Archive for the ‘Eigenlebenserinnerungen’ category

Patientenbericht

7. Februar 2012
Ich weiß nicht … In letzter Zeit sehe ich irgendwie komisch aus…

Wer heute etwas genuine Kafka-Luft schnuppern möchte, der lasse sich in ein Uni-Klinikum einweisen. Noch vor seinem Lebensmut hat man alle Orientierung verloren und irrt sinnlos, identitätsstiftende Formulare an sich pressend, als ginge es ums blanke Leben, durch endlos lange, gewienerte Korridore, die alle gleich aussehen, es indes aber überraschenderweise, wie sich herausstellt, leider mitnichten sind. An jeder Ecke winken einem matt lächelnde Sterbende zu und verschwinden dann jäh in Fahrstühlen, wo sie hohlwangig vorletzte Zigaretten schmauchen und vergeblich nach der Schwester rufen, dass sie mehr Morphin herbeischaffe. Zukünftige Hinterbliebene drücken sich schräg in Wartestühle und kneten verwelkte Cellophan-Blumensträuße zwischen den schweißfeuchten Fingern.  Einem Dicken, der trübselig an seiner Lebenslust knuspert, flüstere ich zu: Freund, freue dich weder zu früh noch allzu lange: Du bist auch bald dran! 

In verborgenen Boxen, Nischen und scheuerleistenbewehrten Abteilungsecken verstecken sich sog. Ärzte und lauern auf Opfer. Sie ernähren sich von Blut, Ultraschall und Urinproben. Eine unappetitliche Spezies, die Ärzte! Tiere gibt es in Unikliniken nicht, jedenfalls keine sichtbaren, nur Bakteriokokken, Fibrillen und Stracciatellapickel. Erste Panik: Wo sind die Sagrotan-Duschen? Und wer ist überhaupt jemals für mich zuständig? Wie lässt sich den Ärzten ausweichen, dass man noch sein Quäntchen Lebensfrist genießen darf? Und warum bin ich überhaupt hier? – Na, sicher nicht für die heute so übertrieben beliebte Gesundheit.

Das Gute an Unikliniken: Man ist nicht Patient, sondern ein – mehr oder minder interessantes – Datenbündel. Das Schlechte: Es handelt sich um ein szientifisches Riesen-Google, eine Datenkrake, ein Statistik-Godzilla, der deine Körpersäfte schlürft, um „Werte“ zu bekommen. Meine Werte sind meistens besorgniserregend, das weiß ich schon, da brauch ich keine Universität für. Cholesterin, Leber, das ganze Programm: Ein moribundes Wrack. Ich darf mich immerhin zu den privilegierten Interessanten zählen, denn ich habe ein seltenes Syndrom. „Syndrom“ sagen Ärzte, wenn sie auch nicht genau wissen, was mit dir los ist. Uniklinik heißt ja nicht zuletzt: Ich hab zwar keine Ahnung, dies aber auf sehr hohem Niveau. Auf dem Platz, wo sich die Korridore treffen, hat sich der Chor der Sterbenden aufgestellt und singt moribunde Lieder wie etwa das berühmte orthodoxe „Wir sind doch unter uns / wir Elends-Eingeweidesäcke!“ Gelegentlich bekomme ich das Gefühl, dass man mir zuzwinkert!

Der Chef-Professor (ich bin Privatpatient mit Audienzrecht!) befiehlt mir: Ziehe er sich „bitte“ aus, bis auf die Unterwäsche! Im Winter, wo man als Fahrradfahrer viele Schichten wärmender Kleidung trägt, ein beträchtliches Gepüngel. Frage aber jetzt: Gehören Socken zur Unterwäsche oder nicht? Der Professor sagt, bei Frauen nein, bei Männern? – eher ja. Ein in gender-politischer Hinsicht faszinierendes Thema! Man kann ja überall mancherlei zu lernen Gelegenheit finden, zur Not sogar in Unikliniken! „Alles Gute!“ wünscht mir der Chef noch beim abrupten Abschied. Ob meine „Werte“ hierbei Anlass zur Hoffnung geben, verrät er nicht. Erst muss das Labororakel befragt werden, das kann dauern. Solange habe ich nichts Schlimmes und bin nicht berechtigt, ohne Genehmigung wegzusterben.

Nach wenigen Stunden werde ich von der Untersuchungsmaschine vorerst schon wieder ausgespieen. Draußen in der klammen, eisigen Wintersonne kauern die Sterbenden. Sie rauchen mit höchster Konzentration. Ihre Gesichter sind, jahreszeitbedingt, grau-gelb. Mich betrachten sie mit scheelen Augen, weil sie vermuten, ich gehörte zu jenen Beneidenswerten, die den kommenden Sommer noch erleben und im Maiengrün noch mehrere Schachtel Zigaretten verrauchen könnten. Ich möchte ihnen eine kleine Rede halten, in der ich alles richtig stelle. „Wenigstens“, höre ich mich sagen, „wenigstens Hepatologen schneiden auch über mich ihre bedenklichen Gesichter!“ Nicht genug Hoffnungslosigkeit! Sympathie bei den Sterbenden gewinne ich damit nicht. Zu feist, zu rosig, zu ungeräuchert erscheine ich, um einer der ihren zu werden.

Der Unterarzt fährt mit einem Nachtsichtgerät über meine Schattenseiten. „Wissen Sie was“, wispert er heiser verschwörerisch, „Sie haben gar kein Syndrom! Sie haben, was alle haben. Fragense ma inner Straßenbahn rum! Das hat doch heute jeder zweite!“ Ich bin erleichtert, aber auch etwas enttäuscht. Ich hatte mir extra eine Krankheit ausgesucht, die nicht jeder hat, und die überdies zu 90% nur Frauen bekommen. „Tja, na ja“, hatte der Chef-Professor bedächtig gesagt, und dafür schätze ich ihn, „…die restlichen zehn Prozent, das muss ja auch irgendjemand sein.“ Es besteht also noch eine gewisse Chance, dass ich mal in der Statistik vorkomme, möglicherweise als einschränkende Fußnote. Und, ehrlich, Nachbarn, wer von uns hätte ein höheres Lebensziel? — „Raus! Nur Raus hier!“ antwortete ich dem Taxifahrer, der mich nach meinem „Wohin?“ befragt. „So rasch wie möglich ins Nirgendwo!

Dort angekommen und abgesetzt, kaufte ich mir eine Rosinenschnecke. Deren zeitnaher Verzehr verschuf mir eine knapp 25% höhere Lebensqualität. Wie man so sagt: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel.

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Was von Silvester übrig blieb

3. Januar 2012

Liegen bleiben ( http://www.halternerzeitung.de/ storage/scl/mdhl/_adm... )

Mit dem Bleigießen fing es wieder an. Alle konnten schöne, hermeneutisch griffige Figuren vorweisen: Verspratzten Spinatfladen, angebissene Pizza, überfahrene Katze; nur ich hatte wieder so ein längliches, einem Zepter ähnelndes Gerät mit einem Knubbel oben dran gegossen, das selbst ein ausgemachter Anti-Freudianer wie ich als Phallus-Symbol konzedieren musste. Das übliche Ho-Ho und Ha-Hah, und natürlich zischte die feministische Gastgeberin empört, wie jedes Jahr: „Du bist soo was von peinlich! Die Kinder sind noch auf, Mensch!“ Es ist zugegeben so, dass ich noch nie etwas anderes habe gießen können. Jedes Jahr nehme ich mir vor, dass es mal ein Bücherschrank wird, eine Schreibmaschine oder wenigstens der „Denker“ von Rodin, aber nichts da, immer dieses blöde und nahezu identische Phallus-Ding.

Ich könnte die sammeln und mir als eine Art Ordensschnalle ans Revers heften, um mir einen rasant Don-Juanesken Anstrich zu geben! Als mir dann auch noch Ulf-der-Schwamm, der doofe Steuerberater, jovial auf die Schultern klopfte und gönnerhaft prustete: „Du bist ja aber mal ganz schön schwanzgesteuert, alter Knabe!“, fing ich leise an, in mich hinein  zu weinen. Ich konnte doch nichts für das verdammte Blei! Gieß ich das doch nicht mit Absicht! – Die Pfirsich-Maracuja-Bowle erwies sich als verständnisvoll und war ganz meiner Meinung. Wir setzten uns in eine Ecke und ich schöpfte becherweise Trost.

