Radio Moskau einstellen, wo eine Dame mittleren Alters jeden Abend gleichmütig kryptische Zahlenkolonnen in den Äther murmelte, welche von Spionen draußen an den Weltempfängern beflissen mit unsichtbarer Geheimtinte auf spezielle Spickzettel notiert wurden.

Als älteres und etwas verschrobenes Kind pflegte ich meine Weltverzweiflung – Gothic, Grunge und TripHop gab es ja noch nicht – gern z. B. mit dem Trauermarsch aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie in cis-moll zu untermalen bzw. zu bestätigen. Freilich, dieses Sahnestück trauermusikalischer Monumentalsymphonik ist so pastos-pompös und Pathos-gesättigt, dass ich mich beim Anhören immer unwillkürlich auf einer Elefanten-Beerdigung wähnte, auf der endlose Reihen solcher imposanten Rüsseltiere in traumverloren retardiertem, tonnenschweren Trampeltrott zu Paukenwirbeln, wienerischem Geigen-Weinen und gelegentlichen, herzzerreißend dissonanten Posaunenstößen aus ihren anklagend hoch geschlenzten Rüsseln zum Friedhof walzten, und dann musste ich fast schon wieder ein bisschen lächeln.

Die tägliche Medienmahlzeit war noch frugal und der Seelenhaushalt dementsprechend schlank und beweglich. Heute wird von Print, TV und Internet auch jede noch so winzige Denkpause mit einem übel riechenden, klebrigen, hirnzersetzenden Geschwätz vollgekübelt. Voll aufgedreht sind die Phrasophone und Trivialtrompeten und ergießen routiniert und gnadenlos ihre Plapperkaskaden, in Livetickern und Leid-Artikeln, ihren würgenden Brei aus Tränensülze und zähem Worthülsenstroh, der nichts offenbart als die sinistre Geistesferne, Gemütskälte und Herzensleere eines sich um sich selbst drehenden  Apparates. Getrieben von der Logik des Sensationellen und ausgepumpt von der Inflation der Superlative, ist alles, vom Tsunami über das Loveparde-Desaster bis zum Massaker in Norwegen selbstredend eine „unfassbare Tragödie“ und eine „unermessliche Katastrophe“, nach der „das Land sich verändern wird“ und, natürlich, dumpfes Orakel, vor allem „nichts mehr so sein wird wie zuvor“.

Die Redundanz dieser Phraseologie entspringt nicht so sehr – wenn auch im Einzelfall evtl. schon –  der lähmenden Denkfaulheit von Redakteuren, Leitartiklern und Reden-Schreibern, sie ist dem System der Massenmedien inhärent wie ein unausrottbarer Herpes-Virus. Dessen Grundfluch liegt in dem Zwang, keine Minute innehalten zu dürfen; selbst während mühsam aufgebrachter Schweigeminuten läuten wenigstens die Kirchenglocken oder werden notfalls Bilder von Schweigenden gezeigt, vielleicht, damit man sich daran erinnert, was es eigentlich noch mal hieß, die Klappe zu halten. Neben dem horror vacui, aus dem heraus gegen das erschütterte Schweigen, gegen die Angst vor dem Sterben und das Vordringen des Nichts angelabert wird, hat das Elend mit der Armut der Sprache zu tun. Es gibt ein Entsetzen oder eine Erschütterung, dessen Gewalt sich nicht in Worten ausdrücken lässt. Dafür brauchte man ein Saxofon, eine E-Gitarre, einen Schrei, so unartikuliert und seelengepeinigt, dass alles Gerede daneben verstummt.

So einen Schrei oder so ein Schweigen für ein paar Stunden zu übertragen wird sich gewiss kein Redakteur überreden lassen, schon klar. Das Innehalten ist unwiederbringlich dahin. Wie eine palavernde Affenherde müssen wir alles bis zum Überdruss beschwatzen, solange, bis wir knöchelhoch in leeren Worthülsen waten, bis uns das Geröll, der Müll, das Gerede bis zum Hals steht.

