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Brüderle im Geiste. Ein Gesinnungsaufguss

31. Januar 2013
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Der Mann kann nicht aus seiner Haut! Wie? Kann er doch?

„Deutsche* Mädchen sind unwiderstehlich, der Zauber des Anorganischen… Viele Schmerzen sind besser als einer.“

Samuel Beckett, Brief an Mary Manning Howe, 30. 8. 1937

In meinen Kreisen, die freilich recht kleine Kreise sind, die von weitem eigentlich mehr wie Punkte aussehen, sehr, sehr wenige Punkte überdies, eigentlich kaum zu erkennen oder überhaupt der Rede wert, in meinen Kreisen also gilt es neuerdings als de la mode und unfein, sich über die allobwaltende Dummheit zu empören. Wie es schon ein alter Tao-Meister der Tang-Dynastie ausdrückte: „Der Jadefisch des Kaisers hat große Macht – aber kann er den Milchsee austrinken, in dem er schwimmt?“ Auch wenn ich den weisen Chinesen gerade erst erfunden habe – er hat doch recht! Mit unseren zierlichen Teelöffeln können wir den See der Imbezilität nicht trocken legen, auch wenn unser See, der mediale Jahrmarkt, nicht mit kaiserlicher Kamelmilch, sondern mit lauter Laberquark gefüllt ist. Der Laberquark hört auf das Unwort des Jahres, das ich ebenfalls frisch gekürt habe. Es heißt „Debatte“ und ist ein Unwort, weil ihm nichts entspricht, denn ein Tsunami im Teetässchen ist keine Debatte, sondern allenfalls ein erzpeinlicher, unbeholfen humpelnder Zwergenententanz ums Goldene Quotenkalb (Bambi)! – Heute ist mir nach großzügigen Metaphern.

Unser lieber, lieber Friedrich Hölderlin, der heuer auch schon 180 Jahre tot gewesen sein wird, erfand seinerzeit eigens einen Griechen namens Hyperion, um ihn vor Abscheu zitternd und total unheilschwanger seufzen zu lassen: „So kam ich unter die Deutschen…“ Diese wiederum kamen dann im Gegenzug nicht besonders gut weg. Die heutigen Deutschen, dicke, rosige Zwerge mit blanken, arglosen Idiotengesichtern sind nicht mehr satisfaktionsfähig und der Kritik von Großlyrikern gar nicht wert. Sie sitzen in ihren Werkstätten und treiben Allotria, zum Beispiel bei der Aktion LiLiPuT („Linke Linguisten Putzen Texte“), wo sie fromme Reinigungslieder summend vor großen Stapeln alter Kinderbücher hocken und, die Zungenspitze zwischen den Lippen, mit roten Wangen und Ohren, daraus das Wort „Neger“ ausradieren, wo immer sie es finden. Die Lage der so ungut Bezeichneten bessert sich bereits stündlich! Wenn sie mit den Fibeln durch sind, radieren sie bei Hesse, Kant und Shakespeare weiter, bis alles reinlich und fromm strahlt wie frisch gewichstes Resopal. Die vom Radieren übrig geblieben Fusseln stecken sie sich in die Stumpfnase. Die Deutschen!

Soll ich, ganz ausnahmsweise doch den Löffel mal ins enorme Gewässer tunken? Ach, was soll die blöde Konsequenz – ich tu’s einfach mal! Leider bin ich so furchtbar träge und aus Sicherheitsgründen schwer entflammbar, so dass ich dem Flächenbrand der „Debatte“ über „Sexismus“ wieder mal meilenweit hinterhaste, mit meinem Gießkännchen voll Öl, aber sagen will ich’s doch; und ich mache beim Schreiben sogar extra ein spitzbübisch-anzügliches Rainer-Brüderle-Gesicht, obwohl die Gattin schon rüberguckt und die Stirn runzelt. Also: Schlimm, schlimm, schlimm! ist der Sexismus alter Männer!

Der Sexismus junger Männer ist allerdings noch tausendmal schlimmer, wie ich aus biographischer Erfahrung weiß und hiermit bekenne: Einst hatte ich unkeusche Gedanken! Als junge, schüchterne Testosterondrohne vulgo glutjunger Pubertäts-Zampel litt ich nämlich unter starker Heterosexualität und daraus resultierender innerer Überhitzung; infolgedessen zog ich sündiger Begierde halber fast täglich Frauen aus, ganz nackend! Im Supermarkt, im Schützenfestzelt, am Freibadstrand, sogar auf dem Schulhof! Meine Phantasie war unersättlich, machte vor nichts und niemandem halt und wäre sexuell äußerst belästigend gewesen, hätte irgendjemand etwas davon mitbekommen (z. B. Mutti!), zu mal ich ein schlampiger Sexist war, der die Damen hinterher nicht mal wieder anzog, sodass sich achtlos beiseite geschobene, traurig verkrunkelte und zerknitterte Kittelschürzen, Dirndl und Business-Kostüme in beträchtlichen Haufen unter meinem Herrenhormonsofa sammelten. Ekelhaft! Mach das mal jemand weg da!

Später arbeitete ich hart an meiner Kultivierung, weil man mit plumper Anmache kaum das Herz intelligenter Frauen gewinnt, um die es mir aber kapriziöser Weise meist zu tun war. Von anderen Körperteilen ganz zu schweigen. Zwar heißt es: „Die Einfältigen erlangen das Himmelreich“, aber das ist, wie die meisten biblischen Weisheiten, stark mit Wunschdenken durchsetzt. Wie es der Zufall will, heißt die derzeitige Debatten-Weinkönigin Laura Himmelreich, ein Name wie von Thomas Mann oder Heinrich Böll erfunden, den beiden ungekrönten Königen übertrieben gebutterter Namenserfindung.

Frau Himmelreich trifft also nachts Herrn Brüderle an der Bar, wo er sich nach einem 15-Stunden-Politiker-Arbeitstag ein paar Gläser Wein gönnt. Ich gönne da durchaus mit. Und? Sagt sie vielleicht: „Trink, Brüderle, trink!“? Das wäre wohl zu nahe liegend. Stattdessen ranzt sie ihn aufs impertinenteste und altersrassistischste an: „Wie fühlt sich das an, in Ihrem Alter (!) noch (!) Hoffnungsträger der Partei zu sein?“ Was soll ein älterer, in Würden ergrauter, soignierter Herr auf so eine scheißblöde Anmache entgegnen? Vielleicht: „Und wie fühlt sich das an, unbedarft, weiblich, blond, frech und indezent zu sein?“ Tja, ich sollte sein Berater werden! Stattdessen zieht er sich leider, möglicherweise sind seine Wachsamkeit und sein Stilgefühl vom Wein etwas erodiert, mit verrutschten Halbanzüglichkeiten aus der Affäre. Was? Was Halbanzüglichkeiten sein sollen? Dumme Frage. Noch nie jemand halb angezogen gesehen?

Bedauerlicherweise zieht er sich damit gar nicht aus der Affäre, der Brüderle, sondern stolpert geradewegs in eine. Öffentlich! Mit Frau Himmelreich! Und mit zigtausenden weiterer Opferfrauen, die twitterhaft aufschreien, weil sie unter uncharmanten Männern und deren Flirt-Defiziten gelitten haben. Debatte! Debatte! Die Deutschen und der Sexismus! Ich würde mich, angesichts derartiger Hysterie, gern unter einer geschwätzabweisenden Burka verstecken! Und durchs Gesichtsgitter „Entschuldigung! Entschuldigung!“ greinen; andererseits beschleichen mich klammheimlich mitfühlende Solidargefühle. Wir sind halt Brüderle im Geiste. Und, ach, bei der Gelegenheit: Darf man eigentlich noch „Frauen“ sagen?

* Im Original heißt es bei Beckett: amerikanische Mädchen, aber das ist ja wohl kaum weniger sexistisch!

 

 

 

 

 

 

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Das Tao der Diva (Sex im Altertum)

16. Juli 2012

Weise Frau: Marlene

Für Kenner. Arte nun wieder: Mitten im Sommerloch bekam ich kostenlos einen meiner Zehn-Unsterblichen-Lieblingsfilme kredenzt: Altmanns The Long Goodbye. Dass so was noch gezeigt wird! Elliot Gould, der beste, schrägste, tragischste, jüdischste und komischste Phillip Marlowe aller Zeiten. Allein die breit ausgespielte Eingangsszene, in der er vergeblich versucht, seine Katze per ausgeklügeltem Dosenfraß-Etikettenschwindel mit falschem Futter zu betuppen, hat Beckett-Format! Beim Wiederanschauen fiel mir auf, dass Gould den bierernsten Marlowe mit der Körpersprache von Groucho Marx beseelt. Das fanden die Fans des humorfreien Humphrey Bogart damals  empörend!