Dann war Balkan-Disco mit Blechbläsern und die Bowle wurde plötzlich lustig und wollte mit mir tanzen. Ich zierte mich zunächst, aber als ich jemand tuscheln hörte, ich könne ja eh bloß noch Sitz-Polka, warf ich mich trotzig ins Getümmel, freilich zu dessen schmerzhaftem Nachteil. Ich bitte um Entschuldigung. Die aufpeitschende Blechblasmusik ging mir in die Beine, aber dort war bereits die Bowle angekommen bzw. ansässig und so kam es leider zu einem körperinternen Konflikt. Man nehme mein Bedauern entgegen. In regelmäßigen Abständen genoss ich uneleganten Bodenkontakt. Ich fand das übrigens lange nicht so komisch wie die anderen.

Bowle war also nichts für mich, also ging ich zu Bourbon-Cola über, damit kenne ich mich besser aus. Das Getränk belebte mich nach einigen Gläsern und ich begann mit Verve, eine neben mir platzierte, auffallend schöne, ziemlich intelligente Frau anzubaggern und kam damit auch gut voran, sogar ohne bleierne Phalli am Revers. Erst an der konsternierten Reaktion der Schönen auf meine wahrheitswidrige Behauptung, nein, nein, ich sei keineswegs verheiratet, sondern ein durchaus verfügbarer Single mit Tagesfreizeit, öffnete mir die Augen – es war ja die Gattin! Die eigene! Mein Kopfhaar kribbelte voller Ameisen und ein heißes Bügeleisen fuhr mir über die Wangen. Zum Glück gab es noch eiskaltes Bier! Ich hätte nur Spaß gemacht, versicherte ich und erbot mich bemüht generös, Getränke zu holen.

Um Mitternacht, die vom Fernseher angezählt wurde, strömte es mich mit den anderen hinaus auf die feiernde Plaza. Das Strömen gelang mir dank Bowle, Bourbon und Bier ganz fulminant. Schräg gegen die Straße gelehnt, beobachtete ich vorsichtig den sich anbahnenden expressionistischen Bürgerkrieg: Polen-Böller gegen China-Kracher. Ich setzte mir einen symbolischen Blauhelm auf und stand heroisch im Pulverdampf. The last man standing, summte ich und fühlte mich soweit ganz gut. Keine Ahnung wieso, aber unversehens war ich mit zwei Gläsern Crémant bewaffnet, aus denen ich, mir sentimental zuprostend, abwechselnd trank und mit deren Hilfe ich zugleich, ein verzeihungsheischendes Lächeln auf den Lippen, die Umarmungen wildfremder Menschen abwies.

Zurück bei in der Party. Mann! Man hatte inzwischen eine sich drehende Tanzfläche aufgebaut. Die Gattin hat später erzählt, ich hätte mich deshalb in die Küche zurückgezogen, um mit zwei Kumpanen beim Wein Scrabble zu spielen. Als Buchstaben hatten wir aber nur eine halbe Tüte Russisch Brot und einen Haufen Erdnuss-Locken. Darunter habe wohl die Semantik gelitten, denn mein Super-Siegerwort „Ungern-Erdnuss-Ypsilon-Erdnuss-Erdnuss-XYZ-Unge-Doppel-Erdnuss-ss-Erdnuss-t“ sei nicht akzeptiert worden, zumal die Mitspieler glaubten, es würde Poker (Kurti) bzw. Monopoly (Ulf-der-Schwamm) gespielt. Die Boxen im Wohnzimmer waren zu Salsamuffin oder Raggapunk übergegangen. Die Tanschfläche drehte sich jetzt schon dann aber auch um mehrere Achsen.

Irgendwann schlug die Gattin vor zu gehen. Darüber dachte ich lange nach, nickte dabei ein, schreckte wieder auf und beschied in sonderbarer Clairevoyance: „Weißt du, ich glaub, ich kann gar nicht mehr gehen“ und machte einen Gegenvorschlag, der mir rational-pragmatisch vorkam: „Lass mich doch einfach noch bisschen hier liegen!“ – „Ja, klar“ versetzte sie schneidend, das weiß ich noch, dann kuschelte ich mich aber auch schon in den Kofferraum des Taxis und widmete mich dem Vergessen…

Wie ich höre, haben wir jetzt schon 2012. Wieder ein Jahr weniger Lebenszeit! Immerhin, ich bin gut reingerutscht, so wie mir es alle gewünscht haben!

Grundregel bei Verdrängungsbedarf

29. August 2011

Wer das Glück hatte, Kinder zeugen zu dürfen, weiß, dass dieses ein durchaus zweischneidiges ist. Vom vierten bis zum achten Lebensjahr sind Menschenjunge oft beinahe entzückend, besonders, wenn sie eine Spur altklug sind oder ein Musikinstrument (Ausnahmen: C-Blockflöte, Geige, Schlagzeug) spielen. Dann allerdings geht es bald zügig bergab: Trotzkopfphase, extreme Pampigkeit, patzige Pubertät. Mit ca. 14 bricht die sog. Hebephrenie aus, früher auch Jugendirresein oder Läppische Verblödung genannt. In diesem Stadium erreicht der Mensch den Höhepunkt seiner Unzurechnungsfähigkeit.

Diese Phase dauert, je nach dem, so rund 20, 30 Jahre, dann tritt bei manchen allmähliche Besserung ein. Zuvor jedoch herrscht Unerträglichkeit, besonders bei Mädchen. Tragik der Natur: In einem Alter, in dem die jungen Damen zum Anbeißen anmutig aussehen, sind sie leider kognitiv komplett außer Kraft gesetzt und haben einen IQ, der weit unterhalb der Körpertemperatur rangiert. In diesem Entwicklungsstadium finden junge Menschen alles  peinlich“. „Meine Eltern, ey, die sind sooo was von voll peinlich!“ ist ein auf dem Schulklo beim Nachschminken häufig gehörter Satz. Es ist die Zeit, wo man sich als Vati oder Mutti unauffällig schon mal nach geeigneten Heimen umhört oder öfter mit dem Jugendamt telefoniert.

Nun, sagen wir es ungeschminkt: Nichts ist so peinlich wie junge Menschen. Wobei „jung“ unter Umständen ziemlich lange dauern kann.

Ich persönlich erreichte, das Internet war kürzlich so freundlich, mir das ungebeten unter die Nase zu reiben, den Gipfel unsäglicher Peinlichkeit erst mit 26 Jahren. Ich hatte schon gehofft, ich könnte die Tatsache, von meinem 16. bis zu meinem 28. Lebensjahr ein blickdicht beratungsresistenter Idiot gewesen zu sein, im engeren Familienkreis halten, aber Pustekuchen. Irgendein blödes Sozialgeschichte-Institut an der FU Berlin hatte nichts besseres zu tun, als die Geschichte „der außerparlamentarischen Opposition“ zu dokumentieren. Und? Unter der Rubrik „maoistische Jugendorganisationen“ werde ich da als „1. Sekretär der Roten Garde“  ausgegraben und gezeigt, wie ich in meinem umgearbeiteten Konfirmationsanzug auf irgendeiner bescheuerten Bühne stehe und unsägliche stalinistisch-maoistische Stanzphrasen aufsage, die Welt erkläre (voll imperialistisch!) und deren sofortige Umarbeitung verlange (Diktatur des Proletariats!). – Grundregel für die Jetztzeit: Wem an Verdrängung liegt, der sollte nicht den eigenen Namen googeln!

