Archiv für April 2009

Neues Blödwort

30. April 2009
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"Forever young": Hundert Jahre Stil-Ikone Madonna

 

„INTRIGIERTE DISKRIMANALISIERUNG“: EINE EINLEITUNG

Es ist ein neues Blödwort aufgetaucht, daß mir bei jeder Lektüre heftiger zuwinkt, damit ichs endlich mal geißele. (Auf einer blödwort-analogen Verwechslung beruht es übrigens, daß immer mehr Leute von der „Geisel der Menschheit“ reden, wenn sie, ma sagen, das organisierte Verbrechen geiseln wollen. Ich glaube, sie werden durch Grimms Märchen vom „Wolf und den sieben Geißlein“ verwirrt, weil es eben nicht Geiseln sind, die der Wolf nimmt. Freilich auch keine sieben Geißeln…) Blödwörter werden in der Regel entweder vom Geschmeiß der Werbe-Texter und professionellen Wortfalschspieler oder aber von Journalisten kreiert und in Umlauf gebracht. Wenn sie blöd genug sind, werden sie bald inflationär benutzt. Manchmal werden ganz seriöse, sozusagen unschuldige Wörter zu Blödwörtern, weil immer mehr Blödwortmänner nicht mehr wissen, was sie in Wahrheit bedeuten. Da wird dann schon mal „Gourmet“ und „Gourmand“, oder „Intrigieren“ mit „Integrieren“ verwechselt, oder die Dinge werden auseinanderdividiert , zusammenaddiert oder diskriminalisiert, was weiß ich, aber egal, ich will ja eigentlich gar nicht zu einem dieser besserwisserischen Sprachpedanten werden, die schon die Augenbrauen heben und strafend hüsteln, wenn ich mal „Kommas“ sage statt „Kommata“ (obwohl wir schon ewig strafffrei „Themen“ statt „Themata“ sagen dürfen!), und die dann gleich süffisante Glossen darüber verfassen und uns etwa darüber belehren, daß sowohl „Firlefanz“ als auch „Kinkerlitzchen“ ursprünglich aus dem Französischen kommen, was mir wurst ist, da es für die Schreibweise keine Rolle spielt, anders als bei den Wörtern altgriechischer Provenienz, denen man das „Th“ oder „Rh“ mit der Rechtschreibereform geraubt hat.

Jedenfalls, das Blödwort, daß ich meine, heißt: IKONE. 

Meiner Beobachtung nach – die nicht stimmen muß – tauchte das Wort erstmals vor ca. 5, 6 Jahren in Zusammenhang mit Frau Madonna Louise Veronica „Esther“ Ciccone auf, die man nicht länger Lust hatte, „Queen of Pop“ (gähn!) zu titulieren, und sie daher beschloß, zur … „Stilikone“ zu ernennen. Was die Presse-PR-Plapper-Profis damit meinen oder sagen wollten, war vermutlich, daß der Geschmack, den Frau Ciccone hinsichtlich sogenannter Anziehsachen an den Tag lege, in der Modewelt stilbildend wirke. Vielleicht spielt eine assoziative Verbindung zwischen der vagen Erinnerung daran, was Ikonen mal waren, sowie dem Namen „Madonna“ auch eine Rolle, da rund ein Drittel aller Ikonen ja … Madonnen-Bilder sind.

Die nächste Stufe zündete mit der Weiterentwicklung zum rätselhaften Begriff „Werbe-Ikone„. Mit diesem Titel bzw. dieser Berufsbezeichnung belegte man bei uns m. W. erstmals eine junge Frau namens Verona Feldbusch, die zuvor mal irgendwas mit Dieter Bohlen hatte, und die dann später jenen Herrn Pooth ehelichte, den Olli Dietrich alias „Dittsche“ hartnäckig als „GeräteFranjo“ veralbert, jenen Geräte-Franjo, den der vorübergehend obdachlose Dittsche „nie im Leben nicht“ um ein Obdach bitten würde, da er, vgl. Folge der 17. Kalenderwoche, „auch, ma sagen, eine Würde“ hätte. – Wie wird man nun „Werbe-Ikone“? Ganz einfach. Man muß, wie Frau Feldbusch, zunächst mal nichts besonderes gelernt oder geleistet haben; es reicht, wenn man durch irgendetwas mal ins Fernsehen gekommen und den Zuschauern im Gedächtnis geblieben ist. Bei unsere Werbe-Ikone in spe war dies, neben ihren Brüsten, die sie stets wie ein Cafeteria-Tablett mit heißem Kaffee vor sich herzutragen pflegte, neben ihrer Oberweite also die Tatsache, daß sie glaubhaft vorspiegeln konnte, unglaublich doof und zudem ihrer Muttersprache nicht recht mächtig zu sein. In Wahrheit, falls das interesssiert, ist die Dame übrigens keineswegs doof, sondern clever, möglicherweise sogar gerissen, und im korrekten Gebrauch des Dativs hat sie sich längst auch unterweisen lassen. 

Irgendwie aus dem Fernsehen bekannt zu sein, nennt man Aufmerksamkeitskapital – man kann es re-investieren. Da die Leute im Fernsehen sehr gern Leute sehen, die sie schon aus dem Fernsehen kennen, werden solche immer wieder in Talk-Shows eingeladen; wenn man oft genug in immer wieder anderen Zusammenhängen in solchen unsäglichen Plauderrunden präsent war, wird man von der Familie der Couch Potatoes adoptiert – jetzt ist man so bekannt, daß die Werbewirtschaft sich sagt: Dem oder der drücken wir jetzt mal einen Spinat, eine Geflügelwurst oder ein Mineralwasser-mit-Kohlensäure in die Hand und machen Werbung damit!  Tritt die Ikonen-Anwärterin nun aber in Werbe-Spots auf, kennt sie bald jedes Kind. Deshalb bekommt sie immer mehr Werbe-Aufträge, verdient Millionen und wenn die Steuer fragt, was ihr Beruf sei, dann sagt sie, „also ich bin bekannt dafür, bekannt zu sein, also bin ich hauptberuflich „aus dem Fernsehen bekannt“ und damit beschäftigt, andere Dinge wie Rahmspinat oder Gelbe Seiten mit meiner allgemein beliebten Bekanntheit aura-mäßig zu adeln“. Sie könte aber auch sagen, sie sei eine „WerbeIkone„.

Der Begriff „Ikone“ bekam eine Aura von Erfolg, Bewunderung, Anerkennung. Schon bald fand man die Handballer-Ikone, die Trainer-Ikone und heute, ich las es eben, im alten Wolfgang Neuss die „Kaberett-Ikone“. Mit anderen Worten: Jetzt wird es langsam endgültig blöd!  Irgend wie sind semantisch Dinge wie Idol, Leistungsträger, Nestor, Mentor und Trendsetter zu etwas zusammengeflossen, das man in der „Ikone“ am besten aufgehoben findet. Mit Ikonen hat das alles freilich nichts zu tun.

Leider werde ich nie zur Ikone des präzisen Sach-Journalismus avancieren, denn Thema dieses Aufsatzes sollte eigentlich die Frage sein, was eine Ikone eigentlich darstellt. Nun ist aber schon die Einleitung so voluminös, daß ich den Hauptartikel mit gesonderte Post ins Netz stellen muß. Bis dahin wünscht, mit der Bitte um fortdauernde Gewogenheit verbunden, einen flotten Tanz in den Mai:

Kraska, Abschweifungs-Ikone

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Vegetarische Hunde und resignative Homosexualität

28. April 2009

… DER NEUE TREND ZUR NATÜRLICHKEIT: GOLDEN VEGANER

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Die Ernährungsberaterin strahlt: Erstmals konnte ein vom Wolf abstammendes Tier durch gewaltfreie Überzeugungsarbeit auf Kopfsalat und Wasser-Tomate umgestellt werden!