In den Sexigern. Jungvolk, macht mal das Handy mit den Porno-Clips aus und lauscht, wie es früher war! Das ist lehrreich!  In der spät-adenauerschen Holzapfelzeit hießen die Mädchen zum Beispiel noch Renate, Petra, Jutta oder sogar Agnes von. Honigblonde Zöpfe trugen sie oder eine trockene Hippie-Krause und dazu noch neongelbe Nylon-Unterröcke, die bösartig statische Elektrizität verknisterten, wenn man hektisch versuchte, sie ihnen über den Kopf zu streifen. (Gibt es die Bekleidungskategorie „Unterrock“ heute noch? Ich meine – außer bei den Amish People?) Beim Spazieren-Küssen im Wald verdrehten sie die Augen, dass man nur noch das Weiße darin sah. Es war noch Goethe-Zeit und manchmal der blanke Horror. Die Beatles wollten bloß meine Hand halten. Heidrun auch. Mehr war nicht. Wilhelm Reich empfahl aus sozialpolitischen Gründen dringend sexuelle Befriedigung, sagte aber leider nirgends, wie und mit wem. Zum Äußersten, dem Geschlechter-Verkehr kam es natürlich nicht; in der Tanzschule wurde unerbittlich „Hey Jude“ gespielt, wozu man Ingrid und Gudrun andauernd auf die spitzen Schuhe trat und vor lauter purem Selbstekel auf der Oberklippe und in den Handflächen schwitzte. Man muss sich das vorstellen: Man war Zeitgenosse von Bob Dylan und Lou Reed – und ging in die Tanzschule! Slow-Fox und lateinamerikanisch Standard. Gott war offenbar tot oder senil.

Blindbacken. „Der Aufschub bildet das Wesen des Lebens.“ (Jacques Derrida) – Stimmt vielleicht, für notorische Prokrastinierer wie mich sowieso. Man könnte aber auch sagen, Leben ist wie Blindbacken. Blindbacken bedeutet, so habe ich gerade von der Gattin gelernt, dass man zum Beispiel Blätterteig hat, als Trägermaterial für etwas Leckeres, und den backt man erstmal vor und belegt ihn dabei, damit er nicht vorzeitig aufgeht, mit Blindmaterial, zum Beispiel Kichererbsen, die später keine Rolle mehr spielen, und erst dann kommt das Eigentliche auf den Teig, wobei dieser Zeitpunkt im Leben leider fast nie eintritt, denn das Eigentliche, zum Beispiel Blaubeeren, Ziegenkäse und Mango-Chutney, kommt immer zu spät. Einfacher Syllogismus: Das Leben ist im Wesentlichen halbgarer Blätterteig mit verbrannten Kichererbsen – also immer im Aufschub. Erfüllung ausgeschlossen. Die Hoffnung machts. Wir tanzen in einen Morgen, den es nicht gibt. Immerhin haben wir Kichererbsen.

Yüz yıl uyuyan masal prensesi. Etwas kompliziert auf türkisch, auf deutsch einfacher: Dornröschen. Ich hätte nie gedacht, dass Märchen für mich noch mal erkenntnisfördernd sein könnten, aber genau das ist es: Azizze, 19, Abiturientin, meine Nachhilfeschülerin, mein teilzeitweise adoptiertes Sorgenkind, ist Dornröschen! Sie tut nichts, sie weiß nichts, sie interessiert sich Null für gar nichts. Sie schläft einfach, zehn, zwölf, vierzehn Stunden am Tag, das ist ihr Existenzmodus, schön, sanft, unberührt von jeder Art Leben. Sie braucht nicht mal ein Kopftuch. Weltenentrückt im begriffslosen Schlummer, wie die narkoleptische Prinzessin aus Grimms Fantasy-Repertoire. Alles, was sie zu wissen müssen glaubt, steht im Koran. Den sie freilich nicht wirklich versteht, denn sie kann ja kein arabisch, das allerdings dann immerhin auswendig. Irgendwann, vielleicht in hundert Jahren, kommt die Erweckung resp. Erlösung. Wenn diese die Form eines Prinzen annimmt, wird das evtl. in Kauf genommen. Und ich habe sie trotzdem durchs Abi gepaukt! Ich möchte dies als dezente Eigenreklame verstanden wissen. Mag. Kraska: Ihr Mann für aussichtslose Fälle!

 Marlene. Manchmal ist das Leben wie der MDR: Ein Idiotenprogramm für überalterte Debile mit habituellen kognitiven Defiziten. Ein jeder kennt das gut: Es gibt Tage, da glaubt man, von lauter Schwachköpfen umgeben zu sein. Aber, bitte, Vorsicht: Eine gefährliche Situation! – man vergisst nämlich darin leicht, dass man selber auch keineswegs die hellste Birne am Leuchter ist. Dieser Irrtum ist so verbreitet, weil er im Alltagsleben einfach unmittelbar plausibel erscheint: Ein vom Hirn-Schimmel bedrohter katholischer Klotzkopf bekommt den Büchner-Preis, obwohl er nachgewiesenermaßen nicht einen einzigen korrekten deutschen Satz zustande bringt. Ein Philosophieprofessor macht Weltkarriere, während er zerebral seit Jahren oder Jahrzehnten im Koma liegt. Ein lausiger Gurkenhobel-Propagandist, der seine Weltlaufbahn vor dem Neuköllner Karstadt begann, wird millionenschwerer TV-Moderator und gefeierter Quizmaster. Nur man selbst, das genuine Originalgenie, bleibt zurück, wird nichts, verdient nichts, und keiner kennt einen. Ist das nicht empörend? – Ach, eher nein. Machen wir uns nichts vor: Ruhm ist für Idioten. Als Maximilian Schell das Kunststück vollbrachte, eine Film-Doku über die Dietrich zu drehen, ohne eine einzige Bild-Aufnahme von ihr zu haben, teilte die Diva mit brüchiger Stimme am Telefon mit: „Über mich wurden schon 50 Bücher geschrieben, Ich lese die nicht. Ich gehe mich einen Dreck an.“ Womit ihr Genie endgültig bewiesen ist.

Zug um Zug: Umzug (Hegel und das Tao 2.0)

3. Juli 2012

Home, sweet home…

Unter den philosophischen Großzauseln des 19. Jahrhunderts steht mir Hegel eigentlich am fernsten; gar zu monströs und abwegig erschien mir immer sein monumentales Weltgeistgebastel, trotz allem Respekt, – den ich aber freilich auch Menschen entgegenbringe, die in lebenslanger Hobby-Fron im Keller den Kölner Dom maßstabgerecht aus Streichhölzern zusammenleimen: eine grandiose Leistung, das ja, das schon, aber doch letzten Endes von geringem Nutzen für die Menschheit. – Was mir den schwäbischen Starkbierdenker trotz seiner bierernsten Humorlosigkeit dennoch ein wenig liebenswert macht, ist seine zutrauliche und freimütige, aber doch dezidierte Ablehnung der Alpen.

Der Anti-Romantiker fand sinn- und vernunftlos aufgehäufte Gebirge schlichtweg banal; bei einem Ausflug in die Berner Alpen notierte er vorbildlich herzenskühl: „Die Vernunft findet in dem Gedanken der Dauer dieser Berge oder in der Art der Erhabenheit, die man ihnen zuschreibt, nichts, das ihr imponiert, das ihr Staunen oder Bewunderung  abnötigte. Der Anblick dieser ewig toten Massen gab mir nichts als die Vorstellung: es ist so.“ Das nenne ich mal konsequent und furchtlos gegen den Mainstream gedacht! Heilige Indolenz der Vernunft!