In die Schublade gesprochen

17. Mai 2011

Immer ein offenes Ohr: Schublade

Vor vielen  Jahren, als Affektkontrolle für mich noch ein Fremdwort war, geriet ich eines Nachts aus hier unerheblichen Gründen einmal in eine veritable Sauwut, der ich spontan Luft zu machen beschloss, in dem ich der Wohnzimmertür einen heftigen Tritt verpasste. Im Nachhinein betrachtet keine gute Idee! Zu meinem Nachteil irrte ich mich nämlich leider, gerade erst eingezogen, darin, die Tür für massiv hölzern zu halten, – bestand sie doch in Wahrheit kassettenweise aus tückisch überlackiertem Glas, sodass ich mir mittels meines Tritts (es war noch zu Kampfsportzeiten) versehentlich ein etwa anderthalb Handteller großes Schnitzel aus dem rechten Unterschenkel hieb. Glücklicherweise angetrunken und von Adrenalin narkotisiert, besah ich mir den Schaden furchtlos, pappte die heruntergeklappte Beinscheibe wieder an Ort und Stelle und band sie mit einem Küchenhandtuch fest. Dann legte ich mich erstmal schlafen. Ich war noch in einem Alter, in dem Schlaf Wunder wirken konnte.

Indes, wir beide, vor allem aber das Bein, sahen am nächsten Tag nicht so gut aus, ich wegen Verkaterung, das Bein, na ja. Ich humpelte widerstrebend zur nächstgelegen Arztpraxis. Der von mir zum Hausarzt erkorene Doktor war uralt und, sagen wir es offen, wohl auch schon ziemlich senil, möglicherweise sogar ganz leicht dement. Ich übertreibe nur geringfügig, wenn ich behaupte, er glaubte noch daran, dass Heroin gut gegen Husten ist. Dennoch war ich irritiert: Nach dem ich kleinlaut meine peinliche Geschichte erzählt und zur gefälligen Diagnose resp. Therapie offeriert hatte, zog mein Dr. Eisenbart bedächtig die oberste Schublade seines Schreibtisches auf und sprach eben diese Geschichte langsam, deutlich und fast wortgetreu in diese hinein. Nach kurzem Innehalten und angemessener Bedenkzeit teilte er der Schublade noch mit, was er zur Wundversorgung zu tun gedenke – und schloss sie dann behutsam wieder. Ich gebe zu, in diesem Moment habe ich ihn komplett für meschugge gehalten und wäre, wenn nicht verwundet, schleunigst wieder abgehauen. So aber ließ ich mir einen Verband anlegen, mir ein Antibiotikum für angeschossene Elefanten mitgeben und beruhigte mich mit dem Gedanken, dass Schamanen und Voodoo-Priester ja manchmal auch ganz schön bizarre Methoden haben, und helfen tut’s ja oft trotzdem.

Erst beim nächsten Besuch habe ich kapiert, dass der Medizinmann in der Schublade ein Diktiergerät verwahrte, das er zur Führung seiner Krankenakten verwendete.

Trotzdem, und worauf ich hinaus will: Bloggen ist ja bei den meisten von uns ganz ähnlich, oder? Man öffnet eine elektronische Schublade, spricht oder tippt allerhand Bizarres hinein, legt vielleicht noch ein Foto dabei und dann macht man sie wieder zu. Sie schweigt wie ein Grab. Das Arztgeheimnis bzw. die Begrenztheit der Leserschaft sorgt dafür, dass „alles unter uns bleibt“.  Sonst hätte ich hier wohl kaum die beschämende Geschichte über das Schnitzel erzählt.

Von Blogs abgesehen, ist aber in deren Nachbarschaft seit ein paar Jahren ein neues Literatur-Genre im Schwange, das mich mit wachsender Faszination fesselt: der Kommentar-thread. Sobald, sagen wir mal auf SPIEGELonline, irgendein News-Knaller aus der Welt der Superreichen, Berufs-Bescheuerten und Durchgenudelten vermeldet wird, etwa der Tod des „Terrorfürsten“, die Schweißhände von Dr. Westerwelle oder die hochominös kriminalen Sex-Abenteuer eines Welt-Bankers, fühlen sich umgehend 500, 1000 oder noch mehr Leute berufen, dies engagiert, verschwörungstheoretisch versiert und mit üppig investierter Leidenschaft zu kommentieren. Und? Und dann liest man das und bekommt Angst. Selbst wenn man, wie ich, der Überzeugung ist, 80% der Mitbürger seien Idioten und Vollpfosten (die journalistisch trainierte Gattin winkt immer ab und sagt: „Pah, da kommzze nich mit aus!“), ist man doch frappiert und geplättet von der konzentrierten Dichte des Dummheitsspektrums. Ein neuer Unterparagraph von Murphy’s law:  Was immer man sich an komplett blickdichten Blödheiten ausdenken kann – irgendwer wird’s demnächst „posten“. Oder hat schon.

Mich ängstigt das zunehmend, weil ich mir immer vorstelle, die meisten von denen laufen frei herum! Stehen neben mir im Bäcker-Laden. Arbeiten im Atomkraftwerk wie Homer Simpson, sind Polizisten, Lehrer oder Ärzte! Vielleicht ist einer der Irren mein Nachbar! Und doch, was ich beim Lesen empfinde, ist wohl eher Angstlust. Ich meine, ich habe früher nie Leserbriefe in der Zeitung gelesen, weil mich das querulatorische Gemaule von Nörgelrentnern und die Beckmesserei von Prof. Dr. Müller-Weissbescheid nicht die Bohne interessierte. Aber wenn man die konzentrierte, geballte und repräsentative Umschau über den Müll bekommt, der hinter Volkes Denkerstirn so brütet, da kann einem schon mulmig werden.

 PS: Interessiertem Damenbesuch, zumindest wenn er nur eine Nacht blieb, habe ich später beim postkoitalen Geplauder gern erzählt, die mörderdicke Narbe an meinem Bein stamme von einer stoisch durchstandenen Hai-Attacke. Heute ginge das nicht mehr. Die Schwarm-Intelligenz der Kommentar-poster hätte in Minuten herausgefunden, dass es sich in Wirklichkeit um eine kosmetische Operation der CIA handele, um Folter-Spuren aus dem Mossad-Knast, eine afghanische Kriegsverletzung oder schlicht um ein Photoshop-fake zu dem Zweck, mich interessant zu machen. Was letztlich auch wieder nicht völlig falsch ist – mal so in die Schublade gesprochen.

Nach dem Abendessen. Ein Dramolett mit Kommentar

12. April 2011

Das Mudra der Anrufung

 

Frau:             (Eine Mappe auf den Tisch werfend) Ich hab dir hier was ausgedruckt, wegen deiner Fitness, dass du da mal anrufst, in dem Rücken-Studio, okay?
Mann: Dank dir. Les ich mir durch.
Frau: Ja, ja, klar. Und dann machst du es doch nicht!
Mann:          Doch, doch, mach ich schon, gleich morgen….
Frau:             (schnippisch) Sicher! Morgen, morgen, morgen…
Mann:           Ja, soll ich’s vielleicht  JETZT lesen?
Frau:             Nein, JETZT natürlich nicht! Du brauchst nicht gleich aggressiv zu werden! Und du musst mich nicht lächerlich machen, bloß weil ich so nett war, dir was auszudrucken!
Mann:          (durchatmend) Eben, sag ich doch. Ich lese mir das morgen durch.
Frau:            Aber nicht immer nur sagen! Du musst das auch mal TUN!

Mann:          (gereiztIch TU es ja!
Frau:            Tsss. So geht das jedes Mal! Das ist dein typisches Vermeidungsverhalten! Immer vermeiden, aufschieben, reden… Ich druck dir Material aus, und das verschwindet dann bei dir in                           der Schublade! Mit Reden ist das nicht erledigt!
Mann:          (schaltet auf Zen-Atmung, bildet mit den Fingern das Mudra der Anrufung des mitfühlenden Buddha) Also soll ich’s DOCH jetzt gleich lesen?
Frau:             Das ist wieder typisch! So geht das jedes Mal! Sobald du ein Glas Wein getrunken hast, wirst du unsachlich und unausstehlich!
Mann:          Kannst du jetzt bitte damit aufhören? Ich hab doch schon gesagt, ich werde es mir morgen durchlesen!
Frau:            Sag ich doch – (flötend) Vermeiden, vermeiden, vermeiden! Du liest das doch wieder nicht! Aber Herumreden! Ausflüchte! Das alte Lied!
Mann:          (rauh aufschluchzend) Ja, verdammt! Ich habs doch jetzt schon  tausendmal gesagt: ICH LESE ES!
Frau:             Siehst du! Und dann fängst du an zu schreien...