Die alten Griechen, unter denen ich, gymnasial bedingt, aufgewachsen bin, führten einmal im Jahr, zum Dionysos-Fest, Tragödien auf. Sie waren zwar wuchtig und aufwühlend, aber durchaus nicht „unfassbar“, sondern dienten im Gegensatz gerade dazu, das Grauen und die Tragik des Existierens fassbar zu machen. Tragödie, das heißt wörtlich „Bocksgesang“ und war der Beschwörung des doppelgesichtigen (und bocksgestaltigen) Fruchtbarkeits- und Todes-Gottes Dionysos gewidmet, dem fremden Gott aus dem Osten, der zügellos zeugte und zertrat, was sich ihm in den Weg stellte. Ich stelle mir vor, die Zuschauer im Theatron haben dabei geweint, geschrieen und Sonnenblumenkerne gegessen, deren Schalen sie zwischen die Sitzreihen spuckten. „πολλ τ δειν κοδν νθρώπου δεινότερον„, sang der Chor die Worte des Sophokles: „Ungeheuer ist vieles, doch nichts ungeheurer als der Mensch“. Die Athener nickten ergriffen, seufzten vier Tage lang, dann wandten sie sich wieder ihrem Tagwerk zu – der Beraubung, Plünderung, Schändung und Ermordung ihrer Nachbarn.

– Und jetzt Musik.


Geddo Symphony

6. Oktober 2010

 

Hätt ich auch gern manchmal: Eine sog. Schallkanone (hier zur Piratenabwehr an Bord der Queen Mary). Fotoquelle: Wikipedia, Artikel "Lärm"

 

 

Wenn mich Leute mitleidig angucken, bloß weil ich erwähne, freiwillig im Hochfelder Geddo zu leben, krieg ich ja Trotzphase. „Hier, meine Lieben“, patze ich pampig oder prahlerisch zurück, „ist jedenfalls tausendmal mehr Leben auf der Straße als in euren muffig-putzigen Kleinbürger-Vorstädten mit Vorgarten-Idylle und Keramikschild an der Tür („Hier wohnen Anika und Thorben Mustermann mit Finn-Luka, Cleo-Malwine und Hund Nappo“); in solchen sklerotischen Norm-Schlafboxen für mittlere Angestellte möchte ich ja nicht für geschenkt wohnen!“

Sitz ich hingegen in der stylisch-coolen Wohnung der Gattin bei Abendessen und Tagesrückblick, hört sich das etwas anders an, in etwa so: „Dieser gottverfluchte verfickte Scheißlärm in meinem Geddo macht mich noch krank! Da hast du keinen Augenblick Ruhe, Mensch! Können die nicht mal für ’ne Minute die Klappe halten, das Kreischen und Bölken einstellen und ihr bescheuertes Arabesk-Gedudel runterdrehen?!“ – Beides ist nicht falsch. Leben find ich eigentlich ganz gut, und die vollverklinkerten niederrheinischen Mittagsschlafmützendörfer, die hinter heruntergelassenen Sicherheitsjalousien immer wie verzehrsberuhigt ausgestorben wirken, machen mir eher Angst. Andererseits bin ich ruhebedürftiger, denkberufstätiger Nörgelrentner, der auch schon mal gut ohne Soundtrack auskäme.

Leider fehlt mir die technische Ausstattung, sonst würde ich euch einen achtzehnstündigen Mitschnitt aufnehmen. Los geht’s um 7.00 Uhr. Ouvertüre: die städtischen Müllharmoniker. „Kraaatz-rawong! Braatzkrackgrommel? Mjampftrumbrummel Rattazong! Und Wrummm.“ Das Geddo steht an der Spitze der Welt-Müllproduktion, weswegen jeden zweiten Tag die Stadtreinigung mit einem airbusgroßen Schreddermonstertruck heranbrettert, um zerschlissene Sitzgruppen, kaputte Schrankwände und anderes undefinierbares Geraffel an Ort und Stelle herzhaft saftkrachschmatzend zu zermalmen. Leider geht das nicht erschütterungsfrei, so dass regelmäßig zwei, drei Auto-Alarmanlagen anspringen („Lalüüüja, lalüüüi, lalüüiiiii“), was die Besitzer aus den Betten scheucht, die vor dem Haus erst einmal ein ausgedehntes Palaver veranstalten, also nicht die Betten, aber die arbeitslosen Daimler-Besitzer von nebenan („Oooh, ağabey, olmaz! Sizin arabınz  kırıldı mı? Lanet olsun!“ – Yook, ama bilmiyorum ya, bu işi anlayamamıyorum, allahbilir!“*). [*= Etwa: „Oh weh, großer Bruder, das kann doch nicht! Ist Ihr wertes Automobil etwa entzweigegangen? So’n Mist!“ – „Nee, aber weiß ich ja auch nicht; werde aus der Kiste nicht schlau, weiß Gott!“] Dann: „Bollatabolla bollertromm bong dongboller“ – die geleerten Mülltonnen werden geborgen.