An den anti-alpinen Panlogisten  musste ich gerade denken, weil ich derzeit ohne Orientierung und nennenswerten Mundvorrat durch die Schluchten des Kartongebirges klabautere. König Ohneland muss nämlich sein Weltreich, in dem die Schreibtischsonne nicht untergeht, in eine ALDI-Tüte packen, bzw. in die Tüte kommen natürlich nur die Wertsachen, aberhunderte von Umzugskisten aber wollen mit Büchern befüllt werden. (Für unsere Kleinen: sog. „Bücher“ waren einstmals archaische, Gemütlichkeit und Wohnlichkeit stimulierende, Gelehrsamkeit simulierende, aber durchaus auch sperrige und in der Masse bleischwere Speichermedien aus der Goethe-Zeit; „Goethe“ indes nannte man so eine Art Sprachspielprogrammierer aus der Weimarer Puppenkiste; „Weimar“ wiederum ist … ach, ich hab keine Lust, das jetzt alles zu erklären, Mann!) Jedenfalls: totales Buddelschiff-Rätsel-Syndrom – ich frage mich, wie ich den ganzen Kram eigentlich je in mein winzig-karges Wohnbüro-Kloster bekommen und darin beherbergt habe, ohne selbst vor der Tür bleiben zu müssen.

Mein großes Tao-Buch, das wie immer nur allzu Recht hat, empfiehlt Männern meines fortgeschrittenen Alters, allen Besitz bis auf einen Wanderstab und eine Reisschale fort zu geben und in die Berge zu ziehen. Solche guten Ratschläge wurden allerdings zu einer Zeit ertüftelt, als man alles Wissenswerte noch mühelos im Kopf behalten konnte. Natürlich könnte der Wandermönch heute nebst Stab und Schale noch ein Notebook mitnehmen und den ganzen großen Lebensschamott in einer cloud parken – Tao 2.0, sozusagen. Aber dazu bin ich zu old school, und Berge, fällt mir grad ein, sind eh nichts für mich, da bin ich dann doch Hegelianer.

Außerdem stecke ich bis zum Hals in Wirklichkeit, in der Hegels Weltgeist-Dialektik gar nicht vorkommt; dafür Scheuerleisten-Probleme, Beleuchtungsangelegenheiten und diffizile Logistik-Wirrnisse. Dinge, die ich nicht studiert habe! Wirklichkeit ist wie alpine Gesteinsmassen: vernunftlos, blickdicht und doof positivistisch: „Es ist so…“, das ist noch das beste, was über sie zu sagen ist, freilich mit dem Zusatz: „…kann aber so nicht bleiben“.

 

Was trägt man im Herbst als Papst?

27. Juni 2011

Papst im Ausgehanzug

Es ist heute so heiß Geddo, dass das Wetter endlich mal zur Bevölkerung passt. Selbst Dilara, Gülter, Semra und Emine, unsere eisernen Kopftuchmädchen, lockern und lüften heute den Schleier. Die Sonne knallt dermaßen, dass man nur orientalisch im Schatten sitzen und Pfefferminztee trinken kann. Selbst Eiferer legen Anti-Eifer-Eisbeutel auf. Meinungen und Überzeugungen haben heute hitzefrei. Allerdings nicht bei allen. Meine Freunde von der radikalantiklerikalen Fraktion üben schon mal langsam die Empörungs-LaOla: Olala, am 22. September soll der Papst, nein, nicht im Kettenhemd tanzen, sondern im Deutschen Bundestag sprechen!

Weil mir als Nichtchrist und Jünger des Tao der Gelassenheit kirchenfeindliche Beißreflexe abgehen, war mein erster Gedanke, als ich davon hörte, nicht „Skandal!“, sondern: Was trägt er denn da? Ich meine, käme er mit seinem weiß-goldenen Hemd und violetten Mantelkleid, angetan zudem mit dem hohen spitzen Hut des Kirchenfürsten, das wirkte ja doch schon irgendwie bizarr, oder? Das sähe doch aus, als käme der Weihnachtsmann zur Bescherung! Aber andererseits – der Papst im dunkelblauen Zweireiher und mit Krawatte? Und, als Kompromiss, vielleicht eine dezente, nadelgestreifte Tiara auf dem Kopf? Schon modisch also eine Herausforderung. Von anderen Stilfragen ganz abgesehen.

Was sagt man denn so als Papst vor dem Parlament eines säkularen Staates? Wird er vielleicht was singen? Oder was Lateinisches aufsagen? Und lässt er einen Klingelbeutel herumgehen? Nimmt er die Politiker ins Gebet oder wird er sie beweihräuchern? Ruft er den Gottesstaat aus? Überhaupt: Kommt er eigentlich als Stellvertreter Gottes oder als Chef des Vatikan-Zwergstaates? Geht es also vorrangig um faule Kredite? (Immerhin gehört der Vatikan zur Euro-Zone, lese ich bei Wikipedia. Dort steht übrigens auch, dass der Vatikan-Staat rein statistisch die höchste Kriminalitätsrate der Welt hat – jetzt mal ohne Häme: frappierend denkwürdig, oder?)

Generell befürchte ich einen Würde-Konflikt. Entweder bewahrt der Bundestag seine Würde als Hohes Haus, dann macht sich der Papst lächerlich. Huldigt das Parlament dem Heiligen Vater, wird es geschmacklos. Was also tun? PR-Berater würden vorschlagen: Der Papst muss „sich neu erfinden“. Vielleicht lockerer werden, das Publikum mal überraschen. Er könnte versuchen, den Trick mit den drei Broten und fünf Fischen in der Bundestagskantine vorzuführen oder eine Runde Wasser in Wein verwandeln, das käme im Bundestag besonders gut an. Andererseits könnte das als päpstlicher Papa-Populismus bewertet werden.

Wie ich höre, will eine Handvoll hurmorloser SPDler das Event „boykottieren“. Ich finde das ein bisschen unsouverän. Boykott will mir generell als eine Form unfruchtbarer und phantasieloser Nein-Sagerei erscheinen. Solche Ungezogenheiten sind außerdem pure Wichtigtuerei. Wer mehr Laizismus will, der sollte einen neuen Staatsvertrag mit den Religionsgemeinschaften aushandeln und nicht einem alten Herren respektlos auf die saffianledernen Schnabelschuhe treten. Ich empföhle artiges Betragen, wie es sich gehört: In der Fraktionsbank auf die Knie sinken und „Hosiannah!“ rufen. Das heißt „Herr, hilf bitte“, und das kann ja wohl auf keinen Fall schaden.

Grundfragen der Philosophie: Das Tao der Leergutentsorgung

11. April 2011

Demütigend: Trinksünden nach Farben sortieren...

„Mein lieber Kraska“, verabschiedet mich mein langjähriger Hausarzt, „und vergessen Sie nicht: viel trinken!“ Neben „viel Bewegung“ ist dies auch der Rat der „Apothekerzeitung“ („SeniorenBravo“), die ich dann und wann durchblättere. So weit gut und gerne befolgt. Auch Atomkraftwerke liefern ja zunächst mal viel Wärme. Ähnlich wie bei der Nutzung nuklearer Energie fällt jedoch beim Trinken problematische Materie an, deren Entsorgung eine Herausforderung darstellt. Beim Trinken ist dies das sog. Leergut. In ontologischer Hinsicht zerfällt Leergut rasch in zwei Gruppen: das moralisch wie ästhetisch brisante Glasflaschen-Leergut und die harmlosen, ja unter Umständen kleine Freuden versprechenden PET-Mehrwegbehältnisse. Beide Rückstandsformen lassen sich zunächst in Zwischenlagern (Küchenunterbauschrank, Balkon, Terasse), äh, zwischenlagern.

Die Besichtigung solcher Zwischenlager bei Freunden ist oft eine Quelle persönlichkeitsstruktureller Erkenntnisse. So habe ich einen zur Monomanie neigenden Bekannten, der eine ganze Armada immer gleicher Absinth-Flaschen sein eigen nennt, deren systematische nächtliche Entleerung er durch soldatisch aufgereihtes Leergut gewissenhaft dokumentiert. Irgendwann aber ist das Lager mit Leergut voll überfüllt. Der sentimentale Stolz und die zärtliche Rührung, die Flaschenstapler angesichts ihrer Sammlung empfinden mögen, wird von der Gattin, der Putzfrau usw. möglicherweise nicht geteilt. Dann schreit das gläserne Tagebuch nach Entsorgung.

