Posted tagged ‘Depression’

Wo der wahre Wahnsinn wohnt (Duschvorhang-Design)

18. Juli 2012

Floraler Unterwasserwahnsinn bei OBI

Falls jemand vielleicht mal wissen möchte, was heute die wirklich unheilbar Geisteskranken, hoffnungslos Desparaten, Schwerstdepressiven und von jahrzehntelangem Drogenmissbrauch zerrütteten Hirnwütigen in unserem Land eigentlich rund um die Uhr so treiben, da kann ich jetzt Auskunft geben – sie sitzen unterzuckert, mit vereiterten Augen in stickigen, lichtlosen Isolationsbüros mit Resopalwänden und gestalten … Duschvorhänge! Ich weiß, kaum zu glauben, aber es ist, wie es ist, Kollegen.

Ich habs auch nur durch Zufall erfahren, am Abendbrottisch. Nur scheinbar banales, unverfängliches Thema war die Ausstaffierung der neuen Wohnung, die über immerhin zwei Bäder verfügt. – „Hört mal Leute“, wandte sich die Gattin an mich und die teilzeitmitwohnende Stiefstudentin, „was wollt ihr denn für Duschvorhänge?“ Sonnengelb!“ krähte ich spontan. „Pink mit Blümchen!“ (Die Stiefstudentin wieder! „Ich habe einen gediegenen Geschmack!“ fügte sie überflüssigerweise trotzig auftrumpfend hinzu.) „Rosa Blümchen erst wenn ich tot bin!“ sprach ich ein Machtwort. Ein Konflikt zeichnete sich ab. „Lass domma Internet gucken“, schlug die salomonische Diplomaten-Gattin vor.

Die nächsten zwei Stunden brachten das psychodelischste und zerebral zersprengendste Erlebnis, seit ich als grüner Naivling mal in Amsterdam auf der Straße von ’nem kranken Zwielicht-Nigga ein Stück Löschpapier erstanden hatte und prompt auf einen hundsgemein fiesen Trip geraten war. – Die Stiefstudentin haute ihr MacBook auf den Tisch und scrollte uns geradewegs in die Hölle. Versandhandel-Duschvorhang-Design: „The horror, the horror!“ (Marlon Brando in „Apocalypse now“): Plastikgewordene Albträume in braun und uringelb, wirr-verwitwete Kittelschürzen-Muster, giftgrüne Bambusstiele, blutrote chinesische Schriftzeichen, die man sich auch auf intime Stellen tätowieren lassen kann und die angeblich „Glück und langes Leben“ bedeuten. „Wahrscheinlich heißt das bloß ‚Arschloch!’“ mutmaßte die Stiefstudentin, die die Welt kennt, achselzuckend. Außerdem: Katzentatzen, IHerzNY, Wasserblasen in türkisblau, die Skyline von Manhattan, aufgedruckte Blutspritzer (!) auf weißem Grund (Modell „Psycho“), beige-braune Tapetenmuster aus den ganz, ganz frühen 70ern, graugrüne kleine Delphine beim Baden und fröhliche Vögelchen in lila Geäst. Für die rebellische Dusch-Jugend die Rolling-Stones-Zunge. Dazu jede Menge unmotivierte Kreise, die sich überschneiden, tanzende Karos in poppigem Schrillbunt, das Streifenkleid betrunkener Zebras und für Sadomaso-Fans das ganze auch noch in dominantem Lacklederpechschwarz.

Uaarrgh!

Also blieb als Minimalkonsens nur klares Weiß. „Sieht allerdings auch so aus, als würden dahinter Irre aus den 50ern nach Elektroschock und Lobotomie mit eiskaltem Wasser abgespritzt“, gab die Stiefstudentin recht altklug zu bedenken. „Aber Kinder, das passt doch zu euch!“ versuchte die Gattin uns aufzumuntern, erntete dafür aber nur verkniffene Blicke. Ausnahmsweise war ich mit der Stiefstudentin mal einer Meinung. Die Diskussion endete in Erschöpfung und Resignation. Erst heute morgen, als die Gattin beim besinnlichen Frühstück beiläufig meinte: „Ich wollte jetzt noch mal auf die Duschvorhänge zu sprechen kommen…“, fing ich unkontrolliert an zu schreien.

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Sterm lernen (Geniale Gene)

5. Oktober 2011

Obwohl ich deren absurd überdrehten Primitivpopulismus manchmal – mit leichter Ekel-Faszination – durchaus zu goutieren weiß, kauf ich die BILD-Zeitung nicht; das beruht nicht auf rationalen Gründen – ich bin halt mit der Idee sozialisiert worden, dass das ein grundbös verderbtes, menschenfeindliches Drecksblatt sei, das zu lesen gleichsam bedeutete, den Satan unterm Schwanz zu küssen. Natürlich ist das Unfug, aber gegen Überzeugungen, die in Jahrzehnten bis in die letzten roten Blutkörperchen vorgedrungen sind, rechtet man selbst mit sich selbst vergebens.

Jetzt aber nun lag zum 3. Oktober eine Gratisausgabe im Treppenhaus, und da hab ich halt blindlings zugegriffen, weil sich mir die Schlagzeile „Diesen 100 Deutschen gehört die Zukunft“ versehentlich ins Auge gebohrt hatte. Auf fein, das les ich jetzt mal, dachte ich, von einer flüchtigen Verstandeseintrübung beschattet, denn ich kenne zwar Leute, denen halb Deutschland gehört, aber gleich die ganze Zukunft? Das Studium der Liste eminenter Mustermenschen, die, so BILD, „mit ihrer Arbeit und ihren Ideen unser Land verändern“, bereicherte mich zuvörderst um eine Reihe neuer Wörter, die ich in runder Kleinmädchenschrift säuberlich in mein Vokabelheft eintrug: Catwalk-Gazelle, Latzhosen-Pirat, Twitter-Goethe, SPD-Generalwaffe. Hm, soso.