Es gab Zeiten, da verfügte ich über schier unbegrenzte Ressourcen an Kraft und Zeit, da konnte ich solche Gespräche notfalls bis vier Uhr morgens führen und dann um 6.00 Uhr zur Arbeit fahren. Sie, die Gespräche, endeten übrigens meistens so:

Mann:     Ich hab das Gefühl, das bringt jetzt nichts mehr. Lass uns aufhören…
Frau:       (bitter) Ja, sicher, wie immer! DU bestimmst natürlich, wann Schluss ist!

Es war wohl damals, dass ich dermaßen verzweifelt und vergeblich nach einem göttlichen Schiedsrichter im leeren Himmel gesucht habe, dass ich schließlich darüber das Beten verlernte. Mein verehrter Meister Laotse sagt: Sei wie das Wasser! Sammle dich an der tiefsten Stelle. Die Kraft der Nachgiebigkeit ist unüberwindbar.


Das Schlimme ist: Ich bin mir absolut sicher, SIE hält mich jetzt für einen sturen, uneinsichtigen alten Sack, dem wirklich nicht zu helfen ist. Sie hats ja weißgott versucht, oder?

Als Durst-Phobiker in Diyarbakır

5. Januar 2010

Nichts für Durst-Phobiker: Diyarbakir (town with no cheer). - Foto: Wikipedia Open Source, Christian Koehnen (?), August 2001

Eine der psychischen Beeinträchtigungen, an denen ich ewig laboriere, besteht in einer ausgeprägten Durst-Phobie. Schon als Kind hatte ich das; in dem Rucksack mit vielfältigen Ängsten, der auf meinen zarten Schultern lastete, war dies geradezu ein Prachtstück von prospektiver Panik: Daß ich mal fürchterlichen Durst leiden könnte, und es wäre nichts zu trinken verfügbar! Entsetzlich! Keine Ahnung, woher diese Phobie stammte, vielleicht weil ich nicht gestillt wurde? Oder bereits im Leib meiner verehrten Frau Mutter einer pränatalen Dehydrierung anheimfiel? Heerscharen von graubärtigen Psychoanalytikern könnten an mir ihr Hermeneutik-Besteck wetzen – die Rätsel blieben, und das Leiden auch.

Einmal sah ich, allerdings – es war mir, ehrlich, versehentlich unterlaufen! –  bekifft und daher wie gelähmt, in einem winzigen Schwarzweißfernseher den gefühlte achtzehn Stunden langen Spielfilm „Lawrence von Arabien“, einen unter heißem Wüstenstaub fast schon verschütteten Streifen oder Schinken ohne nennenswerte Handlung, und ich erlitt geradezu höllische Durstqualen, weil mich das Haschisch fluchtunfähig auf dem Sofa festgeklebt hatte! Noch jahrelang konnte ich weder Peter O’Toole noch Omar Sharif sehen, ohne daß mir die Hände zitterten!

Später verschob sich die Phobie von einer allgemeinen Dehydrierungsangst hin zu der spezialisierteren Furcht, plötzlich ohne alkoholische Getränke dazustehen. Ja, ja, geschenkt, ich weiß, was jetzt alle denken. Man diskriminiert mich wieder mal mit der Alkoholismus-Keule! Dabei ist es das gar nicht; es handelt sich um eine echte Phobie, weil, ich muß den Alkohol ja gar nicht unbedingt trinken, darum geht es nicht, ich werde nur nervös und unglücklich, wenn keiner da ist!  Noch verstörter erlebt man mich allerdings, wenn die entsprechenden Getränke zwar im Prinzip problemlos erhältlich wären, man mir ihren Ausschank aber vormundshalber oder pädagogischerweise verweigert. So etwas kann ich überhaupt nicht leiden! Da werde ich ungenießbar! Vielleicht deshalb hat man mich nie mit grimmigerem Blick erleben können als bei Reisen durch hard-core-islamische Länder.

Mit noch heute brennender Empörung (vom Durst gar nicht zu reden!) erinnere ich mich einer Rucksacktour durch Kurdistan. In der düster-brütenden, brüllaffenheißen, stickig-staubigen ost-türkischen Provinzhauptstadt Diyarbakır, deren freudlosen Gassen nach von schwarzen Schmeißfliegen bedeckten Hammelhälften rochen, Gassen, in denen ich recht erfolgreich mit türkischen Besatzer-Soldaten im Finsterumherschauen wetteiferte, in solchen hitzeflimmernden Gassen also schleppte ich mich, halb verdurstet, geschlagene fünf Stunden durchs urbane Häuserkampf-Gelände, ohne auch nur eine einzige Gelegenheit zu finden, wenigstens ein großes, dünnes, kühles Efes-Bier zu ergattern! Freilich hatte ich, die Situation verschärfend, nicht nur meine Phobie, sondern auch meine attraktive, damalig zukünftige Ex im Schlepptau, die – zwar bodenlang frommvermummt und zuchtbekopftucht – dennoch als weiblich erkennbar blieb; mit seiner eigenen Ehefrau am Nachmittag in Diyarbakır ein Bier trinken zu wollen, könnte man mal als Horror-Aufgabe im „Dschungelcamp“ stellen! (Wer wissen will, wie das endete: Nach schließlichem Verlust aller Contenance und Schüchternheit, und plötzlich fast fließend türkisch fluchend könnend, brach ich am Ende unter Getöse und Gewaltandrohung in ein von den Islamisten noch übersehenes Speakeasy ein und zwang den Wirt dort, uns aus herbeigeschleppten Stühlen und Tischen eine Art Separée zu basteln, indem wir je zwei halbe Liter eiskaltes Efes herunterstürzten, von den Blicken der anwesenden Schmuggler-Kurden durchbohrt wie der hübsche, sexy Heilige Sebastian von Römer-Pfeilen.)

Seit diesem Trauma-Urlaub machen mich hier, in Deutschland, in Duisburg, in der hood, die Klitschen, Imbisse, Schnell-Restaurants und Holzkohlegrill-Buden EXTREM GEREIZT, die aus lauter Angst vor dem herumspukenden Stadtteil-Imam oder Nachbarschafts-Hodscha und seinen spitzelnden Spießgesellen sich nicht mehr trauen, zum hochwürzigen Essen ein Bier, ein Glas Wein oder einen Rakı auszuschenken. Echt! In den sich dicht an dicht aneinander schmiegenden Holzkohlengrill-Läden meiner Nachbarschaft gibt es nur noch Ayran und Cola zum Essen! Keine Ausnahme?

Doch – EINE EINZIGE! Frau Gülsoy druckt es stolz und furchtlos in ihre Speisekarte: Hier gibt es, Wunder Allahs!, wenn der Gast denn möchte, noch Wein („weiss oder rot“!), Rakı und sogar „Whisky“ zum Essen dazu! Kein Wunder, daß ihr Schnellrestaurant, in dem man an gemütlich-folkloristisch eingedeckten Tischen durchaus auch langsam essen darf, „Beyoglu“ heißt – wie der allerwestlichste Stadtteil des europäischen Südwest-Istanbuls. Hier sagt der Hodscha „Guten Appetit“ („Afiyet olsun!“) oder hält gefälligst die Klappe!

Nicht, daß ich am hellen Mittag zum – übrigens leckeren – Döner-Teller Alkoholisches bestellt hätte – aber ich hätte KÖNNEN! DÜRFEN! DIE FREIHEIT GEHABT! Schon wegen dieses Alleinstellungsmerkmales werde ich das „Beyoglu“ jetzt öfter aufsuchen; außerdem gibt es dort die zartknusprigduftigsten selbstgemachten Brötchen in ganz Hochfeld, und das Essen ist gut, bzw. auch für Islam-Allergiker hervorragend geeignet.

Nun hoffe ich, mit diesem Lob Frau Gülsoy nicht etwa geschadet zu haben. Was mich beruhigt: Der hiesige Imam soll, von der türkischen Religionsbehörde geschickt, kein Deutsch können. Qype kennt der bestimmt auch nicht. Wir sind hier also auf der sicheren, europäischen Seite der Türkei. Şerefe! („Prost!“)

Ein Wien-Erlebnis mit Prominenz-Bezug

11. Juni 2009
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Glückspilze treffen ihn am Naschmarkt: Herrn Grandits gibt es wirklich!