Wie demütigend und moralisch niederdrückend kann diese empfunden werden! Da trabt oder radelt man dann, mit Reisetaschen und LIDL-Tüten voller grell scheppernder, schrill klirrender Flaschen beladen zum öffentlichen Flaschen-Container-Ensemble und muss in übel beleumdeter Gegend gleichsam coram publico mit hochrotem Kopf die keineswegs stummen Zeugen des eigenen Alkohol-Missbrauchs auch noch in Weiß-, Braun- und Grünglas sortieren und sich wie unbeteiligten Passanten dabei die Ungeheuerlichkeit eigener, in letzter Zeit stattgehabter Enthemmung offen legen. – Selbst die ethnologisch interessante Tatsache, dass es Volksgruppen im Geddo gibt, die auch erblindete Fernseher, Computer-Geraffel und sogar kaputte Toaster (!) taxinomisch dem Flaschen-Leergut zuordnen, kann nicht hinreichend erheitern. – Wie oft kehrt man mit leeren Tüten, aber tränenvollen Augen, mit guten Vorsätzen geschwängert, in sein Heim zurück, wo ein leer geräumter Balkon seinen Besitzer höhnisch mit den Folgen prospektiver Abstinenz vertraut macht!

Beginnende Leergutsammlung beim Magister (mediterran orientierter Genusstyp)

Wie schön, wie gemütserhebend und aufbauend hingegen das entsorgsame Verbringen luftig-leichter PET-Flaschen zum Leergutautomaten! Prall gefüllte Tüten demonstrieren hier nicht Lasterhaftigkeit, sondern vorbildliches Gesundheitstun. Schaut her, ich bin ein enormer Wassertrinker, Saftkonsument oder, in meinem Falle, wenigstens Verbraucher von zig Hektolitern Cola light! Beschwingt betritt man, enorm aufgeplusterte Saftsäcke schwenkend, das liebenswürdige Entsorgungshäuschen beim Discounter. Gern reiht man sich in die Warteschlange und beobachtet schmunzelnd, wie exotisch-esoterische Mitbürger so hartnäckig wie vergeblich versuchen, Eckiges (Tetrapack, Kanister, Toaster) ins Runde zu pfriemeln, weil sie die Betriebsanleitung des eigentlich idiotensicheren Schluckautomaten nicht mitgeschnitten kriegen. Ei, wie erheiternd die Freude, dass man selbst zumindest seine Muttersprache Denglish beherrscht! Kostenlos fühlt man sich erhoben und geborgen im Heimatlichen.

Dann endlich steht man vor dem elektronischen Schluckspecht und füttert ihn gekonnt (Barcode muss immer nach oben zeigen!), immer hinein, Flasche um Flasche in den blinkenden, surrenden und rödelnden Schlund. Der dankt es durch hervorragendes, reibungsloses Funktionieren. Kein Stau, kein „Flasche nicht erkannt“ auf dem Display. Man hat ja daheim vorsortiert! Man bedient sich des Automaten, in dem man ihn bedient, und kann dabei noch über Metaphysisches meditieren, denn was wir sehen, ist nur das Diesseits des Leergutautomaten; das Jenseits bleibt uns wie immer verborgen. Was sind wir? Wo gehen wir hin? Was wird aus uns da? – so mag sich bang auch eine leere Flasche fragen, die, wie der Patient in den Tomographen, in die mysteriöse Röhre geschoben wird. – Nun, das Jenseits ist ein großer Raum, in dem man von seinen individuellen Eigenschaften befreit (ent-etikettiert) wird, dann wird man auf das bisschen Substanz zusammengepresst, das man als Flüssigkeitsbehälter mal darstellte und schließlich wird man neuerlicher Verwendung im kosmischen Kreislauf der Materie zugeführt. Also, als Taoist kann man damit leben. Den anderen Dummies erzählt man halt, die Flasche würde im Jenseits wieder „aufgeweckt“ und somit „auferstehen“, um dann als Flaschengeist- oder Engel im Leeguthimmel herumzuwimmeln…

Auch moralphilosophisch ist die automatische Leergutentsorgung eine mehrwertvolle Übung – bekommt man doch auch noch sündenentlastendes Pfandgeld zugeschrieben und kann dieses sogar, für Christen interessant, die vielleicht was zu büßen haben, per Knopfdruck spenden. Mit leeren Taschen und vollem Herzen trollt man sich, insgleichen gewissensrein und seelenstark im Bewusstsein, nicht nur auf, sondern auch für das öffentliche Wohl getrunken zu haben. Die kleinen Freuden des Alltags – es sind gar nicht wenige, wenn man sie nur zu finden versteht.

Vollautomatischer Schluckspecht: Ein Stück schöner Moderne

Das Jenseits: Zutritt verboten!

 

 

Heiliger des Verschwindens

29. Januar 2010

Nun ist er also doch mal gestorben, vorgestern, mit 91 Jahren. Für die Welt war er ja eh schon lange tot: 1965 das letzte Buch, 1980 das letzte Interview, Lebenszeichen danach entweder obskur oder unfreiwillig. Niemand weiß so genau, was er die letzen Jahrzehnte draußen auf seiner Farm in New Hampshire so getrieben hat. Er wollte es so. Er hielt sich bedeckt. Er haßte jede Form von Rummel, und er wollte nicht begafft werden – wie sein cooler, sensibler, verzweifelt sarkastischer Held Holden Caulfield:

„Es dauerte eine ganze Weile, bis ich einschlief – ich war gar nicht mal müde –, aber schließlich schaffte ich es doch. Aber eigentlich war mir eher danach, mich umzubringen. Mir war danach, aus dem Fenster zu springen. Wahrscheinlich hätte ich es sogar getan, wenn ich sicher gewesen wäre, dass mich jemand gleich nach dem Aufprall zugedeckt hätte. Ich wollte nicht, dass mich ein Haufen Gaffer anglotzte, wenn ich ein einziger Blutklumpen war.“

J. D. Salinger hat mit seinem „Catcher in the rye“ (deutsch: „Der Fänger im Roggen“) mal mein Lebensgefühl über Jahre geprägt; durch ihn habe ich erstmals Sinn für Tonfälle im Amerikanischen (und in der Sprache überhaupt) bekommen, und, am wichtigsten, er war ein Meister im Tao des Verschwindens, er demonstrierte ein halbes Jahrhundert lang, daß man ein großer Schreiber sein kann, und sich dennoch nicht zum Tanzbären der Verlage und zum Sklaven der Eigenreklame machen muß. Das letzte Bild, das von ihm kursiert, zeigt den Eremiten, in seinen Sechzigen, wie er wütend gegen das Autofenster eines Papparazzo schlägt, der auf seine Farm vorgedrungen war. Paradox nur auf den ersten Blick: Dieses Foto hat einen Ehrenplatz in meiner Wohnung.

Nun kreisen wieder die Geier über der Salinger-Farm, denn immerhin ist durchgesickert, daß Jerome D. Salinger all die Jahrzehnte seiner Zurückgezogenheit wohl geschrieben hat, für sich, für die Schublade. In den Augen der Verlagsagenten rotieren blinkend die Dollar-Zeichen….

Was soll man ihm nachrufen, diesem großen, leisen, klugen Mann? Jedenfalls nicht „Viel Glück“:

„Als ich die Tür geschlossen hatte…, schrie er mir etwas hinterher, aber ich konnte ihn nicht genau verstehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir „Viel Glück!“ hinterschrie. Bloß das nicht. Ich würde keinem „Viel Glück!“ hinterherschreien. Es klingt furchtbar, wenn man’s sich recht überlegt.“

Sollte man erwähnen, daß wir J. D. Salinger nicht nur einen der ergreifendsten Romane des 20. Jahrhunderts verdanken, sondern ihm und seinen Kameraden auch unsere Freiheit? Er war unter den Soldaten, die 1944 in der Normandie landeten und später in der blutigen Ardennenschlacht die Nazis niederrangen.

So long, Sir.

Kommunikation durch verstohlene Seitenblicke: Brunch für Ägerste

18. November 2009

Der mythische Bote (Foto Quelle: Wikipedia / Benutzer123 at de.wikipedia)

Magpie, pie bavarde, gazza, Atzel, Hatzel, Ägerste, Algarte, Agelhetsch, Agerist, Schalaster, Schalester, Scholaster, Schulaster, Schagaster, Aglaster, Agelaster, Agerluster, Heste, Heister, Egester, Hutsche, Kekersch, Hetze, Gackerhätzl, Häster, Tratschkattl und Diebsch: – Nein, das ist kein Dada-Lautgedicht, sondern die Liste der Namen, die man meinen – vom dummen Bauernvolk freilich gehassten und gefürchteten! – geliebten, aber immer wieder auch ehrfürchtig mystifizierten Freunden gegeben hat.