Unter allerhand Jungsschauspielerinnen und Herrenmodemodellen stach ein rötlich-semmelblondes, pausbäckiges Kleinkind (19 Monate) hervor, das auf dem Foto kindstypisch dümmlich und optimistisch in die sonnige Zukunft blinzelte und frappierende Ähnlichkeit mit dem Knäblein aufwies, das früher die Packungen von Brandt-Zwieback zierte. Vermutlich ein Wunderkind, denn es wunderte mich doch, wie man in derart frischem Alter schon mit seiner Arbeit und seinen Ideen das Land verändert; um der Wahrheit die Ehre zu geben, sah das Bübchen eher nach der Art Konzentration aus, die man ausstrahlt, wenn man erstmals auf dem Töpfchen sitzt und seinen Eltern unbedingt eine Freude machen will. Die erläuternde BILD-Bildlegende versicherte, es handele sich beim Erstmals-auf-dem-Töpchen-Hockenden um Amadeus (!) Becker, den vorerst letzten Spross von Boris Becker und irgend so einer Frau oder was. Ja und? dachte ich herzlos, ein behindertes Kind halt, was solls! Wieso wird DAS denn Deutschland verändern? Nun, BILD, die es wissen muss, weiß es auch: Das Kind hat nämlich, was man ihm gar nicht ansieht, „geniale Gene“! Weil es von einem einfältigen, zusehends schwer verlotterten, kognitiv massiv beeinträchtigten Ex-Filzball-Prügler und einem lebenden Kleiderbügel abstammt?

Während ich mir noch vorstellen kann, dass der geniale Töpfchen-Tropf dereinst eine Karriere als BILD-Redakteur einschlagen könnte, um dort geniale Formulierungs-Granaten zu drechseln, reicht meine Phantasie nicht hin, um mir vorstellen, was für eine Deutschland-relevante Zukunft Ferdinand Zvonimir (!) von Habsburg (14) verspricht. Der kleine Prinz besitzt außer einem korrekten Seitenscheitel noch die Qualifikation, als „zukünftiger Chef des Hauses Habsburg“ einer der „ehrwürdigsten Dynastien Europas“ (BILD) anzugehören. Das mag ihn evtl. dazu befähigen, dermaleinst eine Doktorarbeit abzuschreiben und transatlantischer Interkontinentalclown zu werden, der ehrenamtlich in einer amerikanischen Denkfabrik am Fließband steht wie Karl Theodor vonundzu, aber dass die „ehrwürdigste Dynastie Europas“, will sagen die dreimal verfluchten Habsgierer in Deutschland noch einmal eine Rolle spielen, nein, so grausam kann der Engel der Geschichte nun doch nicht sein, oder?

Mein depressiv-aggressiverer Anfall begann galoppierende Vehemenz anzunehmen, als ich ferner las, Deutschlands Zukunft würde gestalterisch, neben dem blonden Scheißerchen und dem kleinen Prinzen, auch noch von dem sprechenden Gemüsehobel Jimi Blue (!) Ochsenknecht bestimmt. Das ist dieser eine, enorm backpfeifengesichtige Sohn des mittelbegabten Glupschaugen-Dramatikers Uwe; der andere heißt Wilson Gonzales (!) und seine Schwester Cheyenne Savannah (!). Die Ochsenknechts gehören zweifelsfrei zu den ehrwürdigsten Proll-Dynastien wenn schon nicht Europas, dann doch von München-Grünwald, einem sauteuren Um-Gottes-Villen-Viertel, in dem Jimi Blue und Wilson Gonzales zu  VIVA-tauglichen Gettho-Strassenkids und Gangsta-Rappern heranwuchsen.

Unterm Strich liegt, glaubt man BILD, die Zukunft unseres Landes überwiegend in den Händen von Schauspielerschnepfen, Sportidioten und mittelprächtigen Show-Sternchen mit Prolletten-Namen, die ihre mittlere Dschungelcamp-Reife anstreben, mit anderen Worten: BILD lesen heißt sterben lernen, denn wer wollte in so einer Zukunft leben? Ich jedenfalls nicht. 

Abwesenheitsnotiz, mit guten Zitaten

31. August 2011

Hier geht es evtl. rund! Kraska ist moseln...

Es gilt unter Kennern nicht gerade als untrügliches Zeichen geistigen Überfliegertums, sich über das Wetter zu beklagen, ich weiß. Es wäre so, als wollte man über die Gravitation jammern, was ich aus schwergewichtigen Gründen zwar im Stillen auch manchmal tue, aber es ist halt dieses Allerweltslamento doch von so eklatanter Sinnlosigkeit und ein derart plattes Klischee, dass man gute Erziehung und korrekt gebügelte Lebensart eher dadurch unter Beweis stellt, dass man mit einem mild stoischen Lächeln über die unvermeidlichen Unbill des Erden-Daseins hinweg geht. Vielleicht ist es ein Vorurteil, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein britischer Gentleman jemals über das Wetter spricht. – Freilich gibt es zu jedem einer- auch ein andererseits.

In dem Film „Willkommen Mr. Chance“ (im Original: „Being there“), einem meiner zehn Lieblingsstreifen aus den späten  70ern, die ich  einst in Cihcago, Illinois, im Kino sah oder sehen und entziffern durfte (war ohne Untertitel!), spielt der legendäre Peter Sellers in einer seiner letzten Rollen einen tumben Einfaltspinsel von Gärtner, der nur eine Weisheit beherrscht: „Well, first there is spring, then you’ll have summer, which just follows autum, and after that – winter. Then spring again“. Diese Binsenweisheits-Worte spricht er aber mit solchem Ernst und so großer Emphase, dass alle Welt denkt, er meint das bestimmt irgendwie metaphorisch und als sibyllinische politische Anspielung; man hält es für ein Statement über Ökonomie und Marktzyklen, lädt ihn in TV-Talkshows ein und am Ende wird er damit Präsidentschaftskandidat in den USA. Damals eine super Satire, würde der Film heute nicht mehr funktionieren, weil die Behauptung, dem Frühling folge der bzw. ein Sommer, nicht mehr als Binsenweisheit gilt, sondern als heikle, unsichere und höchst umstrittene Prophezeiung.