BANALER ZUFALL ODER METAPHYSISCHE KOINZIDENZ?

Weil ich übermorgen nach Wien fliege und hier für zwei, drei Tage den Rand halten muß, sende ich heute eine Wiederholung aus meinem Qype-Schatzkästchen, einen Beitrag mit Wien-Bezug, in dem auch Prominente mitspielen:

„Nee, schon klar. Ich würde das auch nicht glauben. So Geschichten gibts ja vielleicht im creative writing-Kurs, aber nicht in wirklich. Ich habe „gute Freunde“ (ha!), die sich bestimmt jetzt hämisch die Hände reiben und kichern: „Ey, guck mal, Kraska mystifiziert schon wieder! Der kann keine simple Städtetour machen wie Millionen andere auch, nee, der muß gleich wieder den Papst beim Tango treffen!“ – Und schwören nützt auch nichts? Ach, dann glaubt doch, was Ihr wollt, jedenfalls habe ich ein irres Erlebnis zu referieren…

Ich weilte also in Wien. Neben verwirrend vielen exotischen Völkerschaften hat es dort ganz glücksgelegentlichselten noch den charakteristischen, von mir bis zur Abgötterei verehrten Typus des Wiener Grandseigneurs: Gebildet, distinguiert, ungemein höflich, zuvorkommend, mit schier phantastischen Manieren und wirklich echtem, wirklich umwerfendem, auf Takt und Herzensbildung basierenden Charme. Dieser Typ Mann, den ich vom Fleck weg heiraten würde! (Und das als Mann, der ja noch nicht mal ansatzweise homosexuell ist!)

Ein Beispiel wollt Ihr? Nun, ich weiß nicht, vielleicht kennt  jemand den Herrn Ernst A. Granits – dieser soignierte, stoppelkurz-silberhaarige, kluge, reifere Herr moderiert die 3Sat-Sendung „Kulturzeit“ und ist u. a. bekannt für intelligente, auffallend uneitle, fast schon in Gespräche ausartende Interviews. Ich sehe den Mann oft, im Fernsehen, und ich gestehe: Von allen TV-Nasen ist er mir eine der sympathischsten. Da er einen ausgeprägten Akzent hat (ist der Wienerisch? Oder typisch für Graz? Oder Salzburg? das weiß ich nicht…), und wohl auch noch aus anderen Gründen kam mir dieser gewisse Herr Ernst A. Grandits, während ich in Wien herumtrabte und div. Sehenswürdigkeiten würdigte, des öfteren in den Sinn. Mal hier, mal da. Nicht obsessiv, aber immer mal wieder. So. Daran ist ja jetzt nichts Ungewöhnliches, oder? Nein.

Nun schlendere ich mit der Gattin am Montagabend über den Naschmarkt. Die Stände werden gerade abgeräumt, es ist leider Feierabend. Die abertausend Naschereien haben uns aber Appetit gemacht, und so schnüren wir am Rande des Naschmarktes herum und halten nach einem einladenden Restaurant Ausschau, und während wir noch diskutieren, strahle ich einen Passanten an, mit mutmaßlich völlig entrückt-dämlichen Grinsen und sage: “Guten Abend, Herr Grandits!“ , denn, glaubt’s nun oder glaubt’s nicht, da steht der am Naschmarkt, in persona, im vollen Glanze seiner austriakischen Höchstselbigkeit, ein paar Sackerl mit Delikatessen in der Hand und… ist ein wenig irritiert. Man sieht, wie er kramt: …Kenn ich den?  S o l l t e  ich den kennen? Ich erinnere mich nicht! Haben wir zusammen studiert, vielleicht? Oder ist das der Ex-Mann von der…hm… na….Dings?

Inzwischen sind wir etwa 15m voneinander entfernt stehengeblieben, der Herr Grandits an der Ampel, ich an der Gattin, die meinen plötzlichen Ausbruch von Enthusiasmus zu verstehen versucht, während ich stammele: „Hör mal, ist das irre! Ich glaub das nicht! Das ist DER GRANDITS! Da eben, der da, da hinten, da! Und den hab ich jetzt grad mal gegrüßt, weil, den kenn ich aus dem Fernsehen und…“ Nun ist die Gattin ja bekanntlich selber beim Fernsehen und deswegen vollkommen unbeeindruckt, und ich muß ihr erklären, warum es eine geradezu metaphysische Koinzidenz der Ereignisse darstellt, daß ich praktisch gerade erst in Wien an den Herrn Grandits gedacht hätte, und jetzt wäre der da praktisch exakt in der Wirklichkeit vor mir gestanden und… [Ich erwähnte wohl auch die ähnlich gelagerte Diskussion, die Karl Valentin im Sketch „Orchesterprobe“ mit dem von Liesl Karlstadt gespielten Dirigenten führt, ob es nämlich ein bloßer Zufall oder doch bedenkenswerte Fügung sei, daß am Sendlinger Tor, grad als er mit einem Bekannten über Radfahrer gesprochen hätte, eben ein solcher vorbeigekommen sei.] Jedenfalls redete ich, hin und wieder mit frenetischem Enthusiasmus auf den Herrn Grandits deutend, auf die Gattin ein, um ihr die Sensationalität dieses Zusammentreffens zu erläutern. Sie versteht manchmal meine Aufgeregtheit nicht, sie hat ein anderes Temperament.

Aus der Perspektive des Wiener Prominenten sah es wohl eher so aus: Da scheint ein offensichtlich hilfsbedürftiger Irrer Fürsorge zu benötigen! Fragend sieht er zu mir her. Ich wiederum hebe entschuldigend die Hände, gestikuliere erklärend – was die Sache noch wirrer macht. Der Fernseh-Seigneur, schon in mitmenschlicher Sorge, macht ein paar Schritte auf mich zu… – und ich auf ihn. Ich möchte ihm gern erklären, inwiefern ich keineswegs völlig bescheuert sei und auch gar kein Provinztrottel, der gleich erstürbe, wenn er einen Menschen, den er aus dem TV kenne, in der Wirklichkeit träfe, – während wiederum der Herr Grandits wohl denkt, er muß einem armen Provinz-Depperl aus der Patsche helfen, und so reden wir eine kurze Weile aufeinander ein – ich stammle immer wirreres Zeug (“Wissen’s, Sie! Ich kenn…, i hob, i woaß, i liab Sie praktisch – meine Verehrung! – wegen denen Ihra Sendung und bin praktisch a Fan, und dann hab i Sie auf der Strassen gsehn und da hab i denkt, ich grüß, aber i woaß natürlich, daß SIE MICH net kenna derfa und…“

– und der wunderbare Herr TV-Geheimrat oder Gnä’ Herr Professor wirft seinen sahnigen (aber nicht die Spur selbstgefälligen!) Bariton an und sagt: “Danke. – Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“ Jetzt bin ich VÖLLIG daneben. Geradezu schon debil und wie nicht mehr ganz zurechnungsfähig grinse ich das Intellektuellen-Idol nun praktisch fast fanatisch an, strahle, kichere wie doof und stammele: “Äh, nee, nein, äh. Danke, ich glaub, Sie können mir nicht helfen, mir kann wahrscheinlich keiner…“ – worauf dieser wunderbare Mann, anstatt sich achselzuckend wegzudrehen, freundlich und fürsorglich nachhakt und sagt: “Nun, aber ich habe Sie mit Ihrer Frau Gattin über dem Stadtplan grübelnd gesehen und dachte, vielleicht suchen Sie etwas?“

Da hab ich dann gestanden, na ja, schon, ja, in der Tat, ein nettes Restaurant suchten wir gewiß, und… – und der Herr Grandits fragt huldreich-geduldig: “Etwas Österreichisches? Und net zuu teuer?“ Ich kann nurmehr stumm nicken, während das Fernsehidol nachdenkt, blinzelt, stirnrunzelt und offenbar ernsthaft (wegen mir!!!) grübelt und dann spricht und das Orakel kundgibt: “Naa … da gehns doch zum Horvath! Des is reell, des is österreichisch und des is bezahlbar!“ Worauf die televisionäre Berühmtheit mir dann auch noch ganz unprätentiös, aber journalistisch präzis den Weg zum Wirtshausm  weist und beschreibt … – zu dem wir uns dann auf den Weg machten, nachdem ich dem Herrn Grandits noch ein Lächeln hinterhergeschmissen hatte, das, wäre ich eine einigermaßen hübsche Frau gewesen, ihm eventuell hätte hypothetisch den Abend hirnzerstäubend versüßen hätte können.