D. h., meine persönlichen Freunde heißen eigentlich Baldur der Prächtige, Schlanke-Heidrun und Klein-Frygga, aber ihr gemeinsame Gattungsname ist Pica pica L. – gestatten, ja, genau, die Elster! Als diebisch verschrieen, als geschwätzig diffamiert, des Singvögelchen-Mordes bezichtigt, immer verdächtig des dämonisch-hexerischen Kontakts mit Nachtwesen, Geistern und Todesgöttern, als Hexen-, Pech- oder Galgenvogel denunziert, führt die Elster ein gemobbtes Leben unter Rufmordbedingungen.
Für die germanischen Wikinger war die Elster Botin von Hel, der Herrscherin der Totenwelt. Die Todesgöttin Hel hatte, zum Zeichen, daß sie tot und lebendig zugleich war, eine halb weiße, halb schwarzblaue Haut. Die Elster trägt ihre Farben. Die dummen Christen haben gehetzt, die Elster sei der einzige Vogel, der bei der Kreuzigung Christi kein Klagelied angestimmt habe. Die Mandschuren hingegen verehren die Elter als Nothelfer, die Koreaner schätzen sie als Freund der unter Hindernissen Verliebten, die Chinesen halten sie für einen Glücksboten, der wahlweise Geld oder netten Besuch ankündigt. Bei den Sioux und den Blackfoot-Indianern galt die gewitzte Elster als Geistwesen, Trickster-Menschenfreund und Verbündeter bei der Büffeljagd.


Unter meinem Küchenfenster zum Hof liegt ein Flachdach, das dient mir zur Tafel, hier bin ich der Gastwirt und bereite täglich den Brunch für die Elstern. Es gibt gerösteten Mais, Saatgut, Käsewürfel sowie Hähnchenklein, Innereien und Fleischreste vom Menschentisch. Gutes vom Vortag halt. Hin und wieder ein aufgebrochnes rohes Hühnerei. Elstern, ihrer Eleganz wohl bewußt, verhalten sich beim Speisen ihrer Abendgarderobe angemessen. Knicksend und hüpfelnd danken sie für den gedeckten Tisch, picknicken manierlich, schnäbeln zierlich und schieben bescheiden, aber nicht ohne Grandezza wieder ab, wenn das Kröpfchen gefüllt ist. Wenn sie in blutigem Fleisch gewühlt haben, putzen sie sich hernach voller Noblesse den Schnabel mit Herbstlaub-Servietten. Elstern können übrigens lächeln, ich habe aber noch nicht herausgefunden, wie sie das hinkriegen.
Schlanke-Heidrun komm meistens zuerst und studiert das Angebot. Sie ist vom letzten Jahr und noch ohne großartige Erfahrung. Klein-Frygga folgt schüchtern, futtert aber für zwei; ich schätz, sie ist erst ein paar Monate alt, vielleicht die Tochter. Nur wenn es Fleisch gibt, gerät auch Baldur, das große Männchen, in Rage, vergisst seine Furcht vor Menschen und Aaskrähen und schreitet mit wehenden Frackschößen anerkennend nickend das Bufett ab. Warum die Elster niederdeutsch auch Scholaster heißt, sieht man an ihm, wenn er mit schräg gelegtem Kopf würdevoll den Inspizienten gibt: Magister Magpie, der Bescheidwisser unter den Vögeln.
Wir kommunizieren miteinander, ganz dem Tao der Höflichkeit hingegeben, durch verstohlene Seitenblicke. Wir tun zumeist so, als bemerkten wir uns nicht. Sie machen das, damit ich nicht denke, ihre Gier wäre größer als ihre Vorsicht. Ich verfahre genauso, damit sie mich nicht für jovial und paternalistisch halten. Baldur und ich sind Parallelgeschöpfe. Wir beide sorgen uns wegen dem Winter, wir denken an den Nestbau, der bald schon beginnen könnte und wir wissen beide, die Balz und alles, demnächst im frühen Jahr, das wird Kraft kosten.

Elegant, intelligent, wunderschön und mit miserablem Ruf: So hab ichs gern! (Foto Quelle: Wikipedia / Author: Skarabeusz)

Meine Idole (2): Robert Walser

12. Juni 2009
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Sprachmagier und Verkleinerungskünstler: Robert Walser 1878 - 1956

Wer schimpft, weil dieser Aufsatz ihm zu lang ist, der kann entweder nur die blauen Zeilen lesen (mein Text), oder nur die lilanen (Texte von Robert Walser), dann gehts etwas schneller…

Ein kalter, schneereicher Weihnachtssonntag vor 52 Jahren. In der Psychiatrischen Heilanstalt Herisau wartet ein langjähriger Insasse vergeblich, daß ihn sein Freund und Vormund zum regelmäßigen Spaziergang abholt. Schließlich macht sich der zarte, zerbrechliche alte Mann im abgetragenen Anzug allein auf, legt den Schal um, nimmt den Hut und geht in den Schnee hinaus. Der Schlußakt eines langen Verschwindens: Der Großmeister taoistischer Selbstverkleinerung hatte sich schließlich, schweigend und klaglos, ins Nichts begeben. Man findet seinen Leichnam in einer Schneewehe, seine zagen Spuren schon halb verwischt, als hätte das Weiß einer leeren Seite schließlich die Spuren der Schrift verschlungen, endgültig.

Nachrufe erscheinen keine. Der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben Franz Kafka wohl größte Künstler deutscher Kurzprosa, der Poet, Humorist, Ironiker und unvergleichliche Sprachmagier Robert Walser stirbt, ohne daß die Welt davon Notiz nimmt. Man hatte ihn längst vergessen. Der Schweizer, der zwischen 1908 und 1933 mehr als zweitausend funkelnde, zauberhafte “Prosastückli”produziert hatte, dazu drei traumschön-melancholische, abgründig komische und ironisch-tiefsinnige Romane, überdies zahlreiche gekonnt verhauene und verhuschte Gedichte, Dramolette, Szenen, Meditationen, dieser scheinbar unerschöpflich kreative Vielschreiber und Sprachtheater-Magier verstummte 1933 für immer. 1944 sagt er rückblickend: »Meine Welt wurde von den Nazis zertrümmert. Die Zeitungen, für die ich schrieb, sind eingegangen; ihre Redaktoren wurden verjagt oder sind gestorben. Da bin ich ja beinahe zu einem Petrefakt geworden.«

Ein versteinertes Fossil blieb er nicht; die 70er Jahre feierten seine Wiederentdeckung; heute kann man, staunend, schmunzelnd, kopfschüttelnd, und wenn man vom Fach ist, neiderfüllt, seine meisterhaften Miniaturen, Glossen und Meditationen lesen und in aller Bequemlichkeit süchtig werden nach dem skurrilen Charme dieses verschrobenen Meisters.

Das eher unscheinbare literarische Genre, das Walser zu ungeahnten Höhen führt, ist die von ihm zärtlich als»Prosastückli« bezeichnete Kurz- und Kürzest-Prosa. In den dreissig Jahren bienenfleißiger Produktion entsteht diese ganz eigentümliche poetische Prosa-Welt aus ironisch gebrochenen Idyllen, künstlich auf »altklug« frisierten Meditationen, szenischen Sprachgrotesken und absurden Trivial-Dramoletten, aus hochkomischen Alltagsbeobachtungen, sehr speziellen Reise-Skizzen und allerhand kauzigen Besinnungsaufsätzen, ferner pseudo-naiven und skurrilen Nacherzählungen von Werken der Weltliteratur oder auch Groschentrivialromanen und Kintopp-Rührstücken, außerdem fiktiven Briefe, Szenen, Porträts realer oder fiktiver Personen, – eine nicht abreißende, endlose Flut kleiner und kleinster geistsprühender Meisterwerke, oft nicht mehr als ein oder zwei Buchseiten lang, deren Lektüre in der Tat süchtig zu machen imstande ist, sofern man einen etwas subtileren Humor hat.