Das Blöde ist: Ich bin Sternzeichen Salamander, von der Physiologie also wechselwarm, und hatte eine längere sonnig-warme Phase fest eingeplant, um leichtblütig über die bevorstehende Herbst- und Winterdepression zu kommen. Stattdessen regnete es mir monatelang kühl und herzlos ins Hirn. (Wer sich Sorgen um mich machen will, sollte es JETZT tun, bitte. – Vielen Dank, sehr freundlich.) Die Depression erhebt ihr träges Haupt. Bang deklamiere ich für mich den armen Hölderlin: „Weh mir, wo nehm ich, wenn
/ Es Winter ist, die Blumen, und wo
/ Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde?
/ Die Mauern stehn
/ Sprachlos und kalt, im Winde
| Klirren die Fahnen.“ So sieht es doch aus! Vor lauter Fahnenklirren und Blumenvermissen ist mir schon jetzt ganz blümerant zumute.

Erstaunlicherweise war es der große Elisabethanische Unterhaltungsschriftsteller, theatralische Räuberpistolen-Dichter und Prophet William Shakespeare, der meinen Zustand vorausahnte, als er seinen Narren („Was ihr wollt“) folgenden Singsang anstimmen ließ: „Und als der Wein mir steckt’ im Kopf / Hopheisa, bei Regen und Wind! / Da war ich ein armer betrunkener Tropf; / Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag.“ – Yes, Sir, so kann man es ausdrücken! Hier im Westen regnet in der Tat der Regen jeglichen Tag. Erst war er warm, der Regen, dann fröstelig kühl, jetzt wird er schon empfindlich kalt. Ich will nicht übertreiben, aber – ist schon mal jemand am Wetter gestorben? Darauf ankommen lassen werde ich’s grad nicht, Freunde – weshalb ich zu einem verzweifelten Mittel greife: Obwohl ich diese Tätigkeit perhorresziere: Ich reise! Und zwar ab!

Bloß an die Mosel zwar nur, und lediglich ein paar Tage, weswegen die Gattin schon ätzt: „Das wird bestimmt mehr so’n Rentnerurlaub!“ – Sicher, doch „immerhin“, repliziere ich schlagfertig, „wandern wir noch nicht durch den Harz, du mit blauem Popeline-Blouson und ich in straff gebügelter beiger Anglerweste!“ Kann nichts schaden, der Gattin schon mal die eheliche Zukunft auszumalen; die stillen Tage im Alzheim.

Wenn also hier einige Tage nichts Neues unter der Sonne (Ha!) erscheint, dann, weil ich moseln gefahren bin. Entweder herrscht dort eitel Sonnenschein, oder ich stecke mir enorme Mengen Wein in den Kopf. Vielleicht, begeisterungshalber, auch beides. Danach habe ich mit Sicherheit SAD („seasonal affective disorder“), wofür zumindest die Klassiker noch angemessenes Verständnis hatten. Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, werde ich von dem romantischen Moselort keine Fotos machen, keine Klöster und Burgen beschreiben und auf die Belobigung von Restaurants und Weinprobierstuben strikt verzichten. So viel Noblesse muss sein. Indes, falls ich dort, in der Fremde, dem wahren Leben begegne, dann lass ich es von euch grüßen. 

Aus dem Tagebuch eines Insomnikers (Unternehmens-Rater)

30. Mai 2011

Blauer Traum: Eine Ladung Drogerie

Heute wieder unruhige Nacht. Bei Hochsommer im Mai ja kein Wunder. Extrem langweiligen Traum gehabt: War mit meiner Ex-Frau (Ex seit 20 Jahren!) in Moskau. An einer belebten Trambahn-Haltestelle stiegen wir versehentlich in einander entgegenlaufende, jeweils hoffnungslos überfüllte Züge, sodass wir uns umgehend aus den Augen verloren. Quälende Frage (im Traum) – was jetzt tun? Aussteigen und auch in die entgegensetzte Richtung fahren? Aber wenn sie nun wiederum das gleiche ebenfalls tut? Dann verpassen wir uns ja wieder! Ausweglose Zwickmühle mit Ex-Frau erinnert mich an Samuel Becketts glorioses Dilemma: »Ein Mann liegt im Bett und möchte schlafen. Eine Ratte ist hinter der Wand, an seinem Kopfende, und möchte sich bewegen. Der Mann hört, wie die Ratte sich rührt, und kann nicht schlafen, die Ratte hört, dass der Mann sich rührt, und wagt nicht, sich zu bewegen. Sie sind beide unglücklich, einer rührt sich, und der andere wartet, oder beide sind glücklich, die Ratte bewegt sich und der Mann schläft.« – Ich denke, dass sie denkt, das ich denke, dass sie… usw. – Des weiteren (im Traum) tagelang ziellos durch Moskau gelaufen, das ein bisschen aussah wie Gütersloh oder Pinneberg. Meine Ex-Frau schließlich vor einem Moskauer Schnellgericht wieder getroffen. Man machte mir heftige Vorwürfe, was ich extrem ungerecht fand. (Warum kann denn die blöde Kuh nicht in den richtigen Zug steigen? Warum ist das denn meine Schuld?!)

Im Traum (?) dennoch depressiv geworden, weil ich immer alles falsch mache. Zerknirscht über meine heillose Unverbesserlichkeit nachgedacht; ein bisschen geweint.