Der Weg dann zum Gasthaus war echt hart… – für die Gattin. Obwohl sie praktisch DABEI gewesen war, mußte sie sich von mir ungefähr fünfzehnmal die Geschichte anhören, wie ICH in Wien zufällig an den Herrn Grandits aus dem Fernseh gedacht hätte und dieser dann urplötzlich dagestanden wäre. Und daß er uns einen Weg zum Gasthaus gewiesen… Unglaublich! Oder? Oder? Liebling! Denk doch mal! Das war DER Grandits!!! DER aus dem Fernsehen! [Das vielleicht absolut Grandioseste an der Gattin ist, daß sie in diesem Moment, wiewohl vollkommen im Recht, NIEMALS sagen würde: Na und? MICH kennst Du auch aus dem Fernsehen! – – Ich habe halt eine sehr STOLZE Frau!] Das „Horvath“ war dann übrigens auch tatsächlich recht gut!

Die Frage ist freilich: Werde ich nun jemals noch den Herrn Grandits im Fernsehen erblicken können, OHNE Mitzuschauern die Geschichte zu erzählen, wie ich diesen verehrungswürdigen Mann mal am Wiener Naschmarkt getroffen habe und er mir einen Restauranttipp gab? Es gibt Koinzidenzen, die ließen auch einen metaphysisch Unmusikalischen erschauern…“

Aus meinem neurotischen Vereinsleben

4. Mai 2009
 

 

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Das waren Zeiten! Kraska mit seinem Philosophie-Examinator Theodor W. Adorno (links!)

EINE ABSCHWEIFUNG

 

Ich leide unter einer Art Abgrenzungsneurose. Das heißt, richtig leiden muß ich daran nicht eben gerade – es ist nur so, daß ich wie jeder Mensch eigentlich schon ganz gern irgendwo dazugehöre, denn das hebt einen und verrät Sozialkompetenz, selbst wenn es sich um einen Schützenverein handelt oder den Dachverband verbitterter Querulanten, Leserbriefschreiber und Prozeßhansel; wenn ich aber dann mal Mitglied einer Institution, eines Verbandes oder Vereines geworden bin, gibt es früher oder später eine Katastrophe, weil ich innerhalb des Clubs sofort wieder den Außenseiter machen muß, und zwar bis ich rausfliege. Krankhaft ist das! Ich könnte nur in extrem exklusiven Clubs Mitglied sein; exklusiv natürlich jetzt nicht wie diese snobistischen Golf- und Segelvereine, in denen schwer betuchte (Einstecktuch, Seidenhalstuch, Nummernkonto in Zürich) Silberlocken in blauen Blazern Cohibas schmauchend Prostataprobleme erörtern, sondern exklusiv im Sinne von extrem wenig Mitgliedern. Zum Beispiel befände ich mich als deutscher Aficionado de toros, als Freund des Spanischen Stierkampfes also, in einer Gemeinschaft von gerade mal ca. 400 Leuten, was bei 80 Millionen (sorry!) Deutschen schon als recht exklusiv gilt. Da ist selbst der Uigurische Heimatverein größer. Noch besser wäre es nur, einen Fan-Club des anarcho-individualistischen Anti-Philosophen Max Stirner zu gründen, da sich so ein Verein quasi als erste Amtshandlung selbst wieder auflösen müßte.

Kürzlich habe ich darüber nachdenken müssen, wie groß wohl der imaginäre Verein derjenigen Menschen sein mag, die nachts um 4.00 Uhr in der ARD diese Bahnfahrt-Filme anschauen, und zwar aufmerksam und konzentriert, so wie ich kürzlich die mit festmontierter TV-Kamera aufgenommene ICE-Fahrt Bonn-Berlin miterleben durfte, teilweise jedenfalls, weil die Fahrt zugunsten irgendwelcher blöder Nachrichten morgens um 5.00 Uhr abgebrochen wurde. Egal, jedenfalls: Diese Filme sind gar nicht langweilig! Fast möchte ich soweit gehen, eine Lanze für das wohlwollende Anschauen solcher Eisenbahnfilme zu brechen! Man „sitzt“ ja als Zuschauer praktisch, was man sonst nie darf, neben dem Lok-Führer, hat einen wunderbaren Blick und man „fährt“ sehr häufig durch geradezu bizarr unschöne, wüste und nur selten blühende Landschaften, vielmehr häufiger durch heruntergekommene Gewerbegebiete, Industriebrachen, über großflächig stillgelegte, verrostete, schon von hartem Gras überwucherte Gleisanlagen, vorbei an leer gähnenden, seit langem aufgelassenen Kleinbahnhöfen. Schaut man sich das konzentriert an, gerät man als notorischer Geisteswissenschaftler und Kulturmensch bald in eine nützliche, will sagen irgendwie „statistische“ Stimmung. Es steigen seifenblasenhaft gewisse Fragen im eigenen Inneren empor, die man sich gewöhnlich nie stellt: Wieviel LIDL-Filialen gibt es eigentlich? Warum betreibt man keine Güterbahnhöfe mehr? Wieviel Kilometer Faxe werden wohl noch täglich verschickt? Wer hat den Bürodrehstuhl eigentlich erfunden?

Ich weiß nicht, ob man mich versteht. Es ist halt so, daß man virtuell durch Erwerbs- und Verwaltungslandschaften gleitet und sich dabei klar darüber wird, wieviel Menschen jeden Tag doch das ungefähr ziemlich Gleiche tun zwischen Bad Herleburg und Gütersloh, nördlich vom Ettenheim-Münster, westlich von Fürstenwalde und südlich von Süderbrarup. Es handelt sich um einen Trivialitäts- und Kontingenzschock. („Kontingenz“ bitte nachschlagen, wenn nötig!) In der Nähe von Süderbrarup sind mal Kinder in einem Schulbus erfroren, denn der Winter war hart, sie schneiten ein und Helikopter standen noch nicht zur Verfügung. Ich streue das hier nur eben ein, um Zeugnis dafür abzulegen, daß auch in sehr unbedeuteten, kaum bekannten Örtchen Dramen, ja, Tragödien sich abspielen können. Die erste und auch schon Definition von „Kontingenzschock“ kommt übrigens vom versoffenen Nationaldichter Grabbe: „Einmal im Leben auf der Welt, und dann als Drogist in Detmold!“

Das Schönste an den Bahn-Filmen ist aber, daß man, sofern es ein ICE-Film ist, ja unverkennbar mit reichlich Schmackes durch die Gegend saust, die rechts und links nur so vorüberfliegt, und zugleich, weil man ja vor dem Fernseher sitzt, keinen Realmeter vorankommt. Man befindet sich ziemlich genau in jenem „rasenden Stillstand“, den der Kulturkritiker Paul Virilio immer angeprangert hat. Warum dieses Anprangern, ist mir allerdings nie ganz einsichtig geworden, weil, wenn jemand gegen dauernde Beschleunigung und verschärfte Geschwindigkeit von allem und jedem ist, das ist Stillstand doch gut, ob rasend oder nicht! 