Robert Walser, 1878 in Biel geboren, zog es nach kurzer Schulzeit und abgebrochener Banklehre aus der Schweizer Provinz in die große Welt. Er folgte seinem Bruder Karl, der eine Karriere als gefragter Graphiker, Maler und Buchillustrator begonnen hatte, erst nach Stuttgart, dann nach Berlin, wo er selbst erste Gedichte und Prosa-Texte, dann seinen Erstlingsroman veröffentlichte. Im Windschatten seines Bruders gerierte sich Robert im großbürgerlichen Berlin mit Kniehosen, Trachtenjoppe und wildem Haarschopf als eine Art Schweizer Hirtenbüebli und literarisches Naturburschen-Wunderkind, als eine Landei-Rarität mit Esprit und Witz, verstrubbelt, naiv und frech, eine belustigende Kuriosität in den Bildungsbürger-Salons etwa der kultivierten jüdischen Verleger, Kunsthändler und -Kulturmagnatengebrüder Bruno und Paul Cassirer, in denen Robert bald wie Karl zu Gast ist. 
Hört mal von einem Dinner, das er dort selbst besucht, erlebt und, wenn man so sagen darf, in typischer Manier »ver-walsert« hat ( – man lese seine Texte laut, langsam, mit schweizerischer Bedächtigkeit und, wenn man kann, mit Schweizerakzent, – am besten einem möglichst bedächtigen, langfädigen und knarzigen, mit viel Kehllauten und Rachenkrächzern, oder?)

“O, in Gesellschaft zu gehen, ist gar nicht so ohne. Man zieht sich hübsch an, wie es einem die Verhältnisse, in denen man vegetiert, gestatten und begibt sich an Ort und Stelle. Der Diener öffnet gleich die gastliche Pforte. Gastliche Pforte? Ein etwas feuilletonistischer Ausdruck, aber ich liebe es, mich im Stil kleiner Tagesware zu bewegen. Ich gebe mit soviel Manier, als ich kann, Hut und Mantel ab, streiche mein ohnehin glattes Haar vor dem Spiegel noch etwas glätter, trete ein, stürze mich dicht vor die Herrin des Hauses, möchte ihr die Hand gleich küssen, gebe indessen diesen Gedanken auf und begnüge mich damit, eine vollendete (?) Verbeugung vor ihr zu machen. Vollendet oder nicht, vom geselligen Zug hingerissen, entfalte ich jetzt eine Menge Schwung und übe mich in den Tönen und Sitten, die zu den Lichtern und Blumen am besten zu passen scheinen.

»Zum Essen, Kinder«, ruft die Hausfrau aus. Schon will ich rennen, ich erinnere mich aber rasch, daß man so etwas nicht tun soll und zwinge mich zu einer langsamen, ruhigen, stolzen, bescheidenen, gelassenen, geduldigen, lächelnden, flüsternden und schicklichen Gangart. Es geht vortrefflich. Entzückend sieht mir da wieder einmal die Tafel aus. Man setzt sich, mit oder ohne Dame. Ich prüfe das Arrangement und nenne es im stillen ein schönes. Wäre noch schöner, wenn einer wie ich irgendetwas an der Dekoration auszusetzen hätte. Gottlob, ich bin bescheiden, ich danke, in dem ich jetzt zugreife, zugable und messere und löffle und esse. Wunderbar schmecken einem gesunden Menschen solch zartsinnig zubereiteten Speisen, und das Besteck, wie es glänzt, die Gläser, wie sie beinahe duften, wie sie freundlich grüßen und lispeln. Und jetzt lispelt auch schon meinerseits eine ziemlich ungenierte Unterhaltung. Nimmt mich bald einmal selber wunder, wo und wie ich’s hernehme, dieses Weltbetragen, derart Essen zum Munde zu führen, und dazwischen parlieren zu können.

Wie doch die Gesichter purpur anlaufen, je mehr Speisen und Weine dahergetragen werden. Schon könnte man satt sein, wenn man wollte, aber man will nicht, und zwar in erster Linie aus Schicklichkeitsgründen. Man hat weiter zu danken und weiter zu essen. Appetitlosigkeit ist eine Sünde an so reichbesetzten Tischen. Ich gieße immer mehr flüssige und leuchtende Laune in die allezeit, wie es scheint, durstige Kehle herunter. Wie das anhumort. Jetzt schenkt der Diener auch noch aus dicken Flaschen schäumende Begeisterung ein… Und nun prosten alle, Damen und Herren, einander zu, ich mache es nach, ich geborener Nachahmer. Aber stützt sich nicht alles, was in der Gesellschaft taktvoll und lieblich ist, auf die fortlaufende Nachahmung? Nachahmer sind in der Regel glückliche Kerls, so ich. Ich bin in der Tat ganz glücklich, schicklich und unauffällig sein zu dürfen. Und jetzt erhebt sich der leichte Witz, die Zunge wird lose, das lachende Wort will jedesmal an die sorglose, süße Ungezogenheit streifen. Es lebe, es lebe! Wie dumm! Aber das Schöne und Reiche ist immer ein ganz klein wenig dumm. Es gibt Menschen, die plötzlich lachen müssen beim Küssen. Das Glück ist ein Kind, das ‘heute’ wieder gottlob einmal nicht zur Schule gehen braucht. Immer wieder wird eingeschenkt, und das wie von unsichtbarer Geisterhand Eingegossene wird hinuntergeschüttet. Ich schütte geradezu unedel hinunter. […] O, ich freue mich über das alles, ich Proletarier, was ich bin. Mein Gesicht ist ein wahres, hochrotes Eßgesicht, aber essen Aristokraten etwa nicht auch? Es ist dumm, allzu fein sein zu wollen. Die Eß- und Trinklust hat vielleicht einen ganz aparten feinen Ton des Umgangs. Das Wohlbefinden bewegt sich möglicherweise noch am zartesten. Das sage ich so.

Was? Auch noch Käse? Und noch Obst und jetzt noch einmal einen See von Sekt? Und nun steht man auf, um vorsichtig nach Zigarren angeln zu gehen. Man spaziert durch die Räume. Welche Weltsicherheit. In reizenden Nischen setzt man sich ungezwungen und eng neben die Damen nieder. Alsdann, um es nicht ganz zu verlernen, schritthüpft man zu den Likörtischen, um sich in Wolken von Genüssen von neuem einzuhüllen. Der Herr des Hauses scheint fröhlich. Das genügt, um sich wie sonnenbeschienen vorzukommen. Lässig und witzig redet man zum weiblichen Geschlecht, wenn man kann. Immer zündet man sich neue Zigarettenstangen an. Das Vergnügen, einen neuen Menschen kennen zu lernen, tippt einem an die Stirne, kurz, es ist ein beständiges, gutes, dummes, behagliches Lachen um einen herum. […] Gewöhnt an das Schwelgen, bewegt man sich mit einer behäbigen Sicherheit und mit dem Mindestmaß an Formen im Glanz und im Menschenkranz einher, daß man leise und glücklich staunen muß, es im Leben so weit gebracht zu haben. Später sagt man gute Nacht, und dem Diener drückt man mit Gewicht sein in mancherlei Hinsicht redlich verdientes Trinkgeld in die Hand.”

Solche Szenen, mag ihnen Selbsterlebtes oder Phantasie zugrunde liegen, zeigen neben scharfer Beobachtungsgabe vor allem die enorme mimetische Wendigkeit der Walserschen Sprache. Auf engstem Raum kann er ein Gewirr von Stimmen entstehen lassen, mit Idiomen, Jargons und Nuancen spielen, Abschweifungen sich verlaufen lassen, in beliebige Rollen schlüpfen, Kanzlei- und Kontordeutsch mit Trivialkitsch und Zeitungsphrase mischen, gekonnt unbeholfene, nachgerade unglaublichste Satzgetüme -hervordrechseln und -schnörkeln, und immer, wirklich immer beschleicht den Leser dabei das leise Gefühl, von Walser ein wenig verulkt und veralbert zu werden, auch wenn man zuweilen gar nicht recht weiß, woran man das festmachen soll. Diese omnipräsente und doch irgendwie schwer greifbare Ironie kultiviert Walser mit Bedacht und er amüsiert sich ungeniert und maliziös über die Kritiker, die sich hierdurch verwirren lassen, wie etwa in folgendem Gesprächsbericht:

»In Bezug auf meine Schriftstellerei vertraute er mir mit einer belachenswerten Gebietermiene und -stimme an, er vermöge nicht klug daraus zu werden, er begreife jedesmal nicht, ob ich es ehrlich mit meiner Sprechweise meine oder nicht. Er weiß also nicht recht, ob er mich für aufrichtig oder für unaufrichtig halten soll, womit er natürlich weder seiner Intelligenz noch seiner Gemütsart das allerbeste Zeugnis ausstellt.