„Alle ham’nen Hund / aber keiner ein‘ zum reden“ singt Peter Fox  nicht ohne sozialkritischen Sarkasmus in seiner Berlin-Hymne. Viele werden ihm bitter lächelnd zustimmen. Manche werden aber auch einwenden: „Was soll ick denne mit dem Köter auch groß reden? Der ist doch dumm wie Brot!“ –  Dagegen wird sich nun natürlich wieder der militante Protest der Hundeversteher und -liebhaber regen, denn wenn man in Deutschland was gegen Tiere sagt, setzt es entschieden Dresche. Und nicht zu knapp, mein Lieber! Tiere sind uns ja grundsätzlich erstmal heilig, vor allem, wenn sie nicht mehr als vier Beine haben und uns aus der Hand fressen. Im Zweifelsfall sind wie „pro Tier“, so wie wir „pro Reli“ sind oder „pro Steuersenkung“

Kürzlich sah ich einen TV-Bericht über eine seelisch verwirrte junge Frau, die im Berliner Zoo ins Eisbärengehege gesprungen war und in einer audwändigen Rettungsaktion vor dem Zerfleischtwerden durch die Bären, übrigens die Eltern von Ex-Medien-Süßi „Knut„,  bewahrt werden mußte. Zwei typische Berlinerinnen undefinierbaren Alters, vielleicht BVG-Busfahrerinnen an ihrem freien Tag,  wohnten dem Drama augenscheinlich angstbebend bei. Als es vorbei war, wendete sich einer der beiden Popeline-Blousons der Kamera zu und fauchte: „A’ar det det klaar is, uns jing det hia nuuuhr um die armen Bären, wa? Det die aamen Tiere nix passiert!!“ – In humaner Tierbehandlung läßt sich der Berliner, ja, der Deutsche generell nichts vormachen. Für hungernde Negerkinder spenden wir an Weihnachten, aber sehen wir ein Tierbaby darben, bringt es uns um Schlaf und Verstand: Bei Millionen Deutscher schrillt dann die Weltrettungsbedarfsklingel.

Aus absolut zuverlässiger Quelle weiß ich, daß etwa die ägäischen Inseln allsommerlich eine Invasion postklimakterieller deutscher Frauen mit Chiffon-Schals und Holz-Schmuck erleben, die tatsächlich kofferweise Whiskas-Dosen mit sich schleppen, um die halb verhungert herumstreunenden griechischen Straßenkatzen sechs Wochen lang zu beköstigen. Diese Damen, obschon eifrige Besucherinnen diverser Volkshochschulkurse, halten dies für Tierliebe.

Als alter Spielverderber verrate ich hier aber ein schmerzliches Geheimnis unserer deutschen Euro-Budhisten: Wenn Tiere Kohldampf schieben, dann haben sie häufig Hunger auf andere Tiere!! Süße Kätzchen sind in Wahrheit reißende Raubtiere, die dem flehenden Blick aus angstvollen Mäuseaugen herzlos standhalten, um den niedlichen Wesen das Genick zu zerbeißen. Und Hunde? Allesamt wüste Jäger und Fresser! Noch in dem zittrigsten Chihuahua steckt ein böser Wolf, der den drei kleinen Schweinchen droht, ihr Haus umzupusten und sie dann zu fressen!

Die Lösung liegt auf der Hand: Wir haben den mexikanischen Nackthund gezüchtet, den grimmen Pitbull und die lustige französische Bulldogge, die aussieht wie ein trippelnder Rollbraten mit Fledermausohren, der rotwein-beschwipst vor eine Wand gelaufen ist: Warum gehen wir nicht einen Schritt weiter und züchten endlich den vegetarischen Hund?! Meine dienstags erscheinende Tageszeitungsbeilage „Mein Einkauf“ hat es mir schon vorgeführt – den Golden Veganer, einen Hund, der sich offenbar nichts Leckereres vorstellen kann als Kopfsalatblätter an Tomatenscheiben! Auf dem Foto sehen wir den sympathischen Veganer-Rüden „Bertel von Sanftleben“, wie er seiner psychologischen Hundetherapeutin Florentine Nachtigall in den liebevollen Armen liegt und sich nach einem gewaltfreien Biß in eine Tomate sehnt.  Ein Bild, das uns alle ermutigen sollte!

Der große Natürlichkeitspreis der Firma Adobe Photoshop (in Zusammenarbeit mit der Fa. Quietscheheidi Klump & Moppels) geht heute an die Firma „H+M“. „Überwältigende Natürlichkeit in Haltung, Miene und Foto-Montage“ bescheinigt die Jury den Damen des Frühjahrskataloges. Die Methoden sind wahrscheinlich vergleichbar: So macht man Hunde zu Veganern und les hommes à femmes zu Gays. Die Neigungsversion der letzteren ließe sich als „resignative Homosexualität“ bezeichnen.

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Gewinner des diesjährigen Natürlichkeitswettbewerbs: Die sympathischen Super-Models Vanessa-Rahel-Zoe und Chiara-Chantal-Charleen

 

 

 

Perverse Universen (2)

27. April 2009
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Wer hätte das vom Ingwer gedacht! Eine Wurzel hat es faustdick hinter den Ohren!

WEITERES VON VAMPIREN IN PERVERSEN PARALLELUNIVERSEN

Prinzipiell kann man nie willentlich, sondern immer nur versehentlich und durch Zufall in ein Paralleluniversum geraten. So wie die Frau in dem einen Film da, wo sie bei der Besichtigung einer Filmstadt die Toilette sucht und plötzlich in eine wild-west-mäßige Saloon-Schießerei gerät. Trotzdem, früher war solches Realitätsflackern irgendwie seltener. Die „Wände“ oder Membrane, welche die verschiedenen Paralleluniversen trennen, sind seither immer dünner geworden – durchs Internet aber sind sie nun so gut wie nicht mehr vorhanden: Heute wohnt praktisch jeder von uns zwei Mausklicks vom nackten Wahnsinn entfernt! Bevor ich jedoch von der Welt der Sanguinarianer berichte, hier kurz ein paar Grundlagen.

Um 1725 verfaßte ein gewisser Michael Ranft ein Buch, das ich ja gern in meiner Bibliothek hätte: „Dissertatio historico-critica de masticatione mortuorum in tumulis“, was aus dem Küchenlatein der Zeit ins Deutsche übersetzt bedeutet: „Vom Kauen und Schmatzen der Leichen in den Gräbern“. Huuaarrrrgs! Da läufts einem doch schon eiskalt den Rücken herunter, oder?! Der Autor wollte mit seiner Schrift aber aufklären: Daß nämlich gar nichts Grusiges dran sei an der Geschichte aus Kislova! In diesem Dorf in Nordbosnien ereignete sich 1724 nämlich eine rätselhafte Epidemie. Inert acht Tagen starben neun Dorfbewohner – und alle hatten auf dem Totenbett zuvor ausgesagt, im Traum sei ihnen der Plagojevic-Peter erschienen und habe sie böse am Hals gewürgt!  Nun war aber das Subjekt Plagojevic bekanntermaßen schon zehn Wochen lang vollkommen tot und begraben! Wie ging das zu? Vorsichtshalber gruben die Dörfler des schlimmen Peters Grab auf – nun, er war noch da, aber, denkt euch, frisch wie zu Lebzeiten, unverwest, rosig, mit Blut an den Lippen, nur die Haare und die Nägel waren gewachsen und machten einen etwas ungepflegten Eindruck! Der Kameralprovisor (Ach! gab es in der K.u.K. Monarchie schöne Beamtentitel!) Frombald, der den Fall untersuchte, stellte fest, die Dorfbewohner hätten den offenbar untoten Deliquenten Plagojevic der Sicherheit wegen gepfählt und dann verbrannt – was sich seither bei Vampiren empfiehlt und gewißlicher wirkt als Knoblauch und Bekreuzigungen.

Weil das gemeine Volk aber gern bissl blöd ist und das agrarische Leben oft langweilig, störte man sich an den von Kaiserin Maria Theresa entsandten Aufklärern nicht weiter, sondern strickte stattdessen eifrig am Vampir-Mythos, der Südost-Europa wie eine Epidemie überrollte. Groschenheft-Autoren strickten weidlich mit, bis der irische Schriftsteller Bram Stoker 1897 mit seinem Weltbestseller „Dracula“ dem gemeinhin verbreiteten Vampir die endgültge, noch heute verbindliche Gestalt gab, die blutsaugerisch und lichtscheu durch zahllose Bücher und Filme geistert. So weit, so gut, den Rest wißt ihr. Das folgende aber vielleicht nicht.