 Nach schlafloser Nacht des Morgens mit viel adstringierendem Rasierwasser ein frisches Gesicht gezaubert, weil Besuch angekündigt war: die Polizei! Mensch, alles ist anders als früher: Eines Polizisten ansichtig, werfe ich nicht mehr mit Steinen oder ergreife die Flucht, sondern biete mit vorzüglicher Hochachtung Kaffee und stilles Wasser an! Der Wille zur Kooperation blitzt mir aus den bürgerlich gebügelten Knopflöchern! Geradezu freundschaftliches Gespräch mit dem uniformierten Drei-Sterne-General; er kam in vollem Ornat, als Geddo-Spezialist (zum Glück kein uninformierter Ununiformierter!) mit Schirmmütze und kleidsamen Sterne-Applikationen auf den Schultern.

Spielten dann zusammen Unternehmens-Rater: Was das wohl für ein Unternehmen sei, das neuerdings in meiner Ex-Stammkneipe residiere? Die Gäste kommen im Minuten-Takt, bleiben aber immer nur wenige Augenblicke im Lokal. Vielleicht, weil es da gar nichts zu trinken gibt? Wir Geddo-erprobten Kriminalisten kamen auf ein passendes Gewerbe und waren uns einig: Das wird ein Drogerie-Markt sein! Wieder stellte sich, diesmal in echt, die Frage: Und was jetzt tun? Der Mann will schlafen, die Ratten wollen sich bewegen. Ein Uniformträger kann ja nun schlecht in einen Coffee-Shop gehen und nach Gras fragen. Die sagen glatt, Gras wär grad aus! (Die Lösung des Problems wird aus ermittlungstaktischen Gründen nicht verraten!) Hoffe jetzt auf Razzien, weil, die finden bei uns im Viertel immer mit vollem Einsatz statt, mehr Bewaffnete als bei den Bad Segeberger Karl-May-Festspielen, Schwarzvermummte mit MPs usw., wie im Fernsehen. Wenn ich’s fotographiert kriege, lasse ich alle teilhaben! Großes Indianer-Ehrenwort!

Habe dem Beamten, leutselig geworden, überflüssigerweise noch gebeichtet, dass ich vor dreissig Jahren selber gekifft hätte; unsicher, ob das schon verjährt ist, hab ich vorsichtshalber hinzugefügt, ich hätte das Zeug aber nie vertragen. Und das stimmt wirklich! Andere hatten von Dope & Gras die herrlichsten Bewusstseinsexaltationen, lediglich mir wurde nur schlecht, dann wurde ich schläfrig und am Ende hatte ich tierischen Hunger. Wegen solcher Effekte eigens teure Drogen zu konsumieren, halte ich heute für unökonomisch. Habe eben gelernt, mit meiner Behinderung zu leben (THC-Unverträglichkeit).

Sonst an der panisch japanisch-spanischen Front alles ruhig. Still schmelzen die Kerne, und die Gurken gurken halt vor sich hin, oder, um mit Lewis Caroll („Alice im Wunderland“) zu sprechen: Sie rottern gorkicht im Gemank. – Sind wir noch zu retten? Wir sind ja die Prügelknaben des Erdballs: Man ascht mit seinen Vulkanen auf uns herum, schickt uns Fisch-Stäbchen, die im Dunklen leuchten und eine EHECrise haben wir auch noch! Wie es in Kommentarspalten gerne heißt: „Armes Deutschland!“

Der Tag ist rum. 23.00 Uhr, und noch immer 26° C. Ein afrikanischer Wind weht. Ist DAS der Grund, warum GERADE JETZT soviel Schwarze auf der Straße sind? Eine Frage, die ich ohne Polizei klären muss. Genauso wie das Problem, ob das Schlafgesetzbuch mir für heute erholsamen Nacht-Schlaf annonciert. Nach der doofen Moskau-Tour wär das mehr als gerecht.  Na ja, zur Not nehme ich mir einen richtig teuren, guten Schlafverteidiger, wie der wüste Kachelmann, der ja bis morgen (und danach, wie es aussieht, mangels Beweisen ohnehin) als unschuldig zu gelten hat.

Liebes Tagebuch, entschuldige: So viele Fragen, so wenig Antworten. Und apropos Drogen: Aus Serbien-Montenegro avisiert man mir eine frisch eingetroffene apotheken-frische Lieferung Viagra. Soll ich zuschlagen? Ach egal, ich mach eh alles falsch! Nur blöd, dass ich deswegen nicht schlafen kann… Ich seh schon, dieser Text findet keine Pointe. Tut mir leid, Ihr Lieben! Wieder ein ereignisreicher Tag, an dem nichts passiert ist. Aber wenn mal echt was los ist, Leute! Dann seht Ihr hier Sterne splittern! Bis dahin: schlafbedürftig, Euer Magister K.

Polaroid aussm Geddo (Gott und ich sehen uns bei „Hart aber fair“)

3. April 2011

Die Gattin und ich gucken "Tatort"...

Nachtschicht im Geddo. Hatte, masochistisches Sonntagsritual, „Tatort“ geguckt bei der Gattin. Nach gefühlten fünf Stunden Thriller fragt eine Figur im Film verzweifelt: „Warum dauert das denn so lange?!“ Die Gattin und ich wechseln einen bedeutsamen Blick mit augenbrauen-induziertem Ausrufezeichen. Wir sind mal wieder Waldorf und Stattner, die ätzenden Grantler aus der Muppet-Show, kommunizieren allerdings nicht mehr durch Aperçus, sondern schon nur noch durch bloßes Augenrollen, verstehen uns aber dennoch blendend. – Dann halt nett „Gute Nacht“ gesagt und aufs Rad. Das Wohnbüro wartet ja, mit Arbeit zudem. Der Magister ist im Dienst. Muss noch einen Vortrag schreiben über „Aufklärung“. – Die Roma im Viertel schleppen den letzten Müll auf die Straße; die Ratten machen sich dran, alles – in den Keller der verschimmelten Bruchbude – wieder herein zu tragen. Ex- und Import, wie immer. Und wie immer frage ich mich, woher, zum Teufel, sie den ganzen Müll herhaben, eine Frage, die, wie die nach Gott, aus metaphysischen Gründen unbeantwortet bleibt. Zur Strafe für einen einzigen sonnigen Frühlingstag (gestern) regnet es jetzt natürlich in Strömen. Der Regen hat gewartet, bis ich auf dem Fahrrad bin. Hundert Meter und ich bin durchnässt. Super. Die Frage wiederum, womit ich das bitte verdient habe, bleibt ebenfalls offen. Gott und ich treffen uns nächste Woche bei „Hart aber fair“.