Sobald sich der Dorfplatz etwas beruhigt, schwärmen die Kids aus. Kinder treten ja hier grundsätzlich in Schwärmen auf. Kaum sind die kleinen Prinzen vor der Tür, schreien sie schon nach Mama: „An-nne! An-nne!“ gellt es die Fassaden hinauf, „den Yavuz, den scheiß orospuçocuğu, will misch der Ball nich…!“ Der Ball wird aber, nachdem „An-nne“ aus dem vierten Stock ausgiebig keifend die gelbe Karte gezeigt hat, doch frei gegeben, um dann für die nächsten Stunden ausdauernd gegens Garagentor gedonnert zu werden. Es holzbollerbolzt Galatasaray gegen Beşiktaş Istanbul; manchmal funkt auch Inter Mailand alias „Mehmed, den makat* [*=Arschloch]“ dazwischen. Der fette blonde Dirk kräht: „…unn deine Mudda is’ne Schwuchtel!“ – Der Pegel steigt. „An-nnne! An-nne!!“ Mama hat aber jetzt den Papp auf, hält einen erzieherischen Vortrag in mehrstimmig anatolischen Oberton-Koloraturen und trompetet abschließend ein energisches, arabisch aspiriertes „Bana rahat birak!“ in den Morgenhimmel. Ja, „laß mich in Ruhe“, das denke ich da auch schon.

Später Vormittag. Die ersten Trucker und Busfahrer aus dem Montenegro trudeln im Café Lipa ein. Als erstes treten sie steifbeinig vor die Tür, um der Heimat von ihrer glücklichen Ankunft („dobro! dobro, hvala!“)  zu berichten.  (Seltsames Phänomen: Die Serben qualmen zwar im Lokal, zum Telefonieren gehen sie aber grundsätzlich nach draußen…) Zuhause ist indes sehr weit weg, da müssen sie schon volle Lungenkraft einsetzen. Je kleiner das Handy, desto lauter; um die Nachbarschaft nicht auszuschließen, wird gastfreundlich auf Lautsprech geschaltet – man hört die Stimme Serbiens sogar bis hier hin („krrchz, rhzrntsch, prrschtnscht vryznntpt?“).  Außerdem donnern, rumpeln und klabautern jetzt in endlosen Krawallkarawanen die Lieferwagen, Vans und SUVs mit bulgarischem Kennzeichen durch die Straße. Vom Balkan haben die Fahrer die schöne Sitte mitgebracht, mitten auf der Kreuzung stehen zu bleiben, um sich, von Seitenfenster zu Seitenfenster, mit einem Bekannten auszutauschen. Das allfällige Hupkonzert wird dabei wohlwollend in Kauf genommen und fröhlich beantwortet.

Mittag. Einkaufszeit für Semra, Dilem und Aynur. Die Kinder kreischen markerschütternd. Die Mädchen kriegen eine geschallert, die Proto-Paschas werden zusammengebrüllt. Dorftratsch wird furioso con fuoco e fortissimo bequaakgackelt. Trolleys holpern übers Rumpel-Pflaster. Es wird Zeit, die heimischen HiFi-Türme auf Muezzin-Lautstärke zu bringen: gnadenlos jodelt, knödelt und jault das ewig gleiche Arabesk-Geschluchze durchs Viertel und gibt bis abends nicht mehr Ruhe.

Ab Nachmittag versammelt sich männliche Jugend, zumeist um ein Auto, dessen Motorklappe aufklafft. Man spielt „türkisches Ferngespräch“. (Vallah! Das geht preisgünstig ganz ohne Telefon – einfach bloß quer über die Straße schreien!) Johlend werden Jungmänner begrüßt, die im BMW-Cabrio auf extra breiten Schlappen vorbeipatroullieren, um uns großzügig und flächendeckend mit („Umpf! Umpf! Uffta-umpf!“) Gangsta-Rap und HipHop zu bedröhnen. Bei mir im ersten Stock beginnen alle Tassen im Schrank  zu klirren. Zum Glück nähert sich ein Streifenwagen mit Sirenengeheul. Aus dem Café Lipa schallen traurige Lieder. Die Heimat, die schöne Heimat.