Wenn man wie ich an der Wikipedia-Uni studiert (lebenslanges Lernen! Jetzt auch für Senioren!), kann man sich bei Recherchen leicht zu Links locken lassen, von deren Inhalt man nicht die geringste Vorstellung hatte! Einmal geriet ich bei einer harmlosen – erkältungsbedingten – Recherche über Ingwer-Tee auf eine Seite, auf der mir ungefragt, aber bereitwillig erläutert wurde, daß man etwa unter dem Begriff „figging“ die sadomasochistische Praktik verstünde, einen frisch geschälten, speziell zurechtgeschnitzten Ingwer-Pflock in den Anus des geschätzten submissiven Sexualpartners zu stopfen;was dies auslösen soll, überlasse ich gern der Phantasie geneigter LeserInnen; selten jedenfalls habe ich eine detailliertere Folter-Anleitung lesen, und natürlich bis zum Ende, denn ich bin extrem neugierig, und, obwohl stolz auf einen rechhaltigen Erfahrungsschatz zurückblickend, muß ich gestehen, mir war diese eigenwillige, wenngleich natürlich vorbildlich biologische Form von Zuneigungsbeweis völlig fremd, oder, hier kann ich einen indezenten Ausdruck leider einmal einfach nicht unterdrücken: Diese Praktik war mir 40 Jahre lang am A…. vorbeigegangen!) – Ähnliches kann ich auch von der Welt der Sanguinarianer sagen.

Zunächst einmal ist dies ein wunderschönes Wort, finde ich. Vokalreiche Wörter faszinieren mich total! Einmal hab ich fast eine Knoblauch-Vergiftung bekommen, bloß weil ich das Wort „Aioli“ so liebte! (Auch schön: adagio! Oder: Oboe!) Außerdem klingt „Sanguinarianer“ ein bißchen wie ein Indianerstamm oder nach einer speziellen spätantiken Gnostiker-Sekte aus dem indo-iranischen Kulturraum oder… – aber nein, nein, es handelt sich dabei definitionsgemäß um Leute, die „den Vampirismus als Lebensstil pflegen“, d. h. seis aus Leidenschaft und Wahn, seis aus Leckermäuligkeit und fehlgeleiteter Feinschmeckerei, gern Blut trinken, am liebsten frisches Menschenblut. Als Philosoph und gebildeter Zuschauer einschlägiger Thriller („Das Schweigen der Lämmer“, „Hannibal“) gerate ich darüber erstmal noch gar nicht in Wallung, denn ich habe sogar schon über Kannibalismus gelesen und sage daher galant: Pah, chaqu’un à son goût! 

Was mich aber dann doch im Sinne paralleluniverser Irritation verwunderte, war die Entdeckung, daß die Szene der sanguinarianischen Bluttrinker nicht nur eine wohl organisierte, disziplinierte Subkultur – ein Abkömmling von SM- sowie Gothic-Szene – besitzt, sondern daß es sich bei ihnen offenbar auch um ganz reizende, überaus liebenswerte Menschen handelt, die höchsten ethischen Anspüchen gerecht zu werden versuchen. Seit mehr als zehn Jahren folgt man einer Art Carta („The Black Veil“, = Der Trauerschleier), die mir klarmacht, warum ich bislang noch nie von Sanguinarianern gehört habe: Man untersagt ihnen, in Talk-Shows zu gehen oder sonstwie öffentlich Krawall zu machen; man empfiehlt Toleranz, Diskretion und Dezenz, gesundheitsbewußtes Bluttrinken, familiäre Werte, Solidarität, Unauffälligkeit, Gewaltlosigkeit, Freundschaft und Teilnahme am Gemeinschaftsleben. Die Schlußpassage ist so schön, daß ich Lust bekam, einen Mitgliedsantrag bei den Blutdurstigen zu stellen! Da heißt es etwa (Übersetzung aus dem Engl. von mir):

Vampir zu sein ist keine Ernährungsweise. Das betrifft nur, was wir tun, nicht was wir sind. Unsere Aufgabe ist es, die Dunkelheit zu repräsentieren in einer von Licht geblendeten Welt. Unsere Bedeutung ist, anders zu sein, und dieses Anderssein zu akzeptieren macht uns stark und einzigartig. (…) Unser Leben sollten wir als Botschaft an die Welt leben – über die Schönheit, sein ganzes Selbst anzunehmen, ohne Schuld und Scham zu leben und das einzigartige und wunderbare Wesen jeder einzelnen Seele zu feiern.“  – Irgendwie doch süß, oder? Oder? Darauf ein gutes Tröpfchen!

Und nicht vergessen: Nur zwei Mausklicks von eurer Normalität entfernt entfalten sie ihre schillernde Pracht: die perversen Paralleluniversen…

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Nie weit entfernt: der Wahnsinn

Kosmopolitische Vampir-Pornos im Paralleluniversum

25. April 2009
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Paralleluniversen sind denkbar!

BIZARRES VON NACKTEN DÄNINNEN UND ALGERISCHEN GRUPPENRAUCHERN

Was Naturwissenschaften angeht, hab ich nur die Ahnungslosen-Fakultät der Wikipedia-Universität besucht, aber es heißt, seit 1957 gäbe es Quantenmechanik-Experten, die innerhalb „unseres“ Multiversums von einer unbegrenzten Zahl von Paralleluniversen ausgehen. In diesem Zusammenhang belehrt man mich: „In den meisten Universen ist wegen der ungünstigen Werte kein Leben möglich – in anderen jedoch schon. Das beobachtbare Universum gehört zu der Teilmenge von Universen, in denen intelligentes Leben möglich ist, sonst könnten wir diesen vermeintlichen Zufall nicht beobachten.“ Schön. Erfreulich. Daß intelligentes Leben zumindest theoretisch für möglich gehalten wird, erfüllt mich mit einer gewissen Befriedigung.

Das erste Mal, bei dem ich das Gefühl hatte, versehentlich kurz ein Paralleluniversum besucht zu haben, ereignete sich in meinem 16. Lebensjahr, und zwar in Mantes-la-Jolie, einer mittleren Industriestadt 50km vor Paris. Eines Abens verließ ich verbotswidrig meine Schülergruppe, um den Ort zu erkunden, der von bereits Ortskundigen mit „abgesehen von der Kathedrale absolut extrem öde“ recht schmeichelhaft beschrieben wurde. Da ich des Französischen nicht wirklich, des Arabischen gleich überhaupt gar nicht mächtig war, folgte ich einfach, in respektvollem Abstand, einigen dunklen Gestalten, die, den Kragen ihrer Kunstlederblousons hochgeschlagen, verstohlen stadtauswärts strebten. Solchermaßen verstohlen irgendwohin Strebenden zu folgen hielt ich für eine gute Idee, um eventuell etwas Abenteuerliches oder wenigstens Sinnenaufpeitschendes aufzutun. Vorsichtshalber schlug ich meinen Kragen auch hoch.

Irgendwann schlüpften meine unfreiwillgen Führer durch eine Tür in ein Fabrikgebäude oder eine Lagerhalle (in Wahrheit: das Paralleluniversum!), und ich rechtzeitig hinterher, um zu sehen,wie sie einer Art Pförtner ein paar zerknitterrte Francs-Scheine zuschoben. Auch das, – wenn schon, denn schon! – tat ich ihnen klopfenden Herzens nach. Sekunden später ging es durch ein Schwingtor hinein: Vor mir öffnete sich ein im Halbdunkel riesig wirkender, leerer Saal mit einem etwas abschüssigem Boden aus festgestampftem Lehm. In fahl flackerndem Nebeldunst machte ich etwa drei bis vierhundert Algerier aus,  mangels jedweder Bestuhlung in Gruppen zusammenstehend, unentwegt Arabisches aufeinander einmurmelnd und ansonsten intensiv vom Rauchen enormer Mengen maisgelber Gitanes beansprucht.

Erstaunlicherweise hatte kaum einer der Nordafrikaner mehr als einen flüchtigen Seitenblick für die große Kino-Leinwand an der Stirnseite des Saales übrig, wo – ich bitte dies als reine Tatsachenwahrheit, und nicht etwa als übertreibende Fiktion zu nehmen! – in schwarz-weiß gedrehte dänische Vampir-Pornos mit arabischen Untertiteln liefen! Soweit ich das durch den dichten Zigarettendunst identifizieren konnte, drehte sich der Streifen in der aktuellen Phase wesentlich um zwei Damen (Typ Robuste ländliche Unschuld), die man in einem Labor splitternackt an die Wand gefesselt hatte, um ihnen mittels einer sadistisch anmutenden Apparatur sämtliches Blut abzuzapfen. Mit den aufgerissenen Augen eines bis dato doch eher behüteten Provinzjugendlichen beglotzte ich fassungslos die armen Entblutenden, die sich beiderseits durch opulent gestaltete, birnenförmige Naturbrüste (ohne Silikon damals) und ebenso beeindruckend naturbelassene Schamdreiecke (Wir sind in den 60ern!) auszeichneten, und ansonsten einander recht dringlich dänische Verzweiflungsschreie zuriefen, was die herumlungernden Algerier jedoch entweder kalt ließ oder möglicherweise sogar insgeheim amüsierte – anmerken ließen sie sich jedenfalls nichts. Mir aber schoß, wie so etwas ja vorkommen kann, plötzlich eine Liedzeile aus Peter Sarstedts Song „Beirut“ durch den Kopf: „And there stood I, the complete anti-heroe, brilliantly alone…“

Da stand ich, der jungfräuliche gymnasiastische Provinz-Zimperling und wohlgebügelte Seitenscheitel-Kadett, zum ersten Mal länger als drei Tage von Mutti fort, mutterseelenallein unter lauter herzlosen, womöglich dänen-feindlichen Arabern oder Berbern am Ostpol oder Blinddarm der Welt, lauschte dort verständnislos dem steten Gemurmel fremdartiger, wie Gebete klingender, kehlig krächziger Sprachfetzen, und versuchte dabei angestrengt, cool an den zusehends blutärmeren nackten Schwarz-Weiß-Däninnen vorbeizuschauen. In diesem Moment bekam ich den Paralleluniversums-Flash und wähnte mich für einen erlesenen, wenn auch hochbefremdlichen Moment in einer überwirklich großen Moschee einer in „unserem“ Universum unbekannten Version des Islam, in der man offenbar nackte Däninnen anbetet und ihnen mit Fleiß und konzentriertem Ernst fortwährend Rauchopfer von filterlosen dicken Gitanes darbietet! – Es war dies zweifellos die bizarreste Erfahrung meines damals noch jungen Lebens und die existenzphilosophische Frage: „Was, zur Hölle, MACHE ich hier?!“ brach sich mit aller Gewalt Bahn, fand aber, wie später auch meist, keine Antwort, sondern blieb in Gestalt eines stumm-bedrohlichen Rätsels oder Fragezeichens über meinem Kopf schweben, jedenfalls, wenn ich der Protagonist eines Cartoons wäre.

Soweit vorab und als teaser die erste Begegnung mit gleich zwei Weltphänomenen, die mich im nächsten Bericht noch weiter beschäftigen werden: Der Frage der Paralleluniversen und … dem Vampirwesen.

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VAMPIRESK: IN TEIL ZWEI KOMMT ES NOCH DOLLER!

Vom Verschwinden

23. April 2009
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Von der anderen Seite des Bildschirms aus gesehen

NICHT WISSEN, DASS MAN DUMM UND HÄSSSLICH IST…

Ich habe oft protestiert, wurde mal wieder der Gemeinplatz breitgetreten, das Fernsehen verblöde. Der dumme Stolz gewisser hochkultureller Herrenmenschen, die immer erwarten, daß man sofort schamrot in die Knie sinke, sobald sie lautstark verkünden: „ICH!  HABE!  NICHT MAL!  einen Fernseher!“ wollte mir immer als Indiz dafür vorkommen, daß Dummheit nicht nur gern auf große Trommeln schlägt, sondern die eigene Armseligkeit auch mit Vergnügen als besondere Auszeichnung wertet. Was soll denn das? Behauptete ich auf der gleichen Festivität mit banausischem Hochmut: „Ich HABE nicht mal eine Brille!“, würde doch auch nicht gleich ein jeder glauben, ich sähe nur das Gute im Menschen! Ein TV-Gerät ist ein Werkzeug wie jedes andere. Es macht mich nicht verdächtig, eine Kettensäge zu besitzen, ein Psychologe wäre nur gefragt, wenn ich sie Tag und Nacht nicht mehr aus der Hand legte!

Daß Fernsehen keineswegs zwangsläufig zur Verkümmerung kognitiver Fähigkeiten führe, bezog ich jedoch, ohne lange zu überlegen, auf die Welt diesseits der Aquariumsscheibe. Was mit den putzigen Damen und Herren Zweidimensionalitäten jenseits der Bildschirmscheibe los ist, hm, das verdiente füglich gesonderte Untersuchungen. Wirkt meine Vermutung unbescheiden, daß auch Menschen, die jedem Tag „im Fernsehen“ sind, gewissen Irrtümern unterliegen können? Mir will das nämlich so scheinen, ohne daß ich jetzt groß Namen nenne. Aufmerksamkeitssüchtige und Medien-Junkies, die glauben, sie müßten implodieren, wenn sich nicht fünfmal am Tag eine TV-Kamera auf sie richte, glauben oft, uns ginge es umgekehrt ähnlich, dergestalt, daß wir des täglichen Anblicks ihrer Nasen nicht entraten und entbehren könnten. Das freilich, um es in aller Härte zu sagen, ist falsch. Ich zum Beispiel komme wochenlang bequem durchs Leben, ohne ein einziges Mal Herrn Guido „proud to be:“ Westerwelle, Frau Elke Heidenreich, Küchenmeister Lafer, Lachkasper Gottschalk oder Oberklugscheißer Ranicki ansichtig zu werden. Sternchen, Stars und Stehgeiger sind mir schnuppe, und ob  ein in ganz Deutschland gesuchter Superstar nun von „XY ungelöst“ oder durch Mobbing-Agenturen gefunden wird, was verschlägts?

Ich habe gar nichts dagegen, wenn „auf dem Schirm“ gelegentlich Leute auftauchen, die z. B. irgendwas gut können: Kunstfurzer, Schnurrenerzähler, Fingerpfeifer, Politikerimitatoren, Schelme, Narren, Spaßmacher, Spielleute, Zwerge und fahrendes Volk aller Art mag seine Allotria treiben, es darf meinetwegen nach Herzenslust gefußballert, hobbygeköchelt und karaokisiert werden, was die Studios hergeben, wenn, ja wenn nur all die dort Auftauchenden nicht immer das Auch-wieder-Verschwinden vergäßen!

Wie enervierende Kinder, die, weil beim ersten Mal die Erwachsenen darüber gelacht haben, immer denselben Unfug zum allgemeinen Ennui ad infinitum wiederholen, glauben manche Quoten-Idioten, wir könnten ihrer prinzipiell nicht überdrüssig werden. 

Da sind sie aber schwer auf dem Holzweg! Die Backpfeifengesichter der allermeisten Politik-Schlingel, Pappenheimer und Erzschelme kenne ich zur genüge. Auf lange Sicht muß man mir keinen Franz-Werner Steinbeißer, keinen  Hotte Köhler oder Bundesmutti Merkel mehr zeigen! (Erst, wenn die wieder so ein Mörder-Dekolletée spazierenführt, wie neulich mal irgendwo!) Auch nicht diesen neuen smarten Gel-Heini da, mit den zig Vornamen, diesen Hadschi Halef Omar von und zu Guttemberg, auch dessen Fresse nämlich ennuiert mich kolossal! So. Das mußte auch mal gesagt werden. Möge doch das gesamte Pack und Gesindel getrost mal einen Ausflug machen und für ein gut abgehangenes Weilchen einfach fort und gestohlen bleiben! Und man nehme dieses elende Geschmeiß der Comedians, Affen und Zotenreisser gleich mit, das dominante Quietscheentchen Heidi Klump und ihre Super-Moppel auch sowie freundlicherweise diesen eklen alten Bohlen, der mir desgleichen herzlich zuwider ist! 

Was für eine Stille wär dann, eitel Kontemplation und ruhige Naturbetrachtung! Haach! Und wäre dann die Besinnung, wie Heinrich von Kleist mutmaßte, durch ein Unendliches gegangen, stellte sich auch die Anmut wieder ein und es fände sich eine Hintertür zum Paradies, vor der kein grimmer Cherub wachte! Auf die Gefahr, als ungebetener Missionar in die Nerv-Ecke gestellt oder auf die Quengel-Strafbank gesetzt zu werden, komme ich hier noch mal mit meinem Taoismus an, den ich, wenn schon, als Staatsreligion wärmstens empfehlen würde. Der ehrwürdige Meister Yoshida Kenkô nämlich schrieb folgendes:

„Nicht wissen, daß man häßlich, daß man dumm ist, daß man in den Künsten nur pfuscht, vergessen, daß man von niederem Stande, daß man alt und allen Krankheiten hilflos preisgegeben ist, sich nicht darum kümmern, daß der Tod schon ganz nahe vor einem steht, und trotzdem nicht merken, daß das eigene Streben nach Buddhas Pfad höchst oberflächlich ist – wer in solcher Weise seine Schwächen nicht erkannt hat, wie soll der das würdigen können, was andere an ihm auszusetzen haben? 

Wie das Gesicht aussieht, vermag man natürlich im Spiegel zu erkennen, wie alt man ist, läßt sich errechnen, es ist also nicht so, daß man von sich nichts wissen kann… Ich will damit keinem nahelegen, der möge sein Gesicht verschönern und sich jünger machen, aber weshalb zieht sich so einer nicht zurück, wenn er weiß, daß er zu nichts mehr taugt? Warum sucht er nicht für seinen Körper Stille und Frieden, wenn er fühlt, wie alt er geworden ist?“

Ja, warum?  – Ich fände es schön, wenn man, wenn das zugemessene Alter erreicht ist, immer dünner, durchsichtiger, geruchloser und sublimer würde, erst wie ein Hologramm, dann wie eine Spiegelung und schließlich wie ein Gerücht, das keiner mehr wirklich glaubt und das sich verflüchtigt in die Träume einiger weniger Menschen, deren Herz man einmal berührt hat. Und mehr nicht? Nein – warum?

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Verschwinden üben!

Tao des schönen Sterbens

23. April 2009
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Christoph Schlingensief, öffentlich krank

ES MAG VERSTÄNDICH SEIN, ABER IST ES AUCH … SCHÖN?

Heikles Thema heute! Vorab: Ich mag Christoph Schlingensief. Der sympathische Wirrkopf mit dem adrett verwuschelten Schopf und den blanken, lebensvollen Augen, der seine Karriere als Aufnahmeleiter bei der „Lindenstraße“ begann, hatte immer eine so charmante Art, einem auf dem Senkel zu gehen! Auch für den größten Quatsch („Deutsches Kettensägen Massaker“, „Tötet Helmut Kohl“) konnte man ihm nicht böse sein, weil sein ganzes vorlautes theatralisches Getue, Gewürge und Gefrickel immer mal wieder auch überraschend Sinn machte. Außerdem ist er Oberhausener, also praktisch ein Junge aus der Nachbarschaft. Katholisch zwar, aber auf angemessen verquälte, verschwurbelte und mit Gott hadernde Art.  Theater-Leute haben ja oft Sinn fürs Katholische, wg. der visuellen Unterhaltungswerte. [Es mag ein reichlich schlechtes Licht auf mich selbst werfen, wenn ich bekenne: Ich persönlich fands auch gut an ihm, daß ein unangepaßter, schräger Intellektuellenvogel ausnahmsweise mal nicht schwul war…] Außerdem hat er eine unsentimentale, denkwürdige Theater-Arbeit mit Behinderten und Kranken gemacht, ohne diese für seine eigene Reputation auszubeuten. Also weder Zyniker noch affiger Gutmensch: Gar nicht so einfach, sich da hindurchzulavieren! Kurzum: Nervig manchmal, okay, aber unterm Strich für mich sicher einer von den Guten!

Aber nun zum Aber. Schlingensief (47) ist krank, todkrank. Lungenkrebs. Ein Lungenflügel wurde schon entfernt, im anderen gibts Metastasen. Gut möglich, daß Christoph Schlingensief bald stirbt. Nach schwerer OP und Chemo sieht er schon ziemlich scheiße aus, er ist bleich, hat tiefliegende brennende Augen und er weint viel – und zwar häufig und gern vor laufenden Kameras. Der habituelle Selbst-Inszenierer hat es für gut befunden, seine höchst privaten Schmerzen, seine Ängste, seine Verzweiflung und sein Elend vollrohr öffentlich auf alle erreichbaren Bühnen (TV, Print-Medien, Buch) zu kotzen. Schonungslos, ungefiltert, nicht ohne Larmoyanz und Peinlichkeit. Was mich ärgert: Meine Neugier ist noch immer größer als meine Geschmackserziehung zuläßt: Ich habe Christoph Schlingensiefs gestern erschienenes Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ gekauft und gelesen – und ich bin unangenehm berührt.

Natürlich möchte ich niemandem vorschreiben, noch nicht einmal bewerten, wie sich jemand zu Krankheit und Tod stellt, wenn er selbst davon betroffen ist. Nach meinem Eindruck machen es die meisten Menschen mehr oder weniger still ab, mit sich, der Familie, ein paar Freunden, wenns hochkommt. Man zieht sich zurück aus dem Trubel und leckt seine Wunden stilvoll, wie ein kranker Wolf oder ein alter Indianer. Kaum einer, den ich je kannte, rannte, als er erkrankte, laut schreiend durch die Straßen auf den Marktplatz, um dort eine Bühne zu erklimmen, sich in der Raserei hiobsmäßiger Verzweiflung die Haare zu raufen, das Hemd zu zerreißen und mit blutiger Brust hinauf zum Himmel zu schreien: „Gott! Warum nur! Warum ich? Warum jetzt schon?“ Da ich, obwohl ein alter zauseliger Emo, der auf Beerdigungen immer als erster losflennt, dennoch ein etwas herzloses Verhältnis zum Tod habe, ist es mal gut, daß ich nicht Gott bin, – ich würde dem Schreihals und kleinen Häwwelmann nämlich kühl antworten: „Ja – was? Warum nicht du? Und wann, wenn nicht jetzt? Wann wäre es denn genehm?“

Mein Problem mit Schlingensiefs Selbstentblößungen betrifft nicht so sehr die „Tyrannei der Intimität“, also die Tatsache, daß er dem Zeitgeist entsprechend offensiv, ja brutal mit dem herumtratscht, was besser privat bliebe (ich führe auch nicht gern Wartezimmergespräche mit Senioren, die ihre mehr oder weniger fiesen Krankheiten zum Lebensinhalt machen – ich find mich selbst schon eklig genug!), – sondern daß er es offenbar für extrem ungerecht hält, daß er todkrank ist – wo er doch noch so viel vorhatte! Er will, er will, er will! doch noch so viel: Pizza essen gehen, heiraten, Kinder zeugen, im Fiebersumpf von Kamerun ein Opernhaus bauen (echt! im Ernst! Ein Schlingensief muß doch „Spuren hinterlassen“!), nachdenken, herausfinden, wer er ist, und weiß der Teufel noch, was alles. – Ja und? Wessen Problem ist das? Ohne wen hat er denn da seine Rechnungen und Pläne gemacht? Wenn Orientalen muselmanischer Richtung persönliche Zukunftspläne, und sei es nur ein Wirtshausbesuch am nächsten Tag, verabreden, flechten sie immer ein: Inşallah! Was so viel heißt wie: Falls mir nicht Gottes Hand dazwischen funkt und mich arme Eintagsfliege vorher auf die Tischplattte klatscht. Damit ist, Gottesglaube hin oder her, nämlich allezeit und immer zu rechnen, da wir, und zwar wir alle, eben ausnahmslos sterblich sind. Und ziemlich empfindlich. Wir gehen halt leicht kaputt. Auch wir ganz besonderen Menschen, wir Künstler, Gelehrte, Schönheiten und Daseins-Adlige, auch wir Ausnahmebegabungen, Genies und Unverzichtbare … selbst wir, ohne die die Welt kaum noch Grund hat, sich weiterzudrehen, werden sterben, und zwar, wie man so sagt: früher oder später.

Der Tod ist in unserer Geselschaft nahezu das einzige, was gerecht verteilt ist: Er ereilt jeden, und die meisten zur Unzeit. Aber was heißt das, Unzeit? Wer will das beurteilen? Wann ist es genug? Schließlich gibt es auch Menschen, die die Zeit zum Sterben versäumten: Nietzsche, der stolze Verherrlicher der Gesundheit und Souveränität, starb nach elenden, demütigenden Jahren als dementer Pflegefall. Walter Jens, der einst so brilliante, intellektuelle Rhetoriker ist jetzt das, was er auf keinen Fall werden wollte: ein in Windeln liegender, hilfloser greiser Alzheimer-Patient ohne Verstand. 

Die alten Griechen priesen diejenigen glücklich, die im Vollbesitz ihrer Kräfte, in Schönheit und mitten im Kampf aus dem Leben gerissen wurden. So dumm war das nicht. Weder Dummheit noch Fanatismus kann man auch den stillen Betrachtungen nachsagen, die der ehrwürdige Mönch Yoshida Kenkô dem Thema widmete:

„Wie die Ameisen scharen sie sich zusammen, eilen nach Ost und West, laufen nach Nord und Süd. Menschen von hohem und niederen Stande, Alte und Junge haben ein Ziel und haben ein Haus, in das sie heimkehren; abends gehen sie schlafen, und am Morgen stehen sie auf. Aber was treiben sie denn? Sie sehnen sich nach einem langen Leben, und sie streben unaufhörlich nach Gewinn. Welches Glück erwarten sie denn, während sie sich so plagen? Nichts als Alter und Tod stehen ihnen bevor, und sie kommen schnell, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Worüber freuen sie sich etwa, während sie auf Alter und Tod warten? (…) Dumme Leute jammern über Alter und Tod. Sie möchten, daß alles ewig währe, und sie wissen nichts von dem Gesetz der Hinfälligkeit alles Irdischen.“ [Yoshida Kenkô, „Betrachtungen aus der Stille„]

Man kann etwas lernen – ohne sich moralisch über andere erheben zu wollen. Ich tadele Schlingensief nicht. Wir überaus Mitteilungsbedürftige und Ausdruckssüchtige sind alle ein klein wenig narzißtisch gestört. Schlingensief, seit 25 Jahren daran gewöhnt, um sich und seine diversen Drolligkeiten maximalen Medien-Wind zu machen, Provokationen zu säen und öffentiche Aufmerksamkeit zu ernten, mit extra viel Theaterdonner irgendwelches Gekasper und post-Beuys’sches Sozialgemache anzuzetteln; gewöhnt auch daran, 24 Stunden am Tag auf erleuchteten Bühnen, vor laufenden Kameras und offenen Mikrophonen zu leben; begierig danach, den eigenen Namen täglich landauf landab, von Burma bis Bayreuth genannt zu hören; gesalbt, geölt und zu heiß gebadet in den Wassern massenmedialer Aufmerksamkeit – kann wohl gar nicht anders. Er will, wie Jean-Baptiste Molière, unbedingt auf offener Bühne, vor Publikum sterben. Seinen privaten Tod als Schaustück inszenieren. – Mein Gottt, soll er. Wir werden ihm den Applaus nicht verweigern, nur …

… das Tao des guten, bescheidenen Abschieds geht anders. Stiller Rückzug will rechtzeitig geübt werden. Für die Anhänger des Tao im japanischen Mittelalter war das nicht nur eine ethische, vielmehr noch eine ästhetische Frage.

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Zen-Garten: Die Welt ist auch schön, wenn wir weg sind!

 

 

 

Einiges über Bilder aus dem „Wachturm“ der „Zeugen Jehovas“

22. April 2009
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Eine schwierige Frage!

 

Ist ein rebellisches Kind im Haus?“ – so frug, im kryptischen Zusammenhang mit einem Bild von der Arbeit im Weinberg, dereinst ein Titelblatt des „Wachturms„, der bekannten Erweckungszeitung der „Zeugen Jehovas“. Diese Frage ist schwer zu beantworten. Nach meiner persönlichen Erfahrung sind rebellische Kinder selten „im Haus“, weil, sie sind meistens „feiern“, „übernachten bei einer Freundin“, „lernen zusammen für die Klausur“, das heißt also, sie gucken zusammen „Germany’s next Top-Moppel“, haben Sex und/oder nehmen div. Drogen, „machen“ also „Party“. Genaugenommen: „In da houze“ sind rebellische Kinder eigentlich nur, wenn sie Geld brauchen, oder um den Kühlschrank zu plündern. – Aber wenn nun doch mal? Was mach ich mit dem rebellischen Kind, wenn ichs daheim ausnahmsweise vorfinde? Was empfiehlt der „Wachturm“? Soll ichs vielleicht mal präventiv züchtigen? Also aus Fürsorge gut und derbe durchhauen? Vorbeugend eine schallern? Wegen Rebellentum, Unbotmäßigkeit und unbefugter Widerwortigkeit? Ach, ich weiß nicht…

Ich war auch mal ein rebellisches Kind. Ja, hätte der Herr Vater für mich ebenfalls körbeweise Weintrauben gepflückt, wär es noch angegangen, aber die stattdessen angebotenen Ohrfeigen verschmähte ich regelmäßig und verließ das Haus, während mein Erzeuger mir etwas Unflätiges oder Erzieherisches hinterherbrüllte. Ich hielt ihn damals, ehrlich gesagt, für ein ziemliches Würstchen. Es ist das Vorrecht der rebellischen Jugend, aus dem Überschwang mangelnder Lebenserfahrung arrogante Urteile zu fällen. Heute weiß ich, daß Würstchenhaftigkeit ein Zustand ist, in den ein Mann der heutigen Zeit schneller hineinrutschen kann, als er glaubt. Besser, man akzeptiert eine gewisse Grundlächerlichkeit des gemeinen Gockels, dann ist man später nicht so beschämt. Und ehe sich die Damenwelt jetzt etwas einbildet: Der Weg von der Rosenknospe und Märchenfee zur Schnepfe, Schnalle oder Zicke ist ebenfalls abschüssig und schlüpfrig!

Eine ganz andere Frage, die mich interessiert, weil ich heut schon wieder zum Quengel-Trainer und Denksportwart Reinhard Haneld muß, ins Seminar für Bildästhetik und Hermeneutik, ist ebenfalls von den „Zeugen Jehovas“ aufgeworfen worden:

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„Ist es richtig, Bilder zur Anbetung zu verwenden?“ – so fragt hier bang eine Großmutter, Trümmerfrau oder Mutter Oberin, die, während ihre in einem höchstwahrscheinlich harten, arbeitsreichen Leben abgearbeiteten, knotigen Gichthände einen Rosenkranz befingern, das miniaturisierte Bildnis eines halbnackten jungen Mannes, den man gerade totgemartert hat, weniger betrachtet als argwöhnisch beäugt oder aber, besser, ahnungsvoll seherisch durch ihn hindurch visioniert. Tja, darf man? Die einen sagen so, die anderen so. Ikonoklasten die einen, Ikonodulen die anderen. (Wenn Ihr nicht wißt, was das ist, schlagts halt bei Wikipedia nach!) Die Lösung liegt in einem entschlossenen Es-kommt-darauf-an! Worauf? Nun, was auf dem Bild zu sehen ist. Bei Jesus wird in der Regel ein Auge zugedrückt. Einen gekreuzigten Frosch anzubeten, oder, wie kürzlich in der taz abgebildert, Bayern-Trainer Klinsmann am Kreuz, das ist schon problematischer.

Regelrechter Moralalarm schrillt jedoch, wenn, wie im folgenden zu sehen, eine junge Dame, möglicherweise ein halbes rebellisches Kind, sein Spiegelbild anbetet. Hier hat Satanas das Schminktischchen reich gedeckt! 

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Fräulein Kesse Lippe auf dem Weg zur Hölle

Wie man sieht, hat das Fräulein sich eine frivole Schleife ins Haar gemacht und zieht gerade seinen „Schmollmund“ mit Lippenstift nach!  Fräulein Kesse Lippe wird daher leider in der Gosse landen! Da nützt dem Backfisch auf dem Weg zum Gefallenen  Mädchen auch nicht das weiße, gestärkte Krägelchen oder der strenge Pferdeschwanz. Tut mir leid! Dieses Girl ist verdammt! Es hat schon vom süßen Gift der Sünde (Parfüm!) genascht! Später wird es mit Adam ausgehen, und bei der Rückkehr vom Kino gibt es Knutschen mit Zungenkuß, und „sie“ wird fragen: „Kommst du noch auf einen Apfel mit ‚rauf?“ Kehrt bloß um, im Fallen begriffene Mädchen! Meidet den verderbten Schminktisch, verabscheut den Spiegel und den kristalllüsternen Flakon! Es weilt kein Segen drauf!

Segen hingegen bekommt überreich, wer auf Jehova vertraut. Sollte ich je Lust haben, nackt, nur in einen Fransenvorhang gewickelt, in einen vergitterten Keller zu springen, in dem sich drei halbverhungerte männliche Löwen sowie eine wohl kaum weniger gesättigte weibliche Löwin befinden, so werde ich umgehend Jehova anrufen und bitten: „Hol mich hier ‚raus!“

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Irgendein Bruder Ephraim oder Hesekiel im Dschungelcamp

 

Alles neu! Alles gut?

19. April 2009
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Rennen, um wenigstens den Platz zu behaupten: Alice und die Königin

 Reinhard Haneld läßt das Neue alt aussehen:

ÜBER DEN KULT DER INNOVATION

Wer die schlichte Suchwort-Kombi „Jetzt neu“ googelt, bekommt knapp 4 Mio. Seiten geliefert. „Neu“ ist Konsum-Imperativ, aufmerksamkeits-ökonomische Schlüsselqualität und allgemeines Qualitätsversprechen. Neu ist schon mal gut! Betrachtet man Gebiete wie Ökonomie, Politik, Kunst und Kultur, so scheint sich heute Bertolt Brechts lyrische These aus den 20er Jahren zu bewahrheiten: „Alles Neue ist besser als alles Alte“! 

Aber das Neue ist nicht harmlos. Es kommt nicht einfach zum bereits Existierenden hinzu, es verdrängt Bewährtes, macht es zu Altem, Veraltetem. Immer schneller dreht sich heute die Innovationsspirale: Das Neue von heute ist morgen schon seinerseits wieder veraltet. Der ökonomische und wisssenschaftlich-technologische Innovationsdruck ist ungeheuer. Auf vielen Gebieten folgen wir heute der Logik der „roten“ (bei uns: schwarzen) Schach-Königin aus Lewis Carolls „Alice hinter den Spiegeln“: 

Nach einem rasanten Wettlauf mit der Königin, bei dem sie allerdings beide keinen Schritt vorwärtsgekommen sind, japst Alice: „…in unserer Gegend… kommt man im allgemeinen woandershin, wenn man so schnell und lange läuft wie wir eben.“ Die Königin aber versetzt verächtlich: „Behäbige Gegend! Hierzulande mußt du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woandershin zu kommen, muß man noch  mindestens doppelt so schnell laufen!“ Darauf weiß die Alice die einzig vernünftige Antwort: „Ich möchte bitte lieber nicht!“

Wir haben allerdings keine Wahl. Laufen wir im Hamsterrad permanenter Innovation nicht mehr mit, dann fliegen wir vom Laufband, gehören zum alten Eisen, geraten in Verdacht, den karriere-kategorischen Imperativ des „lebenslangen Lernens“ nicht mehr zu befolgen, und zur Strafe werden wir bald die einfachsten Dinge nicht mehr bewältigen können: Lesend und schreibend kommunizieren, telefonieren, fotographieren, unseren Fernseher programmieren, unser Auto fahren. Wer treibt wen? Treibt die Erneuerung uns mittlerweile schon vor sich her?

Immer war das nicht so. In vormodernen Epochen stand man dem Neuen mit Distanz und Skepsis gegenüber. In der Antike zum Beispiel, also bei denen, die man früher „die Alten“ nannte: Entweder leugnete man die Existenz des Neuen gleich ganz (Prediger Salomo: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“) oder schätzte es gering wie in der römischen Republik, in der man verächtlich auf den „homo novum“ herab sah, den Emporkömmling ohne die Abstammung aus einer der alten Familien Roms. In jenen Zeiten hatten es neue Bücher und Autoren schwer: Besser, der New-Comer publizierte unter fremdem, bereits etablierten Namen! Und wer reich werden wollte, in dem er eine neue Religion begründete, tat gut daran, den neuen Kult mit Altbekanntem zu verbinden. Das Alte, Bewährte versprach Sicherheit und Gewißheit. Die Ordnung der göttlichen Schöpfung war endgültig festgelegt – was konnte da überhaupt neu sein?

Nur langsam setzte sich die Akzeptanz des Neuen durch – die christliche Religion wirkt dabei paradoxerweise als Bremse und Motor zugleich! Sie brachte hervor, was sie zugleich mit ängstlichem Mißtrauen beäugte: die Neuzeit. Ein Dynamik entsteht, die sich schon bald nicht mehr aufhalten läßt. Das Alte, Hergebrachte verliert seine Ehrwürdigkeit, das Neue an sich wird zum Versprechen auf Besserung, Befreiung, ja, Erlösung…

Am Dienstag, den 21. April 2009 ist es um 20.00 Uhr wieder soweit: Der in Duisburg und Umgebung schon beinahe bekannte Philosophiedidaktiker Reinhard Haneld hält in der hiesigen Volkshochschule einen seiner interessanten Vorträge, bei denen es wie immer viel zu staunen und zu grübeln, manchmal auch etwas zu lachen gibt, sowie einen Sack voll Antworten auf Fragen, von denen man gar nicht wußte, das man sie auf dem Herzen hatte. – Also ich geh da wieder hin!

 

 

 

Winterseels Jour Fixe (VI): Gefühlsbuddhisten verschmähen allzu Gelecktes

17. April 2009
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"Wer vermag es denn ewig zwischen diesen Dingen zu wohnen?" (Yoshida Kenkô)

MÖBELVERBRENNUNGSGESÄNGE IM HASENKOSTÜM

Mann, Leute, ich sag euch – letztens beim Oster-Jour Fixe war vielleicht der Teufel los! Es drängte sich regelrecht in Scharen das erkenntnisdurstige Volk in Traurigkeitslehrer Arnold Winterseels Salon: Oster-Marschierer, Oster-Flüchtlinge, Jünger des Auferstandenen, Suchende, Schüchterne und Süchtige, Schweiger und Scharlatane, schräge Vögel und natürlich die üblichen Kaputtniks wie Sufi-Süffel Enver Konopke, oder die endlich wieder aufgetauchten Aquavit-Zwillinge (siehe das Foto von Hauke und Hinnerk im Artikel über Männer-Imitate!), die, rotwangig und puppenlustig, wie es nur diplomierte Naturburschen sein können,  blanken Auges von der Kieler Windjammer-Parade erzählten. 