Mist, ich will bloß nach Hause, aber am Platz vor der Bude liegt „laughing Joe“, wie ich ihn mal getauft habe (obwohl er oft gar nicht lacht, sondern seine Wut ungezielt in die Nachbarschaft brüllt), unser Stadtteilpsychotiker halt, im schlammigen kalten Dreck und lächelt versonnen. Er  lächelt noch wegen der Sonne von gestern, weil er nämlich nach einem Drogenunfall immer ein bisschen zeitverzögert reagiert. Er ist indessen, was ihm erst morgen klar geworden sein wird, bereits kurz vorm Delirium tremens, außerdem total dehydriert und derbe auf Entzug. Schnellschnell einen mittleren Jägermeister gekauft, medizinische Nothilfe geleistet, Filterzigaretten zugesteckt, die ich zu diesem Zweck mit mir führe und dann dem Joe, ich kann ein verdammter Zyniker sein, noch eine schöne Nacht gewünscht. Er lächelt mir nach, meint mich aber nicht (Gott?).

Das Licht an meinem Fahrrad ist kaputt. Ich werde von einem Daimler mit bulgarischem Kennzeichen in der Kurve beinahe umgenietet. Mit dem Licht hatte das aber nichts zu tun. Mit Licht hätte er mich auch über den Haufen gefahren. Gott, vielleicht mit schlechtem Gewissen, rät mir, geistesgegenwärtig einen Haken zu schlagen. Davon gekommen! Beschämt Undankbarkeit gegenüber Gott registriert. Daheim versuche ich, mein Fahrrad in den Hof zu bugsieren. Dort geistert seit Stunden Pitti herum, der ehemalige Hausbesorgersgatte, der, seit seine Frau kürzlich an Darmkrebs verschied, auf würdige Weise von der Rolle ist und still, aber zielstrebig an seinem Untergang arbeitet. Er gespenstert mit wattigem Grinsen durchs dunkle Treppenhaus und referiert mir ungefragt seinen Tagesablauf: „Ehrss geh ich nache Bude, denn bin ich inner Kneipe, dann geh ich nochma anner Bude, denn wieder Kneipe und aahms nomma Getränke holen. Gezz geh ich ma rüber zu die Serben, aber, weisse, ich mach die Musik da nich so…“ Einwurf Magister: „Ich weiß, Pitti, ich weiß!“ „Und denn…“ verrät mir Pitti, dessen Nase eine ungesunde blaue Färbung angenommen hat, „denn zieh ich misch den Schlafanzug an und trink noch’n Bier! Muss morgen um sieben nachm Arzt! Wegen meim Gesicht!“ Ich grüble, durchaus auch in eigenem Interesse, was für Ärzte einem ab einem gewissen Alter mit dem Gesicht zu helfen vermögen, finde aber zu keinem Ergebnis.

Während ich mein Fahrrad verstaue, starrt Pitt im Hausflur auf seinen Briefkasten. Leise resigniert flüstert er mir zu: „Ich krieg ja nie Post. Die Post is immer für die Frau. Aber die is doch tot!“ Ich pack mein Herz auf Eiswürfel und sag: „Yo, Pitti, so ist das wohl. Denn mal noch einen schönen Abend!“ – Ich bin wirklich ein Herzchen! Oben in der Mönchsklause gieße ich mir ein Getränk ein und rufe verabredungsgemäß noch mal kurz die Gattin an. „Na?“ sagt die, „gut nach Hause gekommen?“ „Klar“, antworte ich, „keine besonderen Vorkommnisse“. Dann sind Gott und ich allein. Wie immer haben wir uns nicht viel zu sagen. Schätze, Er und ich werden wieder keine gute Nacht haben.

 

Der Deutsche ist ein großes Kaninchen auf der Welt

30. März 2011

Sofort abschalten!

„Der Mensch“ sei, so schrieb einst Nobelpreisträgerin Hertha Müller, eine rumänische Redensart zitierend, „ein großer Fasan auf der Welt“. Mir hat das schon immer irgendwie eingeleuchtet. Der Deutsche, erlaube ich mir, zu ergänzen, ist hingegen eher ein enormes Kaninchen. Das Volk der Jod-Tablettenkäufer, Knut-Betrauerer und Panik-Bürger hat eine zarte, empfindsame Seele. Furchtsam zitternd wittert es in alle Richtungen, hektisch schnuppert, twittert und tickert es sich Gefahren zu, hoppelt im Zickzack, sucht manisch nach Rettung, und fürchtet sich depressiv furchtbar vor dem Tod. Das Böse lauert ja überall. Apokalyptische Reiter: Grippe, Atom, Klon, Dioxin, Islam und was noch alles! Anderen geht das auf den Sack, uns unter die Haut. Nie bekommen wir mal, was wir so dringend benötigen: Ruhe. Unserer Kernkompetenz, Mümmeln und Rammeln, können wir nur noch marginal nachkommen, denn wir brauchen erstmal INFORMATIONEN. Mit aufgestellten Löffeln gieren wir nach Aktualität: Wo müssen wir hin oder weg, Ausschüsse bilden oder Menschenketten knüpfen, Sachen boykottieren, Vorsichtsmaßnahmen ergreifen? Man kann doch nie wissen! Was, verdammt, dürfen wir denn noch essen? Wenn da nun Atom drinne ist oder Gene? Vegetarier dürfen doch keine Gene essen!