Um den Menschen, die seit Jahren ohne Fernseher glücklich sind, noch etwas zu beißen zu geben: Noch mehr Stillstand ereignet sich eigentlich nur in den berühmten deutschen „Tatort“-Krimis. Während eines durchschnittlichen, um 20.15 Uhr abfahrenden Tatort-Krimis, sagen wir vom MDR, kann man bequem in Gedanken einmal durch alle sieben Kreise des Danteschen Infernos spazieren, und ist dennoch lange, lange vor der „Auflösung“ des Krimis wieder da, wo sich soeben die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ (Nietzsche) ereignet: Kommissare runzeln die Stirn, schauen irritiert, müssen „noch mal los“, steigen in den Wagen, parken aus, wechseln Worte und Meinungen mit ihrem mitfahrenden Kollegen, riskieren je nach Temperament einen Scherz oder eine sarkastische Bemerkung, dann kommen sie irgendwo an, parken ein, steigen aus dem Wagen, gehen ein paar Schritte bis zum Haus, klingeln dort an der Türe, warten, bis geöffnet wird, um dann zu sagen: „Entschuldigen Sie, Frau X,  eine Frage hätte ich doch noch: Wie war eigentliche ihre Ehe mit dem Ermordeten?“, dann bekommen sie unbefriedigende Antworten, trollen sich darob leicht verfinstert wieder, um in ihren Wagen zu steigen, auszuparken und zum Präsidium zurückzufahren, wobei der Kommissar brummt: „Irgendetwas verschweigt sie uns!„, und vielleicht fahren sie auf dem Weg noch in die Pathologie, wo ein exzentrischer Forensiker inzwischen „die Ergebnisse“  sowie aus der in Frage stehenden Leiche etwas herauszupulen und nun zu präsentieren hat, das dem Fall eine neue Wendung gibt, und dan  steigt man mit dem braunen Umschlag ins Auto und… ja, so geht das immer weiter und weiter, wie im richtigen Leben, nur in zähflüssig klebriger, fädenziehend zeitlupenhafter Laangsamkeit,  die dann pünktlich um 21. 45 Uhr gänzlich zum Stehen kommt, wobei der Mörder oder die Mörderin in aller Regel vom bekanntesten Gastschauspieler dargestellt wird, sodaß man schon weiß,  „wer es ist“, was die Spannung nicht gerade zum Glimmen bringt. Man hat so ein Gefühl wie ich einmal in einem ambivalenten Angstlust-Alptraum, in dem ich in einem Pool voll Heidehonig das Freischwimmerabzeichen machen mußte.

Albträume sind ja oft unvergeßlich und lehrreich. Ich habe mal beim berühmten Theodor W. Adorno ein Philosophie-Examen ablegen müssen, er kam dafür ins Haus zu meinen Eltern, weil ich erst sechs Jahre alt war und einen Frottée-Schlafanzug trug, und ich mußte, während Adorno unten im Wohnzimmer am Nierentisch mit meinen Eltern Portwein trank, meine Dissertation rätselhafterweise im Kinderzimmer auf Toilettenpapier schreiben, mit abgebrochenen Wachsmalstiften und dem groben Sisalteppich als Unterlage, sodaß es mir nur unzureichend gelang, meine Gedanken angemessen zum Ausdruck zu bringen. Diesen Traum hatte ich vor zig Jahren, im Studium, aber noch heute grübele ich, was er mir eigentlich sagen wollte, denn so ein Quatsch kann doch nicht ohne Sinn sein!

Immerhin bin ich m. W. nicht nur der einzige Grundschüler, der noch vor Abschluß der ersten Klasse  bei Adorno promoviert hat, sondern auch einer der ganz wenigen Linken, mit dessen Eltern Adorno Liqueurwein zu sich genommen hat! Das ist an Exklusivität kaum noch zu überbieten! An Entschleunigung allerdings auch nicht, denn mithin habe ich für meinen Studienabschluß runde 50 Jahre benötigt – was den heutigen Regelstudiensätzen wiederum energisch Hohn spricht.

Am besten werde ich mich allmählich mit einer Berufswahl auseinandersetzen. Was mir vorschwebt, ist entweder „Tatort“-Komissar oder Lok-Führer bei der Fernseh-Bahn. Beides wären Berufe mit einem gewissen metaphorischen Mehrwert!

 

 

Kosmopolitische Vampir-Pornos im Paralleluniversum

25. April 2009
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Paralleluniversen sind denkbar!

BIZARRES VON NACKTEN DÄNINNEN UND ALGERISCHEN GRUPPENRAUCHERN

Was Naturwissenschaften angeht, hab ich nur die Ahnungslosen-Fakultät der Wikipedia-Universität besucht, aber es heißt, seit 1957 gäbe es Quantenmechanik-Experten, die innerhalb „unseres“ Multiversums von einer unbegrenzten Zahl von Paralleluniversen ausgehen. In diesem Zusammenhang belehrt man mich: „In den meisten Universen ist wegen der ungünstigen Werte kein Leben möglich – in anderen jedoch schon. Das beobachtbare Universum gehört zu der Teilmenge von Universen, in denen intelligentes Leben möglich ist, sonst könnten wir diesen vermeintlichen Zufall nicht beobachten.“ Schön. Erfreulich. Daß intelligentes Leben zumindest theoretisch für möglich gehalten wird, erfüllt mich mit einer gewissen Befriedigung.

Das erste Mal, bei dem ich das Gefühl hatte, versehentlich kurz ein Paralleluniversum besucht zu haben, ereignete sich in meinem 16. Lebensjahr, und zwar in Mantes-la-Jolie, einer mittleren Industriestadt 50km vor Paris. Eines Abens verließ ich verbotswidrig meine Schülergruppe, um den Ort zu erkunden, der von bereits Ortskundigen mit „abgesehen von der Kathedrale absolut extrem öde“ recht schmeichelhaft beschrieben wurde. Da ich des Französischen nicht wirklich, des Arabischen gleich überhaupt gar nicht mächtig war, folgte ich einfach, in respektvollem Abstand, einigen dunklen Gestalten, die, den Kragen ihrer Kunstlederblousons hochgeschlagen, verstohlen stadtauswärts strebten. Solchermaßen verstohlen irgendwohin Strebenden zu folgen hielt ich für eine gute Idee, um eventuell etwas Abenteuerliches oder wenigstens Sinnenaufpeitschendes aufzutun. Vorsichtshalber schlug ich meinen Kragen auch hoch.

Irgendwann schlüpften meine unfreiwillgen Führer durch eine Tür in ein Fabrikgebäude oder eine Lagerhalle (in Wahrheit: das Paralleluniversum!), und ich rechtzeitig hinterher, um zu sehen,wie sie einer Art Pförtner ein paar zerknitterrte Francs-Scheine zuschoben. Auch das, – wenn schon, denn schon! – tat ich ihnen klopfenden Herzens nach. Sekunden später ging es durch ein Schwingtor hinein: Vor mir öffnete sich ein im Halbdunkel riesig wirkender, leerer Saal mit einem etwas abschüssigem Boden aus festgestampftem Lehm. In fahl flackerndem Nebeldunst machte ich etwa drei bis vierhundert Algerier aus,  mangels jedweder Bestuhlung in Gruppen zusammenstehend, unentwegt Arabisches aufeinander einmurmelnd und ansonsten intensiv vom Rauchen enormer Mengen maisgelber Gitanes beansprucht.

Erstaunlicherweise hatte kaum einer der Nordafrikaner mehr als einen flüchtigen Seitenblick für die große Kino-Leinwand an der Stirnseite des Saales übrig, wo – ich bitte dies als reine Tatsachenwahrheit, und nicht etwa als übertreibende Fiktion zu nehmen! – in schwarz-weiß gedrehte dänische Vampir-Pornos mit arabischen Untertiteln liefen! Soweit ich das durch den dichten Zigarettendunst identifizieren konnte, drehte sich der Streifen in der aktuellen Phase wesentlich um zwei Damen (Typ Robuste ländliche Unschuld), die man in einem Labor splitternackt an die Wand gefesselt hatte, um ihnen mittels einer sadistisch anmutenden Apparatur sämtliches Blut abzuzapfen. Mit den aufgerissenen Augen eines bis dato doch eher behüteten Provinzjugendlichen beglotzte ich fassungslos die armen Entblutenden, die sich beiderseits durch opulent gestaltete, birnenförmige Naturbrüste (ohne Silikon damals) und ebenso beeindruckend naturbelassene Schamdreiecke (Wir sind in den 60ern!) auszeichneten, und ansonsten einander recht dringlich dänische Verzweiflungsschreie zuriefen, was die herumlungernden Algerier jedoch entweder kalt ließ oder möglicherweise sogar insgeheim amüsierte – anmerken ließen sie sich jedenfalls nichts. Mir aber schoß, wie so etwas ja vorkommen kann, plötzlich eine Liedzeile aus Peter Sarstedts Song „Beirut“ durch den Kopf: „And there stood I, the complete anti-heroe, brilliantly alone…“

