Wer heute etwas genuine Kafka-Luft schnuppern möchte, der lasse sich in ein Uni-Klinikum einweisen. Noch vor seinem Lebensmut hat man alle Orientierung verloren und irrt sinnlos, identitätsstiftende Formulare an sich pressend, als ginge es ums blanke Leben, durch endlos lange, gewienerte Korridore, die alle gleich aussehen, es indes aber überraschenderweise, wie sich herausstellt, leider mitnichten sind. An jeder Ecke winken einem matt lächelnde Sterbende zu und verschwinden dann jäh in Fahrstühlen, wo sie hohlwangig vorletzte Zigaretten schmauchen und vergeblich nach der Schwester rufen, dass sie mehr Morphin herbeischaffe. Zukünftige Hinterbliebene drücken sich schräg in Wartestühle und kneten verwelkte Cellophan-Blumensträuße zwischen den schweißfeuchten Fingern. Einem Dicken, der trübselig an seiner Lebenslust knuspert, flüstere ich zu: Freund, freue dich weder zu früh noch allzu lange: Du bist auch bald dran!
In verborgenen Boxen, Nischen und scheuerleistenbewehrten Abteilungsecken verstecken sich sog. Ärzte und lauern auf Opfer. Sie ernähren sich von Blut, Ultraschall und Urinproben. Eine unappetitliche Spezies, die Ärzte! Tiere gibt es in Unikliniken nicht, jedenfalls keine sichtbaren, nur Bakteriokokken, Fibrillen und Stracciatellapickel. Erste Panik: Wo sind die Sagrotan-Duschen? Und wer ist überhaupt jemals für mich zuständig? Wie lässt sich den Ärzten ausweichen, dass man noch sein Quäntchen Lebensfrist genießen darf? Und warum bin ich überhaupt hier? – Na, sicher nicht für die heute so übertrieben beliebte Gesundheit.
Das Gute an Unikliniken: Man ist nicht Patient, sondern ein – mehr oder minder interessantes – Datenbündel. Das Schlechte: Es handelt sich um ein szientifisches Riesen-Google, eine Datenkrake, ein Statistik-Godzilla, der deine Körpersäfte schlürft, um „Werte“ zu bekommen. Meine Werte sind meistens besorgniserregend, das weiß ich schon, da brauch ich keine Universität für. Cholesterin, Leber, das ganze Programm: Ein moribundes Wrack. Ich darf mich immerhin zu den privilegierten Interessanten zählen, denn ich habe ein seltenes Syndrom. „Syndrom“ sagen Ärzte, wenn sie auch nicht genau wissen, was mit dir los ist. Uniklinik heißt ja nicht zuletzt: Ich hab zwar keine Ahnung, dies aber auf sehr hohem Niveau. Auf dem Platz, wo sich die Korridore treffen, hat sich der Chor der Sterbenden aufgestellt und singt moribunde Lieder wie etwa das berühmte orthodoxe „Wir sind doch unter uns / wir Elends-Eingeweidesäcke!“ Gelegentlich bekomme ich das Gefühl, dass man mir zuzwinkert!
Der Chef-Professor (ich bin Privatpatient mit Audienzrecht!) befiehlt mir: Ziehe er sich „bitte“ aus, bis auf die Unterwäsche! Im Winter, wo man als Fahrradfahrer viele Schichten wärmender Kleidung trägt, ein beträchtliches Gepüngel. Frage aber jetzt: Gehören Socken zur Unterwäsche oder nicht? Der Professor sagt, bei Frauen nein, bei Männern? – eher ja. Ein in gender-politischer Hinsicht faszinierendes Thema! Man kann ja überall mancherlei zu lernen Gelegenheit finden, zur Not sogar in Unikliniken! „Alles Gute!“ wünscht mir der Chef noch beim abrupten Abschied. Ob meine „Werte“ hierbei Anlass zur Hoffnung geben, verrät er nicht. Erst muss das Labororakel befragt werden, das kann dauern. Solange habe ich nichts Schlimmes und bin nicht berechtigt, ohne Genehmigung wegzusterben.
Nach wenigen Stunden werde ich von der Untersuchungsmaschine vorerst schon wieder ausgespieen. Draußen in der klammen, eisigen Wintersonne kauern die Sterbenden. Sie rauchen mit höchster Konzentration. Ihre Gesichter sind, jahreszeitbedingt, grau-gelb. Mich betrachten sie mit scheelen Augen, weil sie vermuten, ich gehörte zu jenen Beneidenswerten, die den kommenden Sommer noch erleben und im Maiengrün noch mehrere Schachtel Zigaretten verrauchen könnten. Ich möchte ihnen eine kleine Rede halten, in der ich alles richtig stelle. „Wenigstens“, höre ich mich sagen, „wenigstens Hepatologen schneiden auch über mich ihre bedenklichen Gesichter!“ Nicht genug Hoffnungslosigkeit! Sympathie bei den Sterbenden gewinne ich damit nicht. Zu feist, zu rosig, zu ungeräuchert erscheine ich, um einer der ihren zu werden.
Der Unterarzt fährt mit einem Nachtsichtgerät über meine Schattenseiten. „Wissen Sie was“, wispert er heiser verschwörerisch, „Sie haben gar kein Syndrom! Sie haben, was alle haben. Fragense ma inner Straßenbahn rum! Das hat doch heute jeder zweite!“ Ich bin erleichtert, aber auch etwas enttäuscht. Ich hatte mir extra eine Krankheit ausgesucht, die nicht jeder hat, und die überdies zu 90% nur Frauen bekommen. „Tja, na ja“, hatte der Chef-Professor bedächtig gesagt, und dafür schätze ich ihn, „…die restlichen zehn Prozent, das muss ja auch irgendjemand sein.“ Es besteht also noch eine gewisse Chance, dass ich mal in der Statistik vorkomme, möglicherweise als einschränkende Fußnote. Und, ehrlich, Nachbarn, wer von uns hätte ein höheres Lebensziel? — „Raus! Nur Raus hier!“ antwortete ich dem Taxifahrer, der mich nach meinem „Wohin?“ befragt. „So rasch wie möglich ins Nirgendwo!“
Dort angekommen und abgesetzt, kaufte ich mir eine Rosinenschnecke. Deren zeitnaher Verzehr verschuf mir eine knapp 25% höhere Lebensqualität. Wie man so sagt: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel.
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