Selbst das ziellose Hoppeln wird zum Problem. Wir hängen am Tropf medialer Aktualität. Raserei des blinden Augenblicks. Aktualität ist für das Kaninchen das, was bedrohlicherweise gerade passiert, aber nicht zu begreifen ist. Die online-Medien antworten mit dem liveticker, dem „Wahlfolgen-Ticker“ (!), „Eilmeldungen“ und breaking news sowie jetzt, neuerdings in SPIEGELonline, dem „Minutenprotokoll“.  Mindestens minütlich müssen wir ja wissen, woher der Wind weht und was Böses oder Schmutziges er für kleine Nagetiere bringt. Wir brauchen Frühwarn-, nein, sogar Brühwarm-Systeme! Sonst bleibt keine Zeit mehr fürs Wegducken. Andere Nationen grinsen und spötteln über die German Angst. Aber die sind auch keine Kaninchen, oder, um dass Personal des Kinderbuchklassikers „Winnie te Pooh“ zu zitieren, Ferkel. Ferkel ist ein etwas großmäuliges, aber extrem furchtsames Tierchen. Als es zur Jagd auf den rein imaginären „Heffalumpp“ geht, sorgt sich Ferkel nicht darum, was ein „Heffalumpp“ überhaupt ist, sondern grübelt bloß: „Ist es auch gut mit Ferkeln?

Manchmal zwickt die Medien der Übermut, und sie ziehen auf die Straße, um ihr Publikum zu veralbern. So fragten kürzlich ZDF-Reporter in der Einkaufszone, was die Leute denn jetzt von der Braunschweiger Atom-Uhr hielten. Eine gut gekleidete, eher bildungsbürgerlich wirkende Dame, von der German Angst schon ganz grau-grämlich, greinte in die Kamera: „Ja, die muss man jetzt wohl auch abschalten…“ – Wenn ihr mich fragt: DAS ist deutsch!

PS:  Vielleicht trage ich zur Kalmierung der Bevölkerung bei, wenn ich desalarmierend beruhige: Die Gefahr einer Kernschmelze besteht bei der Braunschweiger Atom-Uhr kaum. Sie abzuschalten empföhle sich ohnehin nicht. Für Länder ohne natürliche Zeit-Ressourcen ist Atom-Zeit leider unverzichtbar, sonst bleiben irgendwann die Kuckucksuhren stehen, Eier könnten nicht mehr auf den Punkt gegart werden und alle verschlafen. Auch erneuerbare Quellen wie Sand- und Sonnenuhren können den enormen Zeit-Bedarf einer modernen Industrie-Nation nicht decken!

Über Samuel Beckett

26. Mai 2010

Samuel Beckett 1906-1989 (Foto: Jane Brown)

Bestseller waren Becketts Romane gerade nicht, sind es auch zu keiner Zeit geworden. Es sind Romane, wie das Jahrhundert sie verdient. Beim breiteren Publikum eilt ihnen der Ruf voraus, schwierig, langweilig, sogar unlesbar zu sein. Ein Vorurteil, das sich bei der heutigen Lektüre nicht unbedingt bestätigt. Becketts Romane sind voll von abgründigem, rabenschwarzem Humor, sie entfalten eine ganz eigentümliche, bizarre Poesie und der illusionslose Sarkasmus des Autors erlaubt diese ungerührten, hellsichtigen und zwingenden Einblicke in das Groteske, Heillose und Verstörende der menschlichen Existenz, wie sie zuvor nur Dostojewski und Kafka zustande gebracht haben. Beckett ist im Grunde ein großer Realist: seine Helden, Lebensversehrte und Halbkrüppel, sind allesamt so gut wie tot, stammeln eine Menge albernes sinnloses Zeug und begehen kraftlose, konfuse Handlungen, die zu nichts führen – sind sie also nicht wie du und ich? Der Blick auf die condition humaine ist nüchtern und unverstellt, aber immer hochkomisch. »Nichts ist komischer als das Unglück«. Man kann die Welt anders ansehen als Beckett – aber sicher nicht ehrlicher und illusionsloser.

Das Personal des Becketschen Prosawerks besteht aus Virtuosen des Unglücks, seltsam eigensinnigen, gleichmütigen Vergeblichkeitsartisten und Sinnverweigerern, verkrüppelt, von Schmerzen geplagt – Randgänger und komische Heilige, um ihr Ziel gebrachte Sucher und seit Ewigkeiten Wartende. Becketts frühe Romane sind Meisterwerke artistischen Sprachwitzes, abgründige Grotesken von einem Humor, so schwarz – um eine Lieblingssprachfigur von Beckett zu benutzen –, so schwarz also, daß schwarz schon nicht mehr das richtige Wort ist…

JETZT NEU IM „denkfixer„-BLOG (http://reinhardhaneld.wordpress.com):

Ein Vortrags-Text, der die Prosa-Werke Samuel Becketts vorstellt und erläutert – als PDF-Datei zum kostenlosen Downloaden!

Jour Fixe (10): Die Entrückung des Traurigkeitslehrers Winterseel. Detmold und das Weinen im November

24. November 2009

Satans Neffe im Griff des Advenzkranztanzes (Foto: http://www.glogster.com/media/ 2/3/24/72/3247277.jpg Das Bild ist möglicherweise urheberrechtlich geschützt.)