„Düüdelflöt, flööt, flöööt!“ – die ambulanten Schrotthändler bitten um Aufmerksamkeit. „Schrapp schrapp futscherfutscherfutscher“ – ein Polizeihubschrauber kreist überm Viertel – die „Bandidos“ vom Chapter um die Ecke haben heut Jahreshauptralley mit geselliger Sammelausfahrt („Dröhndröhndonner, wummerkrawrrrumm, krawroll!“). Es wird Abend. Zeit für ein bissel marginales Bollywood-Quäken, Reggae-Tamtam und Radio Gaziantep. Fußball ist zuende („Geh isch gezz Video!“), Zeit für den Obst- und Gemüsehandel („schleif, kräwatter, rummbums“), die Kisten im Sprinter zu verstauen. „Krömmmm, wrömmmm rödelröchelrödel“ – Nachbar Izmet versucht noch immer, den maroden Motor seines Zweit-Astra zu starten.“Trömmel trömmel trömmel“ – endlich läuft er und wird vorsichtshalber die nächste Stunde angelassen, damit er nicht wieder ausgeht.

Letzten Sonntag war mal für eine halbe Stunde himmlische Ruhe – da wummerte urplötzlich etwas in die Stille, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: DEUTSCHE SCHLAGERMUSIK! „Ruhe da unten!“ hörte ich mich brüllen, während ich nach dem Besenstiel suchte, um gegen die Wand zu bollern. Ist doch wahr, Mensch!

Luxusleiber, Entenstimmen: Wir sind Heidi Klum!

23. März 2009
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Nicht wie Heidi Klum: Magersüchtiges Model

HEIDI-KLUM-LOOKALIKES BEIM COCACOLA-SPASS

Es muß kurz vor Feierabend gewesen sein, als der Schöpfer Heidi Klum ihren Body zuteilte. In der Eile vergaß er, die hübsche Hülle innen zu füllen. Damit will ich nicht behaupten, daß Frau Klums Innenleben gänzlich aus Sägemehl besteht; wohl aber, daß die arme Attraktivitätsattrappe gezwungen ist, mit einer Stimme herumzulaufen, die einem kleinen gelben Plastik-Quietscheentchen mit Gewalt entrissen worden zu sein scheint. Manche werden sagen, ja, und? „Barbie“ – die ja heuer auch schon in die Wechseljahre kommt – konnte noch überhaupt nicht sprechen! Ästheten hingegen entgegnen: So etwas geht heute gar nicht mehr! 90-60-90er Blondinenweiber mit Luxusleibern, – und dann die Intelligenz einer feuchten Scheibe Weizentoast! Und dazu diese entsetzliche Quietschentenstimme! Das will unserem modernen Frauenbild gar nicht mehr schmecken! 

Und jetzt huscht die Fleisch gewordene Vorspieldose ja auch noch durchs Fernseh, macht komische Geräusche und quietscht Tumbheiten ins Mikro, die als männermörderische Hohlmuschel-DummDumm-Geschosse eigentlich unters Kriegswaffenkontrollgesetz fallen. Frau Klum kommandiert, kujoniert oder schikaniert da, man weiß es nicht genau, als eine Art Schnallentreiberin oder so, ein Rudel hipper Jung-Tussies (z. B. die Jennifer, Chantal, Leonie-Lena, Valerie, Cloe und Samantha), die offenbar keine größeren Wünsche kennen, als a) in immer kleinere Kleidchen zu passen und ansonsten b) haargenauso zu sein wie Kommandeuse Heidi Klum! Inkl. Entenstimmchen, schnatterquakquaak.

Schlimm leider: Der Ententeich ist oft genug ein Haifischbecken! Nicht alle kommen durch. Einige Schnallen gehen baden, können kein vernünftiges Wort Englisch außer „shoppen“ und „Händi“, wundern sich, warum die Amerikaner in LA nachts das Licht brennen lassen oder brechen sich unbeherrscht die extraordinär langen Streichholzbeine, weil sie das elegante Stöckeln auf HighHeel-Schühchen nicht beherrschen. Autsch, Pech, – raus! Dem „Playboy“ zum Fraß vorgeworfen mit Haut und Knochen. Mehr ist ja eh nicht. 

Tussen mit Gewinner-Gen und Stöckelpumpsführerschein hingegen dürfen dafür gleich im Fernseh bleiben und uns weiter multimedial auf den Senkel gehen. Zum Beispiel kommen sie in die CocaCola-Reklame. 

Die CocaCola-Reklame ist ein Episodenfilm (Farbe, 25“) mit dem bestürzend preziösen Titel „Nur du bist du!“ Es ist ein Stummfilm mit Musik, das heißt, die tragenden Frauenrollen sind sprachlos. Ohne Text. Entchen hat mal Pause. Schon nicht schlecht! In der ersten Episode fährt eine jüngere, sommerlich leger bekleidete Heidi-Klum-Lookalike-Contest-Gewinnerin einen auffallenden Kleinstwagen aus der Tiefgarage. Feuerrote Fiat 500 „Topolinos“ mit Schiebedach, die aus Parkhäusern kommen, gelten unter Freudianern bekanntlich als ausgemachte Mösensymbole. Die junge Fahrerin ist aber mördergut drauf, denn sie kennt keinen Penisneid. Den scheint aber der junge Mann in der Parallelspur zu hegen, denn er sitzt in einem schweren Kompensationscabriolet, ist in einem typischen Porschloch-Auto, vielleicht ist es auch ein Daimler mit zu kleinem Benz, „unterwegs“. Weil aber die rote Fiat-Schnalle vor guter Laune schier platzen will, fährt sie dem doof hinterherschauenden Penisheini lachend davon, nicht ohne michael-schuhmacherhaft das Siegesfäustchen zum Schiebedach hinauszurecken. –

Nächste Episode: Eine rothaarige (Natur?) Trulla heiratet „in weiß“ (psychoanal. Symbol für GV-unerfahren!), will aber nicht bis zur Dienstreise oder bis zur Scheidung warten, sondern verarscht den dümmlichen Ehe-Deppen gleich an Ort und Stelle, indem sie, prähysterisch-uralter Clownstrick, auf dem Hochzeitsfoto mit gespreizten Fingern ihrem Gespons heimlich von hinten symbolische Hörner aufsetzt (psycho-symbolisch für: Hörner). Die Braut strahlt über den gelungenen Scherz und die zu erwartenden Unterhaltszahlungen wie ein zuckerfreies Honigkuchenpferd.

Episode drei: Ein Modelmannequin mit häßlicher Badekappe (beige mit braunen Applikationen; Symbol für: Klimakterium) macht in einem Wellness-Pool, an dessen Rand sorgfältig gurken- oder joghurtbreimaskentragende, in hoteleigene schneeweiße (Unschuld!) Frotteeflauschigkeiten eingemümmelte postklimakterielle Damen der Ruhe in Liegestühlen pflegen, eine sog. „Arschbombe“, wodurch die Ruhedamen ordentlich naßgespritzt (symbol. für: Sexualität) werden. Unter Wellness-Zicken natürlich ein Heidenspaß!

Schlußepisode: Eine Businessklassefrau im Economykostüm macht vor dem Aufsichtsrat oder so eine Art PowerPointPräsentation. Kennt man ja. Aber jetzt taucht glucksenderweise ihr humorvoller Powerfrauschwesterscherzkeks im Businesskostüm auf und treibt allerhand Allotria und Possen: Quetscht von außen ihre Nase an die Glastür, womit sie ein ganz bizarr lustiges Grimassengesicht zustande und ihre Businesskollegin heillos zum Lachen bringt. Es ist zum Schenkelklopfen irre spaßig, das alles! Schauspielerleistungsmäßig schon glatt oskarreif, dieses Gesicht gehört auf den Roten Teppich! Oder drunter zumindest!

Nach dem letzten lustigen Streich der kleinen Strolche ist Abspann: Fetzmusik, Abbild einer Flasche CocaCola und der Satz: „Nur du bist du!“

Klar. „Ich“ bin ja schon ich! Zum Glück ist die Gattin zur Stelle, nimmt mir sanft die Kettensäge aus der Hand und fragt, ob ich jetzt meine Medikamente möchte.