Da stand ich, der jungfräuliche gymnasiastische Provinz-Zimperling und wohlgebügelte Seitenscheitel-Kadett, zum ersten Mal länger als drei Tage von Mutti fort, mutterseelenallein unter lauter herzlosen, womöglich dänen-feindlichen Arabern oder Berbern am Ostpol oder Blinddarm der Welt, lauschte dort verständnislos dem steten Gemurmel fremdartiger, wie Gebete klingender, kehlig krächziger Sprachfetzen, und versuchte dabei angestrengt, cool an den zusehends blutärmeren nackten Schwarz-Weiß-Däninnen vorbeizuschauen. In diesem Moment bekam ich den Paralleluniversums-Flash und wähnte mich für einen erlesenen, wenn auch hochbefremdlichen Moment in einer überwirklich großen Moschee einer in „unserem“ Universum unbekannten Version des Islam, in der man offenbar nackte Däninnen anbetet und ihnen mit Fleiß und konzentriertem Ernst fortwährend Rauchopfer von filterlosen dicken Gitanes darbietet! – Es war dies zweifellos die bizarreste Erfahrung meines damals noch jungen Lebens und die existenzphilosophische Frage: „Was, zur Hölle, MACHE ich hier?!“ brach sich mit aller Gewalt Bahn, fand aber, wie später auch meist, keine Antwort, sondern blieb in Gestalt eines stumm-bedrohlichen Rätsels oder Fragezeichens über meinem Kopf schweben, jedenfalls, wenn ich der Protagonist eines Cartoons wäre.

Soweit vorab und als teaser die erste Begegnung mit gleich zwei Weltphänomenen, die mich im nächsten Bericht noch weiter beschäftigen werden: Der Frage der Paralleluniversen und … dem Vampirwesen.

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VAMPIRESK: IN TEIL ZWEI KOMMT ES NOCH DOLLER!

To have and have not…

29. März 2009
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Nicht nichts: Easy Rider mit Spar-Harley

DAS FUTUR ZWEI DES ENTBEHRENS

Wenn ich mich nicht irre, gehört es zu den derzeitig geläufigen Scherzüblichkeiten, in bestimmten Kontexten mit beleidigt-wehleidiger Stimme melodramatisch seufzend auszurufen: „Wir hatten ja damals nichts!“, womit jüngere Leute gern die selbstmystifizierende Privatmythologie ihrer Eltern ein wenig zu veralbern trachten. Die satirische Spitze ist ja auch berechtigt, wenn und sofern jemand angesichts der vergleichsweisen Ungesegnetheit seiner Kindheit mit materiellen Gütern es für ein besonders hervorhebenswertes Verdienst hält, daß er heute dennoch, dick und stark geworden, überregional viel Platz wegnimmt, vor Bedeutung platzt und sozialbeachtlich herumlärmt. (Daß „Nichts-Haben“ des weiteren natürlich äußerst relativ ist, wie man beim Besuch von Kindern, die in Manila auf Giftmüllhalden wohnen, ganz gut studieren kann, bedarf hier keiner weiteren Erörterung…)

Da ich zur „Generation Drehwählscheibe“ gehöre, bzw. zu denen, deren Kindheit noch auf vergilbenden Schwarz-Weiß-Photos mit gezacktem Rand dokumentiert wurde, könnte ich immerhin mit einigem Recht den Kids vorjammern: „Jedenfalls, also, Foto-Handys, Nintendos, Spielkonsolen, Computerspiele, CDs, MP3-Player, DVD-Player, Pay-TV,  Flachbild, Digitalcamera, Net-Community, MyFace und Spacebook.com, Baggy-Hosen und Baseball-Caps, Wodka-Redbull, Klassenfahrt nach Rom, Erlebnispädagogik, Koma-Saufen & Amok-Laufen – so etwas hatten wir alles nicht!“

Stimmt ja doch auch! Selbst meine Harley (vgl. Foto!) war eine extrem abgespeckte DrittWelt-Ausführung, statt Handy hatten wir Dosen-Telefon und anstelle der DVDs bloß Kopfkino mit zwei Kanälen (1. Abenteuer: Blondes Nachbarmädchen aus Schurkenhänden retten, 2. Erotik: Sex mit dankbarem blonden Nachbarmädchen). – Aber war das schlecht, oder vielleicht eher gut? (Rhetorische Frage. Bitte hier nicht antworten!)

Die Ergänzungsbedürftigkeit kindlicher Ausrüstung sowie allgemein das Zu-Wünschen-übrig-Lassen der Realität trainiert früh den seelischen Phantasiemuskel und sorgt für blühende innere Kopflandschaften! Außerdem „hatte“ ich durchaus einiges: Ein nahezu unverwüstliches, reparatur-unanfälliges Fahrzeug (vgl. abermals Foto!); einen besten und engsten Freund und Blutsbruder (nämlich Gudrun, allerdings nur bis 12 Jahre, dann waren ihr plötzlich unterm Pullover Brüste gewachsen, sie war heimlich „eine junge Frau“ geworden, der Verräter! und ließ mich als dummen Jungen in kurzen Hosen zurück); ich war bewaffnet (Flitzebogen, Weckgummi-Katapult, Silberbüchse); ich hatte genug zu essen (Lieblingsspeise: Milch mit vollfett viel Kakao-Pulver und reichlich Zucker) und nachts wachte der lb. Gott in Vertretung von Mutti darüber, daß ich wg. dem blonden Nachbarsmädchen nicht zu handgreiflich in Wallung geriet. Außerdem hatte ich auch noch Eltern, die mich nicht verstanden, und mehr braucht man als aufstrebendes Kind gar nicht.

Nur eines habe ich meinem Vater, dem Geld-Verdiener und mittagstischlichem Weltherrscher, lange verübelt. Es mochte für ein Kind meines Alters und Geschlechts ja ungewöhnlich sein, aber mein Herzenswunsch war halt, neben der Anschaffung eines Hundes, der Besitz eines Klaviers. Selbstverständich bekam ich nie eines. Mein Vater hegte wegen meiner Leserattenexistenz und seitdem ich mir zum 7. Geburtstag eine „Negerpuppe“ gewünscht hatte, den heimlichen Verdacht, ich sei auf dem besten Wege zur Homosexualität, und das wollte er nicht noch durch unnötige musische Impulse unterstützen. Außerdem hatten wir für ein Klavier weder Platz noch Geld. Wutschnaubend besorgte ich mir daraufhin Schuhkarton, alte schwarze Schulheftumschläge und Kleber und baute mir eine Piano-Tastatur aus Pappe. Darauf gedachte ich, während ich mal wieder leichtes Fieber und Knieschmerzen simulierte, zuhaus im Bett, beim Schulfunkhören, auf der Bettdecke schon einmal das Klavierspiel zu üben; den dazugehörigen Klang mußte wie so vieles die Imagination übernehmen. – 

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Vater Heinz Haneld: Selber Klavier spielen und mir Wandergitarre predigen!

Wie man sich denken kann, geriet diese Übung zwar zur impressionablen Demonstration rebellenhaften jugendlichen Eigen- und Unabhängigkeitssinns, mündete jedoch nicht in die ersehnte Pianistenlaufbahn… Aber jetzt kommt erst das Schärfste: Jahrzehnte später finde ich ein Photo meines Vater im Alter von achtzehn Jahren, und zwar – an seinem Klavier! Der Hund! Der Sausack, der knausrige! Selber Piano spielen und anderen Wandergitarre predigen! Gut, die war dann zum Trost immerhin „drin“, für 49 Mark vom Quelle-Versand.

Zum Dank bin ich dann doch nicht schwul geworden, sondern nur so polymorph-pervers vielseitig interessiert…

Muttis preußisch-protestantischem Überwachungsgott habe ich schon früh gekündigt, aber ich bin immerhin bereit, gewisse, nicht näher zu bezeichnende höhere Mächte anzuerkennen: Ob man etwas hat oder ob man’s entbehrt: Man weiß nie, wozu es ( – Futur Zwei! – ) gut gewesen sein wird!