Im November, dem verregneten Wonne-Monat der tausend Graustufen und der untoten Gedenktagsseelen, findet sich Arnold Winterseel, mein verehrter alter Traurigkeitslehrer, gern im Stadium einer heiter-schwebenden, irgendwie fast bekifft anmutenden Morosität und höheren Subtilverzweiflung, einem illuminierten Zustand, in dem nachtschwarze Melancholie unversehens umschlägt in einen unberechenbar hakenschlagenden Übermut, eine an den Festungen der Götter rüttelnde Hybris, in deren Schwall, Mulm oder Qualm das Irrsinnigste plötzlich das hübsche Gesichtchen der Vernunft annehmen konnte, für wenige, erleuchtete Augenblicke.

In solchen raren Momenten besinnungsfrei abhebender Erhabenheit finden es Leute plötzlich eine gute Idee, sich die Füße 20 cm oberhalb des Knöchels abzusägen und sauber parallel ausgerichtet in den Schuhschrank im Flur zu stellen; sie schenken ihren greisen Müttern Gutscheine für einen VHS-Kurs in Expressivem Nackttanz oder begehren, im gebenedeiten Gnadenstand der Volltrunkenheit wohl verwahrt, völlig unvermittelt des Nächsten Weib Adelgund, in dem sie beim Nachbarn förmlich um deren Hand anhalten. Eine verrückte Zeit! Das Schicksal gähnt verlegen, hinter einem die Gespenster des Totensonntag, vor einem reißt schon das tückische Weihnachtsfest die vielfach bezahnten hundert Mäuler auf. Schweflig grinsend zündelt Bezelbub Gemütlichkeitsglühlichter und tanzt mit Behemoth, dem Neffen des Satans, den Advenzkranztanz.

Ich sehe Doktorvater Winterseel noch vor mir, die Haut gelblich-transluzide und papiernen wie jenes Maispapier der frühen, dick-schwarzen Gitanes-Zigaretten in verrauchten Pariser Existenzialisten-Bistros, wo Schönschreib-Schenie Schang-Pol Satter und Simone de Boudoir sich leidenschaftlich anqualmten und brillante Blicke in verschiedene Richtung warfen, – Winterseel also, wie er elegisch und traumverloren in sich hineinhorchend seinen geliebten Poetry-Schluchzer Renée-Marie-Louise Rilke rezitierte:

„Die Dinge sind Geigenleiber,
von murrendem Dunkel voll,
drin träumt das Weinen der Weiber,
drin rührt sich im Schlafe der Groll
ganzer Geschlechter…“,

worauf er sich, zu unsrer grenzenlos sperrangelweit mauloffenen Verblüffung Knall auf Fall verabschiedete, und zwar, wie er noch erklärte, um eine länger ins Auge gefaßte  und bei alltours angelobte Albtraumschiffkreuzwallfahrt nach Detmold anzutreten. „Ha, Detmold! Klar, Detmold!“, krähte unser Einserjurist und von-Guttemberg-Lookalike Sven Aaron Mangold, primanerhaft die Streberfinger schnipsend – er hatte wohl auch von diesen Plätzchen probiert, die Miß Cutie mit ihrer Milchschwester Soffie aus Amsterdam gebacken hatte – „Detmold! Klare Anspielung! Grabbe!“  Hilfesuchend warf ich fragende Seitenblicke auf meinen Freund Fredi Asperger, der zwar ein Autist ist, praktischerweise aber auch einer der sogenannten idiotes savantes, die als wandelnde Logarhitmentafeln, Primzahlenverzeichnisse oder Konversationslexika unterwegs sind. „Christian-Dietrich Grabbe, Schnorrer, Säufer, Nervensäge, Literaturavantgardist des 19. Jahrhunderts. Soll gesagt haben: ‚Einmal auf der Welt, und dann als Drogist in Detmold! – was man später als Frühform nihilistischer Gottesanklage gewertet hat ...“, setzte mich Freund Fredi flüsternd ins Bild.

Während ich über diese Mitteilung noch nachgrübelte, schwoll im Salon bestürztes Gemurmel an: Winterseel war ohne weiteres Wort* (*bzw. soll sein letztes Wort gelautet haben: „Folget mir nicht nach!“) durch die Tapetentür entwichen und entrückt, und hatte uns somit ohne weiteres Beratungsangebot oder Therapieversprechen allein gelassen. Wie nun? Und wie weiter? „Mhhmmm, vlleich eersmoah nbüschen ein’ antütern?“ schlugen Hauke und Hinnerk, die Aquavitzwillinge, schüchtern vor. Ihre verschwiemelten Gesichter, die wie Synchronschwimmer in perfekter Harmonie einen Ausdruck glühweingetränkter Zuckerwatte angenommen hatten, verrieten jedoch, daß sie bereits, und zwar ohne ersichtlichen Nutzen für uns, ziemlich stark „angetütert“ waren, sodaß ihr Vorschlag, bei manchen nicht ohne Bedauern verworfen wurde. Unerwarteterweise war es dann ausgerechnet Miß Cutie, deren Attraktivität sich nach ihrer Nasenbegradigungs-OP ins nahe zu Überirdische gesteigert hatte und bei jüngeren Mitgliedern des Jour Fixe oft genug Anfälle priapistischer Konvulsionen auslöste, Miß Cutie löste sich jedenfalls plötzlich aus der ziemlich schwüllesbischen Umarmung ihrer sinnlich-innigen Milchschwester und durchschnitt unser stickig-verstocktes Schweigen mit ihrer glockenhellen Hochfrequenzschneide-Stimme: „Leute! Hört mal! Was wir brauchen, in dieser dunklen, bedrängenden, gemütsverdüsternden Zeit, dassis… Rauschgold! Rauschgold, Leute! Mut! Courage! Allons enfants! Lasset uns ausschwärmen, um Rauschgold zu schürfen!“

Halb schon getröstet, wenn auch nicht ohne eine gewisse wattige Leere in den Köpfen stob die Versammlung auseinander, um die Parole des engelhaften Beautie-Kids zu befolgen. Allerdings, wird das Projekt, die Mission gelingen? Wir Deprimierten, wir Prokrastinierer, ADSler, Autisten und elegische Borderliner: Wo finden wir denn Rauschgold, jetzt, im Schluchzen der krass naßkalten Novemberschluchten?

