Die Reise nach Paderborn (II)
„Bleib einfach ganz ruhig und versuch, wie ein Paderborner zu gucken“ befahl die Gattin, während sie den Wagen kaltblütig auf einen Anwohnerplatz setzte. Ich gab mein Bestes, schnitt ein grobschlächtiges Kartoffelgesicht und so getarnt stürzten wir uns voll teilnehmender Beobachtung in das Gewusel der Eingeborenen. Die Gassen um den Dom waren beige vor Menschen. So viele Anglerwesten an karierten Rentnerbäuchen! Heissa! Und soviel glutrote westfälische Quadratschädel! Die ortsübliche Bevölkerung hockte nämlich bereits in der prallen Sonnenglut auf Bänken rund um den Dom und widmete sich ernst und methodisch dem Verzehr von Bier, Wurst und Pumpernickel, eine närrische (neuntägige!) Woche in Trance, Dusel und Schwurbeldreh vorbereitend bzw. einläutend – wir waren nämlich versehentlich geradewegs in den Beginn des Liborifestes hineingeraten, was für Ethnologen natürlich ein unbedingtes must go hin darstellt. Liborifest, hm, wie soll man das erklären?
Die Padereingeborner erzählen es in etwa so: In ihrem Dom verwahren sie seit eh und je einen alten, mordsklotziggroßen goldenen Karton. Darin befinden sich, so glaubt man jedenfalls, nachgucken hat sich länger keiner mehr getraut, die Knochenreste eines gewissen Herrn Liborius. In grauer Vorzeit war der mal was, Bischof oder so, genaueres weiß man da nicht. Was er jetzt im einzelnen gemacht hat, um durch die Heiligkeitsprüfung zu rutschen, ist auch nicht weiter bekannt. Sind da nicht wenigstens ein paar Wunderheilungen fällig, etwas Bi- oder Trilokation sowie eine Prise Martyrium? Egal, den Stamm am Ufer der Pader ficht es nicht an, dass ihr Stadtpatron ein nur gerade mal knapp mittelbedeutender Kleinheiliger ist. Ist ja schon Wunder genug, dass er da überhaupt drin ist, in der Schatzkiste. Einmal im Jahr nun holen die Stammesältesten oder Kirchenfürsten diesen Heiligen Kasten aus dem Dom und tragen ihn feierlich durch die Stadt spazieren, natürlich mit allerhand Prunk, Pomp und Fisimatenten.
Vorneweg schreiten Würdenträger mit spitzen Hüten, grünem Federkopfschmuck oder roten Kappen und goldenen Wanderstöcken, es folgen die in Ostwurstfalen endemischen Schützenbruderschaften, dann div. Blaskapellen und sonstige honorige Volksabgeordnete im Sonntagsstaat. Man darf davon ausgehen, dass Choräle zu Gehör gebracht werden, ferner, zum Höhepunkt, der „Libori-Tusch“, der den Heiligen Brimborius quasi anwesen lässt. So heißt das auf Paderborner Theologenplatt. Das darf man sich aber nicht so vorstellen, als würde er jetzt plötzlich aus der Schachtel schnellen und Hallodria treiben – die Anwesenheit ist mehr eine zerebral-sakramentale bzw spirituell-mystisch-mirakulöse oder weiß der Geier was.
Abgerundet wird der fromme Paderspaß durch eine Kirmes mit Losbuden, Riesenrad und Kettenkarusell; man kann dort aber auch – die Paderer schlagen gern viele Fliegen mit einer großen Klappe – bei Bedarf Einkellerungskartoffeln und Gebrauchtwagen kaufen. Ferner bietet die Kirmes eine Abteilung namens „Klein Paris“. Sind das so Buden, wo Monsignore mal rasch mit der Marketenderin ins Stroh (die Kiste!) springt? Weit gefehlt. Hier wird feilgeboten, was sich der Ostwestfale unter „internationalen Spezialitäten“ vorstellt. Kartoffelbrei aus Hirse, Champignons à la Pompadour, Nonnenknusperkringel, schwedische Prälatenoblaten, schon der Duft, herrlich! Schlussendlich, wenn Leib und Seele einander selig Gute Nacht sagen, darf ein Feuerwerk nicht fehlen. Gelabt und getröstet geht man dann nach Hause und freut sich auf nächstes Jahr, wenn es wieder heißt: Libori-Tusch!
Man darf über solches Glaubensentertainment geteilter Meinung sein – ich jedenfalls bin es. Einerseits finde ich es begrüßenswert, wenn das sog. Volk sich die Pflege seines uralten Brauchtums angelegen sein läßt. Vom Mittelalter lernen heißt siegen lernen und speziell traditionelle Rituale, deren Sinn komplett abhanden gekommen ist, verleihen Stabilität und Bodenhaftung, wofür gerade der Ostwestfale ein stämmiges Exempel abgibt. Auf der anderen Seite hinterläßt es bei mir eine gewisse Mulmigkeit, wenn ich mir vor Augen führe, dass hier hundertausende ERWACHSENE Menschen, Lehrer, Busfahrer, Finanzbeamte und Gerichtsdiener, so beseligt wie traumverloren einer fabulösen Knochenkiste hinterher laufen und sich wunder was davon erhoffen. Ich meine, ein bisschen beunruhigend ist das schon, oder?
Wir standen entsprechend beklommen am Rande bzw. spirituell gewissermaßen etwas auf dem Schlauch. Mittun kam wohl nicht in Frage – aber wussten wir, was die Paderer mit Ketzern und Erzskeptikern anstellen? Immerhin war jetzt klar, warum wir kein Paderparkplatz ergattert hatten – St. Brimborius war los!
This entry was posted on 7. August 2013 at 6:24 PM and is filed under Die Banalität des Blöden: Zur Semiologie des Alltags, Theologoumena & neue Gottesbeweise. You can subscribe via RSS 2.0 feed to this post's comments.
Schlagwörter: Bischof, Dom, Gebrauchtwagen, Kartoffeln, Kirmes, Klein Paris, Libori-Fest, Libori-Tusch, Liborius, Ostwestfalen, Paderborn, Riesenrad, Tradition, Volk, Würdenträger
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7. August 2013 um 6:30 PM
Jaha, das wahre Wesen des „Paderborners an sich“ wird man erst zu Libori ansichtig… aber sehr gut beobachtet… Warste auch auch in der Gasse mit den fleichfarbenen „Unaussprechlichen“??
7. August 2013 um 6:39 PM
Nein, die sind mir entgangen – aber so etwas haben wir hier auch – auf dem Türkenmarkt!
7. August 2013 um 6:41 PM
Och… das ist doch das Beste am Markt, wenn die dralle Marktbesucherin am Stand das Fleischfarbene anhält, um zu schauen, ob das Vorjahresmodell noch ausreicht…
7. August 2013 um 9:59 PM
Beide Teile finde ich toll – kommt noch eine Fortsetzung?
8. August 2013 um 7:35 AM
„So viele Anglerwesten an karierten Rentnerbäuchen! Heissa!“
Was sollen die Silberpappeln sonst machen?
Wenn ich in meiner Stadt vom Greisentum und deren Rituale Abstand gewinnen möchte, fahre ich immer für ein paar Tage nach Berlin. Dort sieht man viele junge Menschen, die vermutlich gerne S-und U-Bahn fahren 😉
9. August 2013 um 8:46 AM
Gab es denn ein Protoköllchen? Oder werden am Heiligenfest kleine Sünden übersehen?
(Es gibt doch katholische Heilige für alles und jeden. Vielleicht gibt es auch einen für die Parkplatzsuche.)
14. August 2013 um 10:18 AM
Danke für die Fortsetzung. Und ob es ein Knöllchen gab, interessiert mich auch. „Beige vor Menschen“ – wie treffend, herrlich! Aber nicht nur die Paderborner laufen seltsamen Gegenständen hinterher bzw. haben solche Bräuche…
14. August 2013 um 6:22 PM
Nein, Gott (!) sei Dank: Kein Knöllchen!