‘Du sollst dichten und schreiben, mein Lieber, daß es mir leicht einleuchtete’, besaß er mir gegenüber die Unverfrorenheit, zu beantragen. Es ist klar, daß mir der Antrag als eine Lächerlichkeit vorkam… ‘Da du’s zu etwas brachtest, so sei doch ruhige. Erfreue dich deines Eszuetwasgebrachthabens’, erwiderte ich und meinte ihn besänftigen zu müssen, doch er mißtraute mir, wie er mich auch jetzt noch in der denkbar ausgedehntesten Art und Weise mit seinem Mißtrauen bekränzt, krönt, schmückt und auszeichnet.

Er hat es offenbar geistig noch nicht so weit gebracht, um zu wissen, daß der Mißtrauische stets demjenigen indirekt schmeichelt, den er solcher Bedenklichkeit würdigt. Weil ich es zu nichts brachte, fürchtet er mich. Was für eine unermeßliche Sottise! Was für eine innere Armut im äußeren Hauseigentümerzustand! Er ist ein Gemachter, ich nicht. […] Er sieht, daß ich immer lache, wenn ich ihn sehe. Ich tu es nicht laut, sondern bloß so mit dem Gesicht.«

Trotz beachtlicher Anfangserfolge als literarischer Debütant macht Robert Walser keine Karriere. Er will nicht. Für die“Eszuetwasgebrachthabenden”, die “pomadisierten Gorillas”und “Hauseigentümer” hat er nur feinen Spott übrig. Der struppige Naturbursche aus den Schweizer Bergen, als den er sich stilisiert, besucht lieber eine Kammerdiener-Schule, läßt sich treiben, träumt vergeblich von einer Karriere als Schauspieler, verbummelt sich in Aushilfsjobs und geht schließlich in die Schweiz zurück, um dort in mönchischer Armut und Askese seine Beiträge für Zeitungen und Magazine in Deutschland, Österreich, der Schweiz und der Tschechoslowakei zu schreiben; in Prag wird Franz Kafka einer der leidenschaftlichsten Bewunderer Walsers.

Eine sehr eigentümlich und auffällige, von Walser gegenüber allem und jedem eingenommene Haltung ist die der übersteigerten, man möchte sagen frenetischen, mitunter beinahe hysterischen Affirmation, einer geradezu zügellosen, entfesselten und losgelassenen Weltbejahung und -bejubelung, mit der schon deshalb irgendetwas nicht stimmen kann, weil ihr Ton so überspannt und exaltiert ist. Wenn die sokratische Urform der Ironie darin besteht, sich in verstellender Absicht kleiner zu machen, als man ist, dann betreibt Walser die Totalisierung dieser Ironie, bei der die Welt vorauseilend und gewissermaßen präventiv rundum über den grünen Klee gelobt, bejubelt und behudelt wird, nur damit… – sie einem nichts tut!

Walsers Haltung ist sogar noch eine dialektische Halbdrehung subtiler, indem er sie demonstrativ vorführt, eigens auf sie verweist und uns damit gleichsam sagt:

Seht her, so winzig, bescheiden und demutsvoll muß man sich machen, wenn man nicht riskieren will, von der Wirklichkeit und den Gewalthabern darinnen zertreten zu werden! Vielleicht ist es diese ironische Überspanntheit, die Walter Benjamin zu dem etwas kryptischen Satz angestiftet hat, Leute wie Walser klängen immer wie geheilte Verrückte, womit er eventuell meinte: irgendwie unheimlich in ihrer beschwörenden Oberflächlichkeit.

Das Ich der Walserschen Prosa ist aus Furcht und Weltüberempfindlichkeit sicherheitshalber vorweg grenzenlos begeistert, hat vor lauter beflissener Ja-Sagerei und übereifriger Zustimmung zum Weltwirklichen als Ganzem und im Einzelnen etwas geradezu unheimlich Rotwangiges, Glühendes, hysterisch Überdrehtes; diese Affirmation ist derart vorauseilend und vorwegnehmend, hyperbolisch hochgestapelt und kompromißlos, daß sich jeder so Angesprochene auf Anhieb unbehaglich, nämlich irgendwie nicht wirklich ernstgenommen fühlt und unwillkürlich nach dem Haken an der Sache sucht. Eine sonderbare Form der Ironie, und natürlich eine sehr spezielle Art von Humor, für die nicht jeder ein Sensorium besitzt.

Die überdrehte Affirmation richtet Walser nicht nur gegen -Personen und Typen, beispielsweise etwa seinen Lieblingsfeind, den arrivierten, tüchtigen, geschäftlich erfolgreichen »deutschen -Eheherren«, Hauseigentümer und»Eszuetwasgebrachthabendem«, den er gern einen »pomadisierten Gorilla« tituliert und scheinheilig wegen seiner Gewichtigkeit bewundert.

Als Pose oder gestische Attitüde hält Walser die ironische Affirmation auch gegenüber der Literatur, dem Theater oder den Genres des Unterhaltungskitsches aufrecht. Scheinbar findet er alles wunderbar, und wenn er etwas verabscheut, dann macht er das damit deutlich, daß er es als über alle Maßen wunderbar anhimmelt. Das zeigen seine Weltliteraturnacherzählungen oder seine schrägen, ziemlich sinnfreien und zumeist pointenlos verläppernden Miniatur-Dramolette, in denen aufgemotzte Sensationsknalligkeit mit assoziativer Unkonzentriertheit wetteifert und insgesamt oft eine Stimmung herrscht, als hätten Samuel Beckett, Karl Valentin und Helge Schneider darauf getrunken, gemeinsam ein Stück zu schreiben.

Ein Beispiel: Die Groteske »Darf man…?«

Darf man sein Versprechen brechen? ·
Tragödie in wenigen Zeilen von einem Neuling, d. h. von mir

“Es ist da einmal so ein Mädchen gewesen.

Wo hab’ ich denn jetzt meine Gedanken?

Groß ist zur Zeit die Not des Gedanklichen. 
Ich reibe mir die Stirn und sinne nach.

Sie besaß etwas, das sie niemand anvertrauen durfte, so eine Art Makel, wiewohl ich nicht gerade sagen will Schandfleck.

Es hat sich einmal ein hochbegabter junger Mann wegen etwas Belastendem erschossen.

Ich halte mir gegenwärtig eine Masseuse.

Von dem Fräuleinchen wäre zu sagen, daß sie einen Herren liebt, von dem sie wiedergeliebt wurde.

Weil sie nun vor der Welt, d. h. der Gesellschaft, die die Welt bedeutet, etwas sehr Fragwürdiges zu verbergen hatte, wodurch sie ihm wahrscheinlich Unglück, bescheidener gesprochen, Verdruß gebracht und geschenkt hätte, so tat sie was?
Sie sprach zu ihm: ‘Du kannst mich unmöglich heiraten.’ 
‘Gut’, gab er zur Antwort, ‘so heirate ich dich also nicht, du Überallesgeliebte. Da ich dich aber nicht heiraten darf, so bleibe ich ledig.’

Er küßte sie daraufhin stürmisch, will sagen ungestüm, mit einer eigentlichen Unerlaubtheit, die sie ihm verzieh, indem sie ihrerseits vorbrachte:

‘Ich liebe dich auf ewig, d. h. Liebster, solange ich bei Atem bleibe, d. h. bis der liebe Gott mich zu sich ruft in seine denkbar sinnreich ausgeschmückte, tadellos möblierte Wohnung.’

Auch sie küßte ihn ihrerseits, wobei sich ihre Nase auf seinem geliebten Gesicht ein bißchen umbog.

Sie verabschiedeten sich aufs innigste und gingen ihrer Wege, stets ihres Versprechens tapfer eingedenk, daß sie sich nur lieben, aber nie ehelichen wollten.

Durften sie sich ein solches keckes Versprechen aber auch geben? Durften sie ein so hochgeartetes Problem, eine so schwierige, aufopferungsvolle Aufgabe auf sich nehmen?

Was sagt hierzu die gute Natur?
Die Allmutter?

Jahre flogen dahin, d. h. die Zeit ging vorwärts, Schritt um Schritt, marternd langsam.

Wohl hielt das Fräulein ihr Wort, nicht aber ihr Begehrter, den sie nicht nehmen durfte, weil eine dunkle Macht, so eine Vergangenheitslast auf ihrem schneeweißen Hals lastete.

Fast muß ich hier ein wenig lachen, aber ich halte mir das Nastuch vor den Mund mit den schwellenden Lippen, mittels derer ich eben eine Banane aß.

Tugendumflügeltes Fräulein, ich lobpreise dich, und zum Wortbrecher sage ich einfach nichts als dies eine:

‘Schändlicher Schuft!’