Fredi Asperger und ich nahmen die U-Bahn-Linie 7, ein Umweg, aber dafür genügend Zeit, die Wange jeweilen an die Schulter des Freundes gelegt, zu weinen, viel, ausgiebig, ja sättigend zu weinen. Wir weinten, wie es nur Männer vermögen: entschlossen, rückhaltlos und offensiv. Ach, das Weinen im November!

Vierzehn Arten, den Regen zu ertragen

23. Juni 2009
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...und der Regen regnete jeglichen Tag

EINE METEOROLOGISCHE ELEGIE IN GRAU-MOLL

Soundtrack: Hanns Eisler, „Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben“, Kammer-Suite für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Klavier, op. 70, (1941), Arnold Schönberg zum 70. Geburtstag

 Der Wetterbericht: Über Wien, um Wien herum und an der Wien entlang regnet es seit 49 Stunden ohne Pause, ohne Luft zu schöpfen oder neues Wasser zu holen, es regnet ruhig, sehr ernst und stetig, gleichsam wie selbstbewusst, also ergiebig und überaus gelassen, mithin nicht etwa leidenschaftlich, platzregenhaft, nicht sintflutend, nicht wie der Zorn Gottes, in Wasserfarben gemalt, sondern in der ausdruckslosen, mechanischen Gleichgültigkeit einer Duschbrause, unter der ein am Schlaganfall verstorbener Badender den Hahn nicht mehr hat zudrehen können, sodaß seine seit Tagen gnadenlos benetzte und begossene Haut bereits einen grünlichgrauen Farbton ungesunder Wasserleichenhaftigkeit annimmt; ein Regen ohne Melodie, ohne An- oder Abschwellen, ohne Modulation, bloß so ein schlichtes, maues, schauriggraues Schaurauschen: drucklos, aber üppig überlaufend lassen die fetten Wolken einfach unter sich, einen gewissermaßen inkontinentalen Regenwaldregen, der zum Fort- und Fortregnen gleichsam regional verpflichtet ist; ein im übrigen kühler, nässender, erkältender Regen ist das, nicht etwa ein lauer, sommerlicher, duftigerregender Erotik-Regen, der einen dazu treiben könnte, barfüßig und kindisch lachend, mit jungen, leicht bekleideten Mädchen über Wiesengründe zu hüpfen, also kein kleiner Frühstück-bei-Tiffany– oder gar Singing-in-the-rain-Regen, sondern eine auf längere Sicht eher frühherbstlich Frösteln machende 400%ige Luftfeuchtigkeit aus undurchdringlichem, vielfach tiefgestaffeltem Himmelsgrau, eine Form meteorologischer Melancholie generierend (regen-erierend?), wenn nicht schon Depression, ein nicht endenwollender feuchter Alptraum, denn, wer jetzt keine Arche hat, der baut sich keine mehr, dem regnet es ungeschützt ins Gemüt, dem hilft nicht Knirps noch Pellerine mehr, allenfalls der Besitz von Friesennerz und Gummistiefeln, doch die sind – wir hatten auf den Sommer gewettet – fern, daheim, jenseits des Regenbogens, der hier, mangels Sonnenlicht, nicht zu entdecken ist, kurzum,  es plätschert, plästert, pladdert, pütschert, pisst, pullert, pieselt, its raining cats and dogs, einen gradlinig faden Schnürlregen, der die Siebenschläfer hinter den sieben Bergen in ihren Schlafnestern ertränkt, ein in seiner Leidenschaftlosigkeit und Indolenz gegenüber allem Lebendigen schon geradezu erhabenes, grandioses Scheißwetter, so schlecht, das Wetter schon nicht mehr der richtige Begriff ist, denn Wetter kann sich per definitionem ändern, aber hier regnet es fürderhin einen jeglichen Tag, noch und noch, für und für, hundert Jahre Regenwetter, der ungnädigen Himmel weitoffene Schleusen oder Unterhosen changieren zwischen stein-, blei- und blaugrau, was sagt uns das, nun, Gott hat eine feuchte Aussprache, ihm ist tausendjähriges Pisswetter wie ein Schauer am Nachmittag, amen, jetzt bricht der Tag an für die Stiefkinder der Evolution, modrige, morose, morastige Molche und mollige Mollusken erheben das Haupt, quirlige Quallen quellen qualvoll quietschend unter quarrenden Quadratlatschen, bei jedem Schritt, Fische flösseln schlüpfrig kichernd durchs Treppenhaus, pelziger Schimmel schlägt auf in den Vorstädten, Landunter, landunter! unwetterwarnt das Unterwasserwarnamt blubbernd, Blasen steigen auf zwischen fallenden, stürzenden, rieselnden, rinnenden Tropfengüssen (gießt es noch oder schüttet es schon?), alles fließt, panta rhei, sickert, strömt, löst sich, sprudelt, strudelt, schäumt, schlammschlawinert schneckenschleimig matschig patschend, Rinnen, Gräben, Bäche, Flüsse nährend, das Wassermannzeitalter einläutend, einnässend, apathisch aquatisch, eine chinesische Wasserfolter, water boarding, in submariner Marinade Badende waten vage winkend ins Uferlose unwägbarer Feuchtgebiete, hinab in den sumpfigen Schoß der Urmutter, die Stufenleiter der Wesen wieder abwärts, zum Regenwurm, zum Unwettergeziefer, zum Geschmeiß und Geschnetz, zum initialen Originalurschleim, zum Geisseltierchen, zum Naßzeller, und weiter noch, bis dahin, wo das Urmeer den Urkontinent Gaia umspült mit Milliarden Tiefdruckgebieten…

Ich glaube, ich leg mich wieder ins Bett.