Autisten-Freund Fredi Asperger trug noch immer das überdimensionierte Hasenkostüm, in dem er, an den Werktagen der Karwoche, Flyer vor Lidl verteilt hatte; mir – denn zu mir spricht er manchmal – vertraute er an, daß er ernstlich darüber nachdenke, sich als „freier Honorar-Hase“ selbständig zu machen, daß ihn darüber hinaus aber das braune Puschelfell, der weiße Pompom und die riesigen Ohren auch davor bewahrten, „endgültig zu vermenschlichen“, wofür es sich schon einmal lohne, „zu schwitzen wie ein Schwein“. Ich ertappte Miß Cutie dabei, wie sie heimlich zwei oder drei naheliegende anzügliche Wortspiele herunterschluckte und quittierte dies mit einem dankbaren Augenzwinkern, denn leichthin dahergesagte Anspielungen sexuellen Inhalts können bei Fredi stundenlange Katatonien auslösen und an mir bleibt dann wieder alles hängen!

Alle waren aber eigentlich nervös und gespannt wie Flitzebogen, weil Winterseel launig ein „fernöstlich-klösterlich-österliches Kontrastostern“ angekündigt hatte, und zwar vornehmlich in Form eines Überraschungsgastvortrages! Der japanische Gast, Professor Owoni Ni’kea, Experte für Gefühlsbuddhismus und Wohlfühlästhetik an der renommierte Kyotoer Universität für interintellektuelle Glaubensfragen, weilte dabei schon längst unter uns, doch die Bescheidenheit, Unauffälligkeit und Zurückhaltung des kleinwüchsigen Asketen hatten diesen bis zur fast totalen Durchsichtigkeit sublimiert, und wir mußten ihn erst durch langanhaltenden Ermutigungsapplaus dazu nötigen, sich in unserer Mitte, sozusagen, zu materialisieren. Lange Zeit war der wechselseitigen Verbeugungen kein Ende. Unmerklich gingen die Höflichkeitsbezeugungen dann aber doch in einen ninjaschwert-scharfzüngigen Vortrag über Wohnkultur über, in dem der Professor, Träger mehrerer Schwarzgurte für Möbelrücken, angewandtes Feng Shui, Heil-Chi usw. u. a. schockierende Fotos aus Prospekten deutscher, dänischer und schwedischer Möbelhäuser herumzeigte, um dann feierlich die Worte des Mönches und Möbel-Asketen Yoshida Kenkô zu rezitieren:

„Es ist nicht nötig, daß alles im neuesten Stil und besonders prunkvoll ist. Wenn die Bäume einen ehrwürdig alten Anblick bieten und in dem gar nicht peinlich gepflegten Garten alles wild durcheinanderwächst, die Veranda und die Hecke am Zaun verträumt daliegen, die umherstehenden Gegenstände ein wenig altertümlich sind und keine besonderen Ansprüche stellen, so wird man in seinem Herzen tief davon bewegt. Sind aber seltene und prachtvolle Geräte nebeneinandergereiht, die von vielen Künstlern aus China und Japan kostbar gefertigt wurden, und sind im Garten die Gräser und Bäume kunstvoll gestutzt, so ist das ein sehr trauriger Anblick. Wer vermag es denn ewig zwischen diesen Dingen zu wohnen? Wenn ich dergleichen sehe, muß ich stets denken: In einem Augenblick kann doch alles wie Rauch vergehn.“

Wir hatten dann mehrheitlich allerdings stattdessen „in Rauch aufgehen“ verstanden und hielten es daher für passend, dem liebenswerten Asiaten als Gastgegengeschenk stehend John Lennons Möbelverbrennungslied „Isn’t it good, Norwegian Wood“ vorzutragen, weil es dem allgemeinen Tenor, allzu geleckte („stylische“) Wohnungsinnenarchitekturen strikt abzulehnen, entgegenzukommen schien. 

Froh, gestärkt und spirituell aufgemöbelt gingen wir auseinander, gezielte häusliche Ordnungs-Verwuschelungen und -Zerzausungen planend. Ich konnte gar nicht schnell genug nach Hause kommen, um sofort auf meinem Balkon alles wild durcheinanderwachsen zu lassen! Meine Hast mußte auf Passanten freilich etwas fremdartig wirken, zumal mir doch ein inkl. Ohren zwei Meter großer Hase keuchend hinterhergehoppelt kam, der es jedoch die ganze Strecke über verstockt verschmähte, mir ein einziges „Nun warte doch mal!“ hinterher zu schnaufen.

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So mags der Wohlfühlbuddhist: Kunstvoll verwuschelte Waldwohnung in Japan

Die Schönheit und Melancholie der Dinge

17. April 2009
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吉田 兼好; Yoshida Kenkô (* um 1283, † 1350)

Daß ein religiöser Mensch ausnahmsweise auch klug, gesittet, bescheiden, still und fein empfindend sein kann, bewies zum Beispiel der buddhistische Mönch Yoshida Kenkô (jap. 吉田 兼好; * um 1283, † 1350) mit der folgenden elegischen Betrachtung:

„Würde man nicht hinschwinden wie der Tau auf dem Adashi-Feld und nicht flüchtig vergehen wie Rauch auf dem Toribe-Berg, sondern ewig leben – wie könnte man da die zaubervolle Melancholie erfassen, die in allen Dingen webt? Gerade ihre Unbeständigkeit macht die Welt so schön. Unter allen lebenden Wesen ist des Menschen Lebensdauer am längsten. Die Eintagsfliege wartet nur auf den Abend, um zu sterben, und die Sommerzikade weiß nichts von Frühling und Herbst. Wie sorglosen Herzens lassen aber wir ein ganzes Jahr vorübergleiten? Und doch können wir uns, wenn wir uns gierig und ohne zu ermatten, ans Leben klammern, der Empfindung nicht erwehren, es sei nur der Traum einer einzigen Nacht. Was rechtfertigt denn unseren Wunsch, in dieser hinfälligen Welt unsere unerfreuliche Gestalt für immer zu bewahren? Je länger man lebt, desto mehr Gründe ergeben sich, bestürzt über sich selber zu sein. Man sollte sterben, bevor man noch vierzig Jahre alt geworden ist. Lebt man länger, so verliert man die Fähigkeit, sich seines Aussehens zu schämen, man sehnt sich danach, sich mit den anderen noch umherzutreiben, bringt seine letzten Jahre damit zu, sich in die eigene Nachkommenschaft zu vergaffen, und möchte deren Erfolge unbedingt noch miterleben. Immer gieriger klammert man sich nun vollends an die Welt und kann die Schönheit und Melancholie der Dinge nicht mehr empfinden – es ist jammervoll!“ 

[Tsurezuregusa, dtsch: „Betrachtungen aus der Stille“]

Mein Herz ist zu etwa 80% voller Zustimmung. Ich würde die Betrachtung evtl. etwas vom erreichten Alter lösen: Zum einen wünschte man auch manchen deutlich jüngeren Zeitgenossen etwas von der Fähigkeit, „über sich selbst bestürzt zu sein“, zum anderen hat sich, wenigstens bei mir, die Fähigkeit, mich „meines Aussehens zu schämen“, erst weit nach meinem vierzigsten Lebensjahr sprunghaft entwickelt. Auch Meister Yoshida Kenkô wurde ja immerhin 67 Jahre alt. Trotzdem bemühe ich mich, seinem Weg zu folgen: Ich nehme meine „unerfreuliche Gestalt“ zunehmend aus der Schußlinie, sehne mich nicht mehr danach, mich „mit den anderen noch umherzutreiben“ – und meine werte Nachkommenschaft kann mir ebenfalls aus guten Gründen derzeit gestohlen bleiben. So. Habe ich mich vom Anhaften an weltliche Dinge gebührend gelöst?

Noch nicht restlos. Am Samstag gibt es hier in der Oper Händels „Giulio Cesare“, und die Gattin und ich haben zwei gute, teure Karten. Da möchte ich schon noch gern hin – schließlich geht es bei Händel letztlich auch nur darum: um die Schönheit und Melancholie der Dinge…

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Edle Dame, die Abendkühle geniessend