Es verhielt sich mit ihm so: seines Versprechens müde, bewarb er sich um die Gunst einer Vonirgendwohergelaufenen.
Sie erwies sich als wunderhübsch.

Und er schloß mit ihr einen Bund auf Lebenszeit, eine Art Schutz- und Trutzbündnis, der Uneingedenkliche, und mit strahlendem Freudengesicht trat er mit ihr zum Altar, indes kleine Kinder ihm und ihr Kränze, die die Lebenslust geflochten zu haben schien, zu Füßen warfen, und indes in ihrem Kämmerchen die Treugebliebene, vom Geschehnis in Kenntnis gesetzt, und von der Orgel umbraust, die den beiden ins zukünftige Glück das Geleit gab, vor Wehmut verging, womit ausgesprochen ist, daß sie etwas sehr Gescheites vollbrachte, nämlich vom enttäuschungsreichen Leben abtrat, indem sie sich aus ihrer Zärtlichkeit einen Strang zurechtband, oder indem sie am gegebenen Wort erstickte.

Man trug die Standhafte und Ehrenfeste in einem Sarg zum Haus hinaus.”

So zu tun, als könne man etwas nicht besonders gut, was man in Wirklichkeit vollkommen beherrscht, ist bekanntlich ein bewährtes Mittel der performativen dadaistischen Komik, das heute in Deutschland beispielsweise den Mülheimer Jazz-Musikalclown Helge Schneider auszeichnet; Walser scheint es vielleicht erfunden zu haben, Karl Valentin hat es mit Liesl Karlstadt auf die Varieté-Bühne gebracht. In Walsers Selbstbeschreibung klingt das folgendermaßen (laßt Euch nicht davon irritieren, daß er fast immer von sich in der dritten Person spricht):

»Dann und wann trug seine wie aus einer Art von Eingeschlafenheit quillende Geschicklichkeit den Stempel berechneter Naivität oder gekünstelter Ungekünsteltheit«.

»Die Eitelkeit veranlaßte ihn, eine Reihe von in jeder Hinsicht unspannenden, harmlosen Büchern zu schreiben, die keiner zu lesen imstande war, ohne zu denken, hier gefalle sich einer in Veröffentlichungen, um zu nichts als zu der Beweiserbringung zu gelangen, er sei kein eigentlicher Schriftsteller«

Ende der 20er Jahre ist Robert Walser erschöpft, ausgebrannt, psychische Probleme nehmen zu. Er hört Stimmen, fühlt sich verfolgt, verliert zusehends den Boden unter den Füßen. Zunächst freiwillig zieht er sich in eine Psychiatrische Anstalt zurück – ab 1933 verlegt man ihn gegen seinen Willen nach Herisau und läßt ihn nicht mehr gehen. Ohne Freiheit aber, sagt er, könne er nicht mehr schreiben. Er verstummt konsequent und unwiderruflich, schreibt ab 1933 außer ein paar sachbezogenen Briefen keine Zeile mehr. Euro-Taoistischer Weiser, der er ist, fügt er sich schweigend in die Disziplin der Anstalt, in der er wie ein Zen-Mönch lebt:

Hellwach, konzentriert, aber stumm, klebt er gewissenhaft Tüten, hilft den Pflegerinnen bei Haushaltsarbeiten, meditiert und wandert. Er sieht zu, wie die Welt ihn vergißt, ohne etwas dagegen zu tun. Fast ein Vierteljahrhundert lebt er in selbst gewählter Isolation. Daß er, wie manche behaupten, eine psychische Erkrankung nur vorgespielt hätte, um sich zu verbergen, ist sicher ein Mythos. Doch wer Walsers wache, gletscherblaue Augen sieht und ihren durchdringenden Blick, der weiß auch, er war bei intaktem Verstand und Geist interniert. Es kümmerte ihn nicht. Seinem Projekt des Kleinerwerdens und Verschwindens (selbst seine Schrift wurde in den letzten Schaffensjahren immer winziger, war am Ende nur noch knapp milimetergroß!) kam es ja entgegen…

Ach, es wäre noch so viel über diesen seltsamen Heiligen, Alltagsphilosophen und skurrilen Sprachbastler zu erzählen! Leider ist schon dieser Beitrag von geradezu obzön unschöner Länge! Wer mehr wissen will über Robert Walser und einige seiner Texte vorgelesen haben möchte, kann ja bei mir eine HörBuch-Doppel-CD bestellen. Oder sich Robert Walsers Bücher (erschienen bei Suhrkamp) besorgen!

PS (Persönlicher Satz / Postscriptum):

Daß mir zuweilen der Walser-Robert in seiner Sprachspielmeisterlichkeit, mit der er seine mäandernden Satzschnörkelketten drechselt, bei aller gebotenerweise errötenden Bescheidenheit wie ein großes, daher kaum je zu erreichendes Vorbild erscheinen möchte, behandele ich als ein kaum zu verbergendes Geheimnis, daß zu offenbaren ich mich hiermit schüchtern erdreiste.

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Mikrograph und Ironiker Walser

 

Macht das Scheinwerferlicht aus!

13. Mai 2009
Scheinwerferlicht

Beliebteste Droge: Scheinwerferlicht

…DIE IM DUNKLEN SIEHT MAN NICHT

Unser Land ist 60 Jahre alt geworden, aber kein bißchen weise, wie es im Lied des volkstümlichen, äh, Curd Jürgens, glaub ich, dereinst hieß, – denn es befindet sich mit zunehmender Rastlosigkeit auf der Suche! Ständig sucht ja Deutschland irgendwas: Alljährlich mindestens einen Superstar, ein mager-tüchtiges Top-Moppel, eine komplette Mädchen-Pop-Band, einen Wett- oder Quiz-König, einen Küchen-Meister oder wenigstens einen „Meister der Herzen“. Kaum hat man jemanden gefunden, startet die Suche schon wieder aufs neue. Es geht zu wie früher vor der Boxbude: Die Welt ist ein Rummelplatz!

Als älterer Herr genieße ich das Vorrecht bzw. habe ich den Auftrag, mir diesbezüglich um die sog. Jugendverderbnis Sorgen zu machen. Bzw. deren pädagogische Verhinderung. Die Jugend hockt vor dem Fernseher und missversteht! Unter ihr macht sich eine Art soziopathische Heliotropie breit: Die Überzeugung nämlich, man könne persönlich und ontogenetisch (notfalls nachschlagen das Wort! Wikipedia!) nicht blühen ohne Scheinwerferlicht, und man brauche zum individuellen Gedeihen unabdingbar die neidisch-verzückten Anhimmelungsblicke zahlloser Fans, Anhänger, Bewunderer und Nacheiferer. „Denn die einen sind im Dunkeln
/ Und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte
/ Die im Dunkeln sieht man nicht“, heißt es bei Bertolt Brecht. Mag sein, aber warum glaubt heute jeder, er existiere gar nicht wirklich, wenn er nicht, massenmedial vermittelt, von einem Maximum staunender Mitbürger gesehen und gehört wird? Warum möchte heute jeder ein Konsum-, ja ein Wegwerfartikel werden, und keiner mehr ein menschenwürdiger Mensch? Warum unternimmt man ohne Applaus heute nichts mehr? Früher sang man solo unter der Dusche, heute ist keiner mehr zufrieden, wenn nicht Millionen mitklatschen! Genügte es einer jungen Dame oder einem ansehnlichen Backfisch einst, Ballkönigin beim Abschlussball der Tanzschule Drewermann zu werden, so muß heute jeder einigermaßen gerade gewachsene Teenager in Dessous über New Yorker Catwalks staksen und dämonisch-mondäne Vamp-Blicke ins Publikum werfen!

Tausende junger Menschen sehen es mittlerweile als Erfüllung eines Lebenstraumes an, sich im Fernsehen von eigens dazu geschulten approbierten Schindern oder Schindludern (Heidi Klump) quälen, schikanieren, demütigen und zum Affen machen zu lassen, um dann, mit ein paar Trostpreisen abgespeist, unter dem Hohn eben derselben Medien, wieder in die Bedeutungslosigkeit entlassen zu werden. Die meisten erleiden dabei ein seelisches Trauma vulgo einen sog. Dachschaden, der möglicherweise auch auf eine schon bestehende Vorschädigung zurückgeführt werden kann! Alle wollen Superstar werden, kaum noch einer Dachdeckerlehrling, Beleuchtungsassistent oder Kundenbetreuerin. Wenn ihr aber den letzten Volldeