Archive for the ‘In memoriam…’ category

Town with no cheer

24. Juli 2013
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Duisburg, Todestreppe

Klar, unsere Stadt ist wie Dodge City, Deadwood oder Tombstone, bloß zum Quadrat, nämlich fraglos eines der desolatesten Käffer im Wilden Westen der Republik, eine auf die schiefstmögliche Bahn geratene Pleitegeier- und Geisterstadt voller Bausünden, Millionengräber und öder Korruptionssümpfe, eine durch Schlaglochpisten notdürftig verbundene Ansammlung von Schrottimmobilien und Leerstandsruinen, mehr drangsaliert als regiert von fünf Handvoll großmäuliger, von den eigenen Grandiositätsphantasien im Dauersuff vegetierender Schwindler, Schieber, Rosstäuscher, Tagediebe und Scharlatane, deren Inkompetenz nur von ihrer Großmäuligkeit übertroffen wird – oder von ihrer leimsiederischen Feigheit, wenn es darum geht, mannhaft die Verantwortung zu übernehmen für den windschiefen Bruchbudenzauber, die geplatzten Spekulationsblasen, die Planungskatastrophen und sonder Zahl ans Licht gezerrten Verkommenheiten einer psychisch, mental und moralisch verwahrlosten… – was? das wäre übertrieben hart gesagt? Kann wohl sein; man ist halt zu nah dran. Wahrscheinlich ist unsere Stadt gar nicht viel anders als andere Knotenpunkte an der Bahnlinie Richtung Abgrund, eine nach dem Schneeballsystem künstlich am Leben gehaltene Kreditleiche und noch unbestattete Stadtattrappe, in der die Tageszeitungen „Die Durchhalteparole“ und „Unser Potemkinsches Dorf“ heißen und Hoffnung ein Wort ist, das nicht mal mehr die verbliebenen Deutschen noch buchstabieren können.

In diesem gottverlassenen Industriewüstenloch läuten heute alle Glocken. Jedenfalls sofern sie nicht bereits von Schrottdieben „mit südosteuropäischem Aussehen“ abmontiert, geklaut und eingeschmolzen wurden. Das Geläut erinnert an das love parade-Desaster heute vor eintausendfünfundneunzig Tagen, an dem 21 junge Menschen ihr Leben verloren und Hunderte verletzt und traumatisiert wurden. Eintausendfünfundneunzig Tage ist es nun her, das ein parakriminelles, unfassbar dilettantisches, dafür aber juristisch unfassbares System aus Behörden, Unternehmen und Verwaltungsapparaten, zugleich vereint und zertreut durch seine „organisierte Verantwortungslosigkeit“, angetrieben von Gier, Größenwahn und Renommiersucht, alle Bedenken, Warnungen und nicht zuletzt die Seufzer des gesunden Menschenverstandes in den Wind schlug und jenes entsetzliche loveparade desaster anrichtete, das 21 jungen Menschen das Leben kostete und Hunderte verletzte und auf Dauer traumatisierte. Die Ereignisse sind bekannt.

Seither, also seit drei vollen Jahren, „ermittelt“ die Staatsanwaltschaft; dreissig kompetente, gut ausgebildete Staatsanwälte haben mit vereinten Bürokräften, so wird verlautbart, 3500 Zeugen vernommen, 1000 Stunden Videos angesehen und damit mittlerweile eine Ermittlungsakte von mehr als 30.000 Seiten zusammengeklaubt, was in etwa einhundert Regalmetern Leitz-Ordner entsprechen dürfte. Niemand wird den Fleiß und den Willen zur Wahrheit anzweifeln, der die Juristen motiviert – und niemand wird sie um das Dilemma beneiden, in dem sie stecken, offenbar ohne vor oder zurück zu können. Denn eine Anklage ist noch immer nicht erhoben worden – je mehr man sucht, gräbt, bohrt, sortiert und Akten studiert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass man für das tödliche Desaster juristisch verantwortliche „Täter“ findet. Darüber murrt das Volk, verständlicherweise. Man will Gerechtigkeit, Genugtuung usw., man will Schuldige und möchte ein paar Leute hängen sehen. Leider werden Hinterbliebene, Opfer und das durch sein gesundes Empfinden bekannte Volk in dieser Hinsicht in die Röhre schauen, und das, obwohl die Staatsanwaltschaft beteuert, „immer weiter vorwärts“ zu kommen. Sicher, bald werden es noch ein paar Meter mehr Akten sein – und dann?

Hat man mehrere Optionen, die darum konkurrieren, die schlechtmöglichste zu sein: Entweder man präsentiert am Ende – wie der kreißende Berg, der eine Maus gebar – ein paar subalterne Pechvögel und nachgeordnete Galgenstricke, die zwar ausgewiesene Schluris, Schlampen und Schlawiner sein mögen, in ihrer Inferiorität und subordinierten Nichtigkeit aber kaum als „Hauptverantwortliche“ figuriren können (wer die sind, weiß man ja, kann sie aber juristisch nicht belangen). Oder man stellt das gigantische Ermittlungsprojekt am Ende aus Mangel an Beweisen ein, was ebenfalls eine Katastrophe wäre. Am besten scheint mir noch, man ermittelt erstmal einfach weiter, bis irgendwann das Gras wieder wächst.

Warum ist das so? Weil der ganze grandiose Trick dieser Bande von Verwaltungsfuzzis, Stadtmarketingfritzen, Unternehmern, Polizeiführern und Genehmigungsbetreibern gerade darin bestanden hat, ein System zu konstruieren, indem nie jemals eine Person für irgendetwas von Bedeutung belangt werden kann. Opferanwalt Julius Reiter nennt es das System organisierter Verantwortungslosigkeit. Das trifft es. Dieses System arbeitet autopoietisch und subjektlos. Niemand ist persönlich zurechenbar verantwortlich, weil diese Verantwortung im undurchschaubaren Filz des Systems rotiert, wie ein zu kleines Kapital in einer betrügerischen Unternehmensgruppe. DerApparat besteht aus einem labyrinthischen Gewirr von Verweisungen, Delegationen und Vorbehalten, in denen die Staatsanwaltschaftshasen allenthalben Igeln begegnen, aber immer anderen, die auf noch andere verweisen. Die Befehlskette hat kein Anfang und kein Ende, sie ist zirkulär, eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, wie ein von Kafka ersonnenes Amtsnetz, das kein Zentrum und kein Außen besitzt und deshalb unangreifbar bleibt. Deshalb wird niemand belangt. Der politisch verantwortliche Oberbürgermeister ist mit guter Pension abgetaucht; ein anderer Drahtzieher ist Landesminister, ein dritter noch immer im kommunalen Amt.

Schön war der richtige Wilde Westen: Die Bösen trugen alle schwarze Hüte oder rote Haut und man wußte, wer zu hängen war. Vorbei, Vergangenheit. Heute sehen wir den hochrangigen Politikdarstellern, die sich die eigens die für Feiertage reservierten Bekümmertheitsknitter ins verlogene Gesicht gebügelt haben, dabei zu, wie sie Kränze niederlegen und Betretenheitsschleim absondern. Morgen geht es weiter, wie bisher. Wir sehen uns nächstes Jahr beim Gedenktag, okay?

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Albtraumatlanten

4. Februar 2012

Weiße Flecken in Schwarzafrika

Ich besitze als Erbstück einen gediegenen, sommernachtsblauen Atlanten von 1905, in dem die Welt noch weiße Flecken der Unerschlossenheit enthält, vor allem in Schwarzafrika. Es handelt sich, obwohl er bescheiden unter dem Titel „Handatlas“ firmiert, um einen fast hundsgroßen, mit Goldprägung versehenen 40-Pfünder, über dem zu träumen einen massiven Ohrensessel und sehr starke Knie erfordert. Manchmal weiß man bei einem weißen Fleck auf der Karte nicht auf Anhieb, ob die entsprechende Gegend noch nicht erforscht oder bloß unbewohnt ist. Mich würde dies speziell für das Land Oklahoma interessieren, denn dorthin wanderten die Gebrüder Reinhold und Christoph H., meine Ur-Ur-Großonkel väterlicherseits, aus, und zwar aus Birnbaum, woher sie gebirtich; heute liegt das verträumte Örtchen an der Warthe-Schleife, um Juden und Deutsche sorgsam bereinigt, in der Woiwodschaft Wielkopolskie, Rzeczpospolita Polska, und heißt nun Międzychód. Damit aber genug der geographischen Pedanterien!

Meine beiden Ahnen sind, mangels Wildwesttauglichkeit, leider umgehend, kurz nach ihrer wohlbehaltenen Ankunft, in der Prärie verschollen. Verschollen, das ist übrigens 2. Partizip von „verschallen“, ein Wort, das längst nicht mehr erklingt. Es ist also seinerseits verschollen, das schöne Verb. Ich male mir gern aus, dass die auswanderlustigen Brüder von edelwilden Indianern der Marke Sioux massakriert wurden. Nicht dass ich ihnen das direkt gewünscht haben möchte, aber es wäre irgendwie romantisch und verliehe einem doch ein gewisses Flair, wenn man auf Partys, nachts in der weinseligen Küchenrunde, von einer Familiengeschichte zu erzählen wüsste, in der es von Tragischem und Exotischem wimmelt bzw. strotzt, z. B. von skalpierten Ur-Ur-Großonkeln väterlicherseits. Man wäre berechtigt, kurz und männlich beherrscht aufzuschluchzen, wonach einen möglicherweise Frau Frerkes an den wogenden Busen risse und einem mütterlich tröstend über den Kopf striche!

Wenn ich heute von der Lust überfallen würde, meinem Vaterland den Rücken zu kehren, fände ich Zuflucht auf den Hebriden, wo ich ein Stück Land besitze, einen Quadratmeter Schafsnasengrasnarbe in Küstennähe, eine Parzelle im Nirgendwo, die ich mal als Werbe-Gimmick drauf zu bekam, als ich im Internet eine Flasche sehr teuren schottischen Whiskys erstand. Er schmeckte ungeheuer authentisch nach verbranntem Torf, Salzwasser und Schafsexkrementen – ein Schluck, und man wähnte sich auf den sturmzerzausten Hebriden! Was man trinken muss, um da wieder wegzukommen, ist pauschalschriftlich nirgends erwähnt; man kann sich also ganz individuelle Trinkrouten ersinnen, zum Beispiel mit der MS Verpoorten nach Eierland, von dort den Rumgrogzug nach On-the-Rocks nehmen und dann gemütlich mit dem Riesling-Express wieder nach Hause in den Ohrensessel, wo man traumtrunken erwacht, um sich gnadenreich vage an erlittene Reise-Unbill zu erinnern.

Ein vierzigpfündiger, fast hundsgroßer Atlas eignet sich nicht zum Handgepäck, weswegen ich ohne ihn unlängst eine Traumreise in die Residenz Moers unternahm, um Fleisch und Hemden zu kaufen, ein Marktflecken, der in meinem Traum freilich nicht nur Ausmaße ungeheuerlichster Unübersichtlichkeit angenommen hatte und mit exaltiert Walt-Disney-haften Sakralbauten vollgestellt war, sondern auch einen labyrinthischen Grundriss besaß, so dass ich mein Fahrrad nicht mehr fand und den Weg verlor; unter anderem begegnete mir ein Mensch mit einem grässlichen, rosa-schleimig glitzernden Elefantenfuß, ferner, in einem Kinderwagen, ein Kopf ohne Körper, der jämmerlich vor sich hin greinte, sowie eine Menge durchweg freundlicher Einwohner, die mir den Weg erklärten, nur jeweils immer einen anderen. Wäre ich nicht vom dringlichen Dingdong der Türglocke erwacht, ich würde heute noch, die Hände voll rohem Fleisch und flatternden Hemden, in Moers herumirren.

Als ich jedoch nichtsahnend die Tür öffnete und davor meine beiden in karierte Reise-Plaids gehüllten Ur-Ur-Großonkel standen, mit blutüberströmten Schädeln und einem verlegenen Grinsen im Birnbaumer Bauerngesicht, da schwante mir freilich, der Traum sei noch nicht zu Ende, sondern drohe zum Alb auszuarten.

Eine Wunde, die sich nicht schließen will

24. Juli 2011

Wir trauern um die Toten der Loveparade:

Marta Acosta-Mendoza aus Spanien, 21 Jahre
, Benedict-Emanuel Becks, 21 Jahre
, Kevin Böttcher, 18 Jahre
, Marina Heuving, 21 Jahre
, Anna Isabelle Kozok, 25 Jahre
, Elmar Laubenheimer, 38 Jahre
, Jian Liu aus China, 39 Jahre
, Fabian Lorenz, 18 Jahre
, Vanessa Massaad, 21 Jahre, 
Giulia Minola aus Italien, 21 Jahre, 
Eike Marius Mogendorf, 21 Jahre
, Christian Müller, 25 Jahre
, Svenja Reißaus, 22 Jahre
, Clancie Elizabeth Ridley aus Australien, 21 Jahre
, Marie Anjelina Sablatnig, 19 Jahre
, Fenja Siebenlist, 23 Jahre
, Dennis Stobbe, 18 Jahre, 
Kathinka Agnes Tairi, 19 Jahre, 
Derk Jan Willem van Helsdingen, 22 Jahre
, Lidia Zafirovski, 21 Jahre
, Clara Zapater-Caminal aus Spanien, 22 Jahre

Die Schatten der Opfer

  Architektur kann ein intensives Gefühl von Beklemmung und Traurigkeit auslösen. Teile des jüdischen Museums in Berlin tun das – oder, in diesem Falle freilich ungeplant, der Karl-Lehr-Tunnel in Duisburg, der vor einem Jahr für 21 junge Menschen zur Todesfalle und für Hunderte zum unvergesslichen Ort des Schreckens wurde. „Die hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren“ – die Inschrift über dem Tor zu Dantes Inferno könnte gut am Eingang zum Tunnel stehen. Rußgeschwärzt, von Abgasen stinkend, eiskalt und zugig, von finsterer Trostlosigkeit, die das fahle Neonlicht kaum zu durchdringen vermag. Schwer lasten die Betonmassen, scheinen die Decke des Tunnels tiefer zu drücken bis auf die Seele dessen, der hindurch muss. Wie eingebrannt reihen sich an den Wänden die geisterhaften Silhouetten derer, die vor einem Jahr nach Duisburg kamen, um zu feiern und die stattdessen den Tod fanden.

Es ist ungewöhnlich kalt heute in Duisburg. Es regnet heftig. Die Bevölkerung der Stadt trauert mit den Hinterbliebenen und steht an der Seite der traumatisierten Opfer. Die Verantwortlichen der Katastrophe bleiben den Trauerfeiern wohlweislich fern. Sie wissen, wie man in der Stadt über sie denkt. Sie wissen, dass die Stadt sich ihrer schämt.  Diejenigen, welche die politische Verantwortung für das Desaster tragen, haben sich mit einem Panzer aus Dickfelligkeit, Kaltschnäuzigkeit und Heuchelei gewappnet und bunkern sich ein. Die Trauernden warten auf eine Geste, die weiter ausbleibt. Der noch immer beliebte Alt-OB Josef Krings brachte die Lage auf den Punkt: „Politische Verantwortung übernimmt man nicht – man hat sie.“ Der, der sie von Amts wegen hat – seinen Namen mag ich nicht mehr nennen – , mauert. Dem WDR beschied er: „Es ist alles gesagt, was zu sagen ist.“ Wo er Recht hat, hat Recht. Es wäre Zeit, zu handeln.

Ein klärendes Wort vielleicht noch zum Thema Verantwortung, Davon gibt es mehrerlei. Eine strafrechtliche Verantwortung, die freilich im Filz der Behörden und Institutionen schwer zu klären sein wird. Eine moralische Verantwortung, deren Grenzen und Gewicht vage bleibt. Viele tragen sie, letztlich auch ich, der ich wie viele Bürger schon vor dem Massen-Event nahezu sicher waren, dass das nicht gut gehen kann, aber dann die Achseln zuckten und ihre Hände in Unschuld wuschen. Und es gibt eine klar umrissene, mit einem Amt verbundene politische Verantwortung. Jeder Minister in der Geschichte Bundesrepublik wusste das einmal und trat, wenn in seinem Ministerium Pfusch unterlief, selbstverständlich zurück, auch wenn er das Geschehene nicht persönlich als Schuld zu verantworten hatte.

Es ist überflüssig, darauf hinzuweisen, dass ein Rücktritt des OB nichts an der Inkompetenz und dem Versagen einer ganzen Stadtverwaltung ändert. Aber es gibt eine Sphäre symbolischer Politik, in der diese Geste einfach unumgänglich ist. Eine von Bauskandalen, Korruptionsaffären und Filz gezeichnete Stadt sieht die Reste politischer Kultur an ihrer Spitze verfallen und schämt sich. Das Loveparade-Desaster klafft wie eine Wunde im Bewusstsein der Stadt, eine Wunde, die sich nicht schließen will.

Die Todestreppe. Das Fluchtweg-Piktogramm wurde gestern angebracht – ein Jahr zu spät…

Kleist rockt! Annonce

29. April 2011

Heinrich von Kleist, König des Nebensatzes

Es soll dem Vernehmen nach aber in dem neblichten Gaue, wo das Westfälische und das Niederheinische sich zur vagen Vermischung und Durchdringung treffen und in ein konfus hybrides Landschaftsgemenge – nicht sowohl der Hügel und Auen, als vielmehr auch der Herzen und Seelen – sich zur Vereinigung anschicken, einer brav schwarzbrot-kartoffeligen deutschen Region also, die bekanntermaßen, wiewohl gefährdet und angeteufelt durch die bedrohliche Nähe des französischen Erbfeindes und der verderbten Niederlande, durchaus vaterländisch treu und biedertrotzig sich, weiter dem Gerüchte nach, recht wacker als teutsches Grenzrayon durchgeschlagen hat, und zwar in einer von welschem Wein-Genuss noch unangekränkelten Bierbrauerstadt mit dem altholländisch-schollerndem Namen Duisburg, ein entlaufener Magister, Ex-Theolog und Gelehrter der sieben Artes Liberales sich einigermaßen wohl befinden und derohalber dort seine irdische Frist hinbringen, der auf den Namen Bruno Kraska, wenn auch vielleicht nicht recht höret, so doch mittels dieses immerhin amtsbekanntermaßen bestätigten Titulus behördenkundig sein soll, welchselber Skribent, wie das Gerücht will, der seltenen magischen Kunst einigermaßen kundig sei, Sätze zu drechseln, wie komplex, interpunktionsreich und schwurbelig sie sonst nur der berühmte abgebrochene Student der Kameralwissenschaften und altpreußische Adelssproß Heinrich von Kleist hätte hinbekommen, dem in diesem Aufsatze zuvörderst das höhere Andenken mehr und rechtlich gehöret, welchselbes Gedächtniß und frommes Angedenken sich nicht zuletzt aus jener erschröcklichen That ableitet, die sich vor zweihundert Jahren am Ufer des Kleinen Wannsees, dem von den Bauern Stolper Loch genannten Gewässer, zutrug, jedem Christenmenschen zum Grauen,  allwo nämlich besagter Kleist, Sproß einer hochangesehenen Familie, die sonst unzählige Generäle, Majore und gar einen Feldmarschall hervorbringen durfte, im Falle des armen Heinrich aber nur einen zu Lebzeiten erfolglosen Dramatiker und Novellendichter, Projektemacher und Pläne-Zernichter, dem, wie er selbst mit eigener Hand schrieb, „auf Erden nicht zu helfen“ gewesen, sich, in Begleitung einer gewissen Frau Vogel, mit Hilfe eines Pistol selbst entleibt hat. Leider!

Hüte sich aber das verehrte Publikum, diese That für den ganzen Mann zu nehmen, welcher nämlich ein zwar unaufgeräumter, doch überragend heller Kopf gewesen, ein Meister, Magier und Machthaber der deutschen Zunge überdies, dem wir markerschütternde Tragödien, heiterste Lustspiele und atemberaubende (besonders beim Vorlesen!) Novellen verdanken, mit denen füglich das unreife Schulvolk bis zum Abwinken traktiert werden sollte, dergestalt, daß die Jugend einmal merken wolle, wie wenig die deutsche Sprache auf die leichte Schulter genommen werden könne, in Sonderheit zu gegenwärtigen Zeiten, wo das Heilige Idiom Goethens, Schillerns und eben auch und gerade Kleistens in arge Gefahr geraten ist, von den barbarischen Lauten des Englischen oder Osmanischen überflutet, erobert und zuschanden geritten zu werden, sodaß eine finstere, geistferne Zeit einzutreten droht, in der man Kleistens Werk schon kaum noch lesen, geschweige denn verstehen und würdigen dürfte. Dieses am Horizont dräuende Elend zu wehren und zu dessen Prävention beizutragen, indem er des Genius gedenke, hat sich oben bezeichneter Magister nun entschlossen, jenem Kleist einen Vortrag oder eine Vorlesung  zu widmen, einen rühmenden und ehrenden Aufsatz, den er zu gegebener Zeit, so er eben fertig geworden ist, spätestens aber im November dieses Jahres dem geneigten Publico, so es eben gebildet und auch willens ist, zu hören, unterbreiten wird, versprochen und Ehrenwort!

Sollten aber die Gebildeten Anstoß nehmen und in Atemnot geraten ob der naturgewaltigen Hochflut in einander geschachtelter Nebensatzkonstruktionen, dergestalt dass sie dem Überdruß nahe, das Mitdenken einzustellen drohten, wäre, in diesem Falle, weil er auch an die Geneigtheit seiner Mitbürger angewiesen ist, der Autor bereit, sich dazu zu bequemen, gewisse Kürzungen vorzunehmen, ja, sich sogar zu einer preußisch-militärischen Breviloquenz zu verstehen, indem er das Thema seiner Abfassung auf einen spitz gesetzten Punkt bringt: KLEIST ROCKT! 

Die Märchen-Muhme schnitt den Faden…

2. Juni 2010

Geliebte Gegenmutter: Louise Bourgeois (1912-2010)

Daß es seltene Menschen gibt, die rückwärts geboren und mit dem Alter immer jünger werden, ist ein Topos der Literatur und des Films. Manchmal existieren sie aber auch tatsächlich. Ich fand jedenfalls, zum Schluß wirkte sie schon fast gespenstisch in ihrer Vitalität und unermüdlichen, rumpelstilzchen-haften Schaffenskraft, wie ein in Unwirklichkeit gebadetes, sehr junges Mädchen aus einem Carollschen Wunderland, immer am Spinnrad der Kunst, der arachnoide weibliche Archetyp der Sinn- und Schicksalsspinnerin, immer wie leise kichernd, im klamm stummen Fingerspiel haspelnd und spinnend, versponnen verhäkelte Botschaften wispernd, gespenstisch, aber auf anheimelnde, vertraute Art gespenstisch, wie Frau Holle oder meinetwegen auch des Teufels Großmutter, als wäre sie, die alte Muhme Louise, eine zaubrische, als Greisin verkleidete Elfe: Verwundet, aber davongekommen, schweigsam, aber beredt: Ihre schüchtern-obzönen Schwellkörper, die dezent-grausamen Püppchen und Strickfiguren, ihre arachnoiden Monstermütter, ihre verstörenden „Zellen“ und verwunschenen, im kranken Licht fröstelnden Kram-Kammern kündeten, sozusagen in hundert Jahren Schlaflosigkeit zusammengeklöppelt, von einem rastlosen, arbeitsamen Geist, der hinter dem Gespinsten der Sprache und der Konventionen nach der ursprünglichen Wunde suchte, dem unhörbaren Schrei auf dem Grund der eigenen Existenz lauschte,  dem Untergrund der Dinge nachforschte, dem wurzelhaft-biotischen Wuchern und Wachsen des Unheimlichen, das uns trägt, der nie verwundenen Kindheit nachtrauernd. – Künstler wird, so sagte sie, wer es es nie schafft, erwachsen zu werden.

Louise, auch ein Idol: ein böses, verstoßenes, nicht gewolltes Kind, ein unverstandenes Kind, ein Kind mit einem bösen, glasklaren Blick. Immer draußen, immer am Rande, und immer im Bilde. Hexen, Parzen, Muhmen: „Weise Frauen“, Behüterinnen eines unerträglichen, aber doch unverzichtbaren Wissens – Louise Bourgeois war für mich eine von ihnen. Ihr Werk berührte mich, unangenehm intensiv wie ein schlimmer grippaler Infekt, ein erlkönighaftes Fieber, eine physische Beängstigung und Lockung zugleich, ganz unmittelbar, ohne Vermittlung durch Kunstlehrer und Interpreten. Sie machte Angst und in sich verliebt, wie sonst nur Kafka. Sie ging mir unter die Haut. Louise Bourgeois war meine (heilsame) Gegenmutter.  Außerdem, um sachlich zu bleiben, bewies sie, daß Feminismus nicht dumm, geistlos und ideologisch sein MUSS. Wenn ich je eine Frau jenseits des Geschlechtes rückhaltlos verehrt habe, dann sie: Weil sie Verehrung abstieß.

Halb und halb hatte ich schon gehofft, sie sei eventuell unsterblich, dezent-papiernen entrückt, zum Mythos sublimiert. Aber dazu war sie wohl zu bescheiden.

Nun starb sie also doch – am Montag, den 31. Mai 2010, im Alter von 98 Jahren, in New York an einem Herzinfarkt.  – Geliebte, verehrte Louise. – Endlich Schlaf!

Der blinde Herr der Bücher

28. Mai 2010
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Jorge Luis Borges (1899-1986)

Auch wer ihn nicht kennt, kennt ihn vielleicht indirekt: In Umberto Ecos berühmtem Kloster-Krimi „Der Name der Rose“ trägt der Bösewicht „Jorge von Burgos“ seine Züge: Ein blinder Hüter der Archive und Bibliotheken, etwas unheimlich und furchterregend. Der blinde Direktor der argentinischen Nationalbibliothek, der Dichter, Essayist und Erzähler Jorge Luis Borges freilich wear, anders als seine Karikattur bei Eco, weder humorlos noch ein Bösewicht oder gar ein Mörder. Er war einer der größten und interessantesten Schriftsteller des 20. Jahrhundertsa!
Borges’ bevorzugtes Gebiet ist das Phantastische, das Unheimliche und Bestürzende, das Schwindelerregende des Imaginären, aber – obwohl auch solche Phänomene ihn faszinieren – es sind nicht vorwiegend Fabeltiere, Aliens und Gespenster, die er beschwört, sondern verstaubte Folianten, mittelalterliche Manuskripte und verwehte Inschriften, aus denen das bizarre Genie, der Triumph und der Wahnsinn von Jahrtausenden menschlicher Geistesanstrengung aufsteigt und nach uns greift. Metaphysischem Irrsinn und irrer Metaphysik verleiht Borges eine merkwürdige Vertrautheit und Selbstverständlichkeit. Uralte Ketzereien, die Irrlehren vergessener Häresiarchen und abseitiger philosophischer Dissidenten treten wieder ans Tageslicht. Aus dem Staub und Moder alter Büchergruften steigt die dunkle, verworfene Heiligkeit des Apokryphen und Kryptischen und wir vermeinen, wieder das ganze Grauen jener verschollenen Meister und Mystiker zu spüren, die zu nah an den Rand des Undenkbaren gerieten und von dort nicht mehr zurückkehrten.
Borges ist zweifellos ein Magier. Er hält uns in Atem und Beklommenheit, obwohl seine Albträume ganz »trockener«, theoretischer Natur sind und sein Ton lakonisch, betont nüchtern, wissenschaftlich referierend, oft im Stil eines Lexikon-Eintrages. Gelassen, betont rational, mit einem kaum wahrnehmbaren ironischen Ton, führt er uns durch die Labyrinthe seiner offenbar unerschöpflichen, enzyklopädischen Gelehrsamkeit und konfrontiert uns mit Rätseln, Paradoxien und schwindelerregenden Gedankenabstürzen aus der maßlosen und verworrenen Geschichte des menschlichen Denkens. Er vergegenwärtigt ehrwürdige philosophische Dilemmata, Aporien und Antinomien, die man aus gutem Grund irgendwann in der Vergangenheit ruhen ließ und vergessen hat, um zum Frieden der Einfalt zurückzufinden. Borges beschwört aber gerade diese Relikte und Reliquien der Ruhelosigkeit, die Ausgeburten unzähliger Nachtwachen, Meditationen und Erleuchtungserlebnisse, all dies ausgestellt in einem bizarren Museum, das in geheimnisvolles Licht getaucht ist und als dessen lebende Bewohner wir am Ende uns selbst bestürzt wiederfinden. Borges kreiert dabei in technischer Hinsicht ein Misch-Genre, eine literarische Hybridform, die es bis dahin, soweit ich sehe, nicht gegeben hat: die »philosophisch-essayistische Erzählung« könnte man diese Form nennen oder das »phantastische Philosophie-Essay« oder auch ein »Lexikon philosophischer Albträume«. Die philosophischen Themen von Borges sind dabei weder exotisch noch besonders gesucht und esoterisch, es sind die alten, die ewigen Fragen der Menschheitsgeschichte: Zeit und Unendlichkeit, Freiheit und Vorhersehung, Tod, Unsterblichkeit und das Schicksal der Seele, die Rätsel und Fragwürdigkeiten der Wirklichkeit und ihrer infiniten Spiegelungen im Traum, in der Poesie und allen Formen der Imagination. Besonders angetan haben es ihm die grotesken und absurden Versuche tapferer Denker, das Chaos des All-Seienden in ein universales Ordnungssystem zu bringen, etwa die Träume des Barock von der Universalsprache, an der Leibniz arbeitete oder der legendäre John Wilkins, über dessen analytische Universalsprache, in der jedes Wort zugleich sein Signifikat definiert, Borges eine wunderbare Geschichte geschrieben hat.Borges versteht es bei alledem, den Eindruck zu erwecken, als wäre er überall im Universum der Texte, in der gesamten Bibliothek menschlichen Wissens zuhause. Für Borges scheint das Entlegene nur einen Regalmeter vom Mainstream entfernt; er ist, so scheint es, ein »Spezialist für alles«. Wer die Erählungen von Borges verschlingt, den ergreift eine Art Höhenangst und Bildungsschwindel. Ob es um altisländische Sagas, frühe Ketzer und Kirchenväter, um die Odyssee, die kabbalistische Zahlenmystik oder Dantes »Göttliche Komödie« geht, um die Visionen des Mystikers und Geistersehers Emmanuel Swedenborg oder das Werk des arabischen Philosophen Averroës, um apokryphe Bibeltexte, pythagoreische Sekten oder die Alchymie des Paracelsus, um Shakespeare, »Don Quijote« oder die verschiedenen Übersetzungen von »Tausendundeiner Nacht« – Borges scheint sich überall detailliert auszukennen und dekoriert seine Erzählungen reichlich mit gelehrten Zitaten, philologischen Anmerkungen und bibliographischen Apparaten, die ihnen das Flair umfassender Gelehrsamkeit verleihen und den staunenden Leser die unermeßliche Weite des Universums der Texte erahnen lassen….

JETZT NEU AUF DEM „denkfixer“-Blog [http://reinhardhaneld.wordpress.com]: Eine LIEBESERKLÄRUNG AN JORGE LUIS BORGES

Heiliger des Verschwindens

29. Januar 2010

Nun ist er also doch mal gestorben, vorgestern, mit 91 Jahren. Für die Welt war er ja eh schon lange tot: 1965 das letzte Buch, 1980 das letzte Interview, Lebenszeichen danach entweder obskur oder unfreiwillig. Niemand weiß so genau, was er die letzen Jahrzehnte draußen auf seiner Farm in New Hampshire so getrieben hat. Er wollte es so. Er hielt sich bedeckt. Er haßte jede Form von Rummel, und er wollte nicht begafft werden – wie sein cooler, sensibler, verzweifelt sarkastischer Held Holden Caulfield:

„Es dauerte eine ganze Weile, bis ich einschlief – ich war gar nicht mal müde –, aber schließlich schaffte ich es doch. Aber eigentlich war mir eher danach, mich umzubringen. Mir war danach, aus dem Fenster zu springen. Wahrscheinlich hätte ich es sogar getan, wenn ich sicher gewesen wäre, dass mich jemand gleich nach dem Aufprall zugedeckt hätte. Ich wollte nicht, dass mich ein Haufen Gaffer anglotzte, wenn ich ein einziger Blutklumpen war.“

J. D. Salinger hat mit seinem „Catcher in the rye“ (deutsch: „Der Fänger im Roggen“) mal mein Lebensgefühl über Jahre geprägt; durch ihn habe ich erstmals Sinn für Tonfälle im Amerikanischen (und in der Sprache überhaupt) bekommen, und, am wichtigsten, er war ein Meister im Tao des Verschwindens, er demonstrierte ein halbes Jahrhundert lang, daß man ein großer Schreiber sein kann, und sich dennoch nicht zum Tanzbären der Verlage und zum Sklaven der Eigenreklame machen muß. Das letzte Bild, das von ihm kursiert, zeigt den Eremiten, in seinen Sechzigen, wie er wütend gegen das Autofenster eines Papparazzo schlägt, der auf seine Farm vorgedrungen war. Paradox nur auf den ersten Blick: Dieses Foto hat einen Ehrenplatz in meiner Wohnung.

Nun kreisen wieder die Geier über der Salinger-Farm, denn immerhin ist durchgesickert, daß Jerome D. Salinger all die Jahrzehnte seiner Zurückgezogenheit wohl geschrieben hat, für sich, für die Schublade. In den Augen der Verlagsagenten rotieren blinkend die Dollar-Zeichen….

Was soll man ihm nachrufen, diesem großen, leisen, klugen Mann? Jedenfalls nicht „Viel Glück“:

„Als ich die Tür geschlossen hatte…, schrie er mir etwas hinterher, aber ich konnte ihn nicht genau verstehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir „Viel Glück!“ hinterschrie. Bloß das nicht. Ich würde keinem „Viel Glück!“ hinterherschreien. Es klingt furchtbar, wenn man’s sich recht überlegt.“

Sollte man erwähnen, daß wir J. D. Salinger nicht nur einen der ergreifendsten Romane des 20. Jahrhunderts verdanken, sondern ihm und seinen Kameraden auch unsere Freiheit? Er war unter den Soldaten, die 1944 in der Normandie landeten und später in der blutigen Ardennenschlacht die Nazis niederrangen.

So long, Sir.

MY PERSONAL JESUS

23. Dezember 2009

Seltenes Originalfoto von Jesus: Geliebt, verehrt und bewundert, aber leider nie wieder erreicht, gilt er heute neben Elvis und Michael Jackson als einer der "drei Unsterblichen"...

Es ist schon ein Weilchen her, daß mir träumte, ich besäße eines der raren authentischen Originalphotos von Jesus von Nazareth, und er hätte auf meine Bitte, es mit einer persönlichen Widmung zu versehen („Für meinen Lieblingsapostaten, Apostel St. Bruno Kraska“), zwar unendlich schwermütig geschaut, aber dann doch schließlich meiner Bitte achselzuckend entsprochen. Sein sanft durchdringender Blick dabei sprach freilich Bände bzw. den Satz (auf hochdeutsch!): „Herr vergib ihm, denn er weiß nicht, was sich tut!“ Mir war das doppelt peinlich, weil mir gerade die Überlegung durch den Kopf schoß, was so ein Autogramm wohl eintrüge, stellte ich es bei eBay ein. Ich schämte mich dafür, denn in meinem Traum konnte Jesus Gedanken lesen und ich spürte deutlich, wie seine Entdeckung, daß er – übrigens genau wie ich! – gar nicht wußte, wie man etwas „bei eBay einstellt“, ihn quälte und irgendwie verunsicherte. Trotzdem behielt ich von diesem Traum das beruhigende Gefühl zurück, daß Jesus und ich gute Freunde hätten sein können, wäre er nicht so ein hohes Tier geworden. Ein Kumpel, dessen Vater GOTT ist, war mir aber doch zu heikel.

In einem anderen Traum erhielt ich mal in der kleinen Druckerei-Klitsche, in der ich arbeitete, Besuch vom damaligen Papst Johannes Paul II., und zwar wollte er fünfhundert Dreifach-Selbstdurchschreibe-Formularsätze bei uns bestellen. Irgend so Zeug für die Steuerklärung des Vatikans oder so. Obwohl er sehr imposant, zeremoniell und in vollem Ornat, mit goldener Tiara, Schärpe, Stola, Umhang sowie Schnabelschuhen aus weinrotem Saffianleder auftrat, erkannte ihn mein Kompagnon, der für die Kundenbetreuung verantwortlich war, nicht nur nicht, sondern nannte ihn auch noch ständig penetrant „Herr Dr. Schmittke“, was zwar respektvoll klang, aber dennoch gegenüber dem Pontifex maximus völlig deplaziert wirkte. Auch dies war mir ungemein peinlich! Mir scheint, Träume mit Religionsbezug sind bei mir immer mit einem Gefühl der schamvollen Verlegenheit verbunden. Moderne Psychoanalytiker mögen das gern mit meiner verstorbenen Frau Mutter in Verbindung bringen.

Obwohl ich dem Christentum (wie jedem -tum, auch dem Brauch-, Volks- und Heimattum!) skeptisch gegenüberstehe, bin ich Jesus-Bewunderer. Jesus war ein echter Frauentyp: Sanft, einfühlsam und sexy, klug, eigensinnig und angenehm unkonventionell. Er sah verdammt gut aus, hatte Charme und bezwingendes Charisma. Gut, er war auch ein Spinner und hat Sachen gesagt, die er, hätte er kritisch-solidarisch diskutierende Berater gehabt, vielleicht noch mal überdacht hätte. Z. B. diesen Quatsch aus der Bergpredigt, daß, wer eine andere Frau begehrlich ansähe, mit ihr bereits die Ehe gebrochen hätte. Daß finde ich weltfremd und humorlos, und auch ein bißchen arg prüde.

Jesus hatte das Glück oder Pech, wie übrigens auch meine Frau Mutter, an Weihnachten geboren zu werden, einer perversen Zeit des Ratenkaufs und der Null-%-Finanzierungen, der Sonderaktionen und Sale-Schnäppchen. An ein Kreuz aus IKEA-Kiefer genagelt, einen Kopfhörer von Saturn oder Mediamarkt als Dornenkrone (Im Player: „Hosiannah! Best of Holy Gospel-Gossip“) über der Stirn, starb der Nazarener bereits drei bis vier Monate später schon wieder, am Karfreitag, war dann aber allerdings auch nur bis Ostersonntag tot. – Eine krasse Biographie! Nebenher wurde Jesus auch bekannt als Erfinder einer gleichnamigen Sandale und als Singer-Songwriter-Composer des Welthits “Always look on the bright sight of life!“ Gäbe es, was Gott verhüten mögen, eine RTL-Show „Deutschland such den Super Religionsstifter“ (Jury: Dieter Bohlen, Bischöfin Margot Käßler sowie Ottfried Fischer), Jesus käme ins Halbfinale, totsicher.

Meine Mutter wäre dieser Tage 85 geworden; Jesus ist bereits 2009 Jahre alt; in meinen Träumen und in meinem Herzen treiben beide ihr Wesen und dürfen ihr Eckchen bewohnen. Ein kleines bißchen froh bin ich aber auch, ihnen entronnen zu sein.

Ode an ein unbekanntes Huhn (Pepi’s Blues)

12. November 2009
PepisEier

Urheber des Fotos: Hühnerflüsterin Tuliparola Kontakt: http://www.proz.com/translator/62859 Bei Qype als Tulpenteufel aktiv; ansonsten Übersetzerin, Dichterin, Emigrantin, Agrarnonne, Eremitin, Tomatenzüchterin, Katzen- und überhaupt Tierfreundin, wenn auch, gottlob, auf unsentimentae Weise. Pepi im übrigen wurde nicht etwa verspeist, sondern mit Rosinen (als Grabbeigabe!!) pietätvoll unterm Birnbaum bestattet. - Das folgende Lied ist all den namenlosen Hühnern gewidmet, die uns mit wunderbaren Frühstückseiern versorgen.


Ode an ein hart arbeitendes, philosophisches Huhn

Ein Huhn, so alte Spruchweisheit, sagt mehr als tausend Worte.
Nicht nur put-put, pik-pik,
in seinem Köpfchen wohnt Metaphysik!
Wie’s durch die Scheibe pliert und stiert: Man
könnte denken,der Vogel
philosophiert!

Pepi, Königin der Legehennen,
entdeckt für sich grad das Erkennen:
Anfang und Ende, Henne und Ei, Leben und Tod,
einerlei.

Wo kommen wir her, wo gehen wir hin?
Macht’s Erdenleben denn, bitte, noch irgendwo
Sinn?
Das ganze Gackern, Scharren, Umeinanderrennen,
für was denn? Für das? – Ich meine:
Sind denn die Legehennen, jenseits von Hühnerdreck und Körnerfutter,
nicht letztlich auch Frau? Und Mutter?
Umflort erscheint des Huhnes Blick – und die Kinder?
Blicken mit großgelben Augen lächelnd zurück.

Das Sein und das Nichts, das Ich und das Du, Leib und Seele und raus bist
du! Verwehrt
blieb dem Nachwuchs
die große Lebensfeier. Sie endeten schnöde, – als Spiegeleier.
Sünde und Lohn, Liebe und Hohn, Freiheit und Fron, ich ahne schon:
Das süße Sein, es kann
so schweinisch hühnerfeindlich sein!
Doch vom Denken beflügelt weitet Pepi gekonnt
ihren huhnbedingt engeren Horizont:
Als brutzelnde Pracht in der Pfanne zu landen,
noch dazu hier, in den westlichsten Niederlanden,
ist nicht zu verachten! Und keine Schanden!
Man kann das auch anders betrachten!
Zwar, sicher, das Dasein ist hart, doch andrerseits blieb es
den Eierchen auch erspart!
Ungeschlüpft und frühvollendet gerieten sie doch
zum Glück:
als labendes, nährendes
Bauernfrühstück.

Du kannst es nennen
Wie du willst: das Tao der
Legehennen
Ist, wie du siehst,
nicht das Erkennen, es ist in Wahrung
aller Würden: unsre Nahrung.
Leider ist nicht nur das Ei verderblich,
auch Mutterhenne Huhn ist sterblich,
weswegen Pepi, hör ich, jüngst
verschieden.

Ruhe du nun, Huhn,
in Frieden.
Zu deiner Totenfeier
Futtern wir andachtsvoll
Spiegeleier!

PS: Oh heiliges Huhn!  Geflügelte Mutter des
Duftenden Spiegeleis,
wir verehren dich,
– ohne Scheiß!



Farewell, Willy!

12. August 2009
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William Borsey aka Willy DeVille, 1950 (1953?) - 2009

„Willy ist der Prototyp eines Rock’n’Roll-Menschen. Seine Stimme ist rau, trocken, aufregend und dreckig, und in ihr schwingt die sinnliche Anmache, die uns Hörer zittern lässt“, schrieb mal ein Musikmagazin, und das gilt für die Musik insgesamt, die wir William Borsey, genannt Willy DeVille, verdanken. Als Rock’n’Roll noch schmuddel war, und nicht kuschel oder Pose, da strahlte Willy – mit Schmalzmähne, Goldzahngrinsen, Diamant im Scheidezahn und schmierigem Menjou-Bärtchen – den halbseidenen Charme eines Schiffschaukelbremsers aus, wenn er seine unverwechselbare Mischung aus Blues, Cajun, TexMex und Southern vortrug wie das natürliche Idiom der Straßen von Harlem, wo Willy unter Puertoricanern aufgewachsen war.

Willy klang immer ein bißchen wie eine TexMex-Kopie von Bob Dylan, nur schmutziger, anzüglicher und dreister als der Meister. Seine Mariachi-Version des Jimi-Hendrix-Klassikers „Hey Joe“ sticht unter hunderten von Covern heraus, weil sie dem Song das lakonisch Machistische und Kriminelle des Originals zurückgibt, in dem ein Mann, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, unterwegs ist, um seine Frau „abzuknallen, weil sie mit ’nem andern Kerl rumgemacht hat“. Die etwas zigeunerhafte Bühnenfigur, die Willy gern gab, täuschte nicht darüber hinweg, daß er ein grundsolider Musiker war, ein hervorragender Gitarrist, Arangeur, Performer und ein ambitionierter Songschreiber  dazu.

Willy war außerdem Stoiker. Er hatte Erfolge und er ging durch Niederungen ohne Geld und Plattenvertrag, beugte sich aber weder der Mode noch den Plattenkonzernen. Und er hat sogar in Duisburg gespielt, bei uns in der alten Industriehalle! Ach, Mann! Was das Heroin und der Schnaps nicht schafften, besorgte der Bauchspeicheldrüsenkrebs. Willy DeVille starb letzte Woche in New York im Alter von 57, 58 oder 59 Jahren. Genau weiß man das nicht. Typisch!

Machs gut, Willy! Und danke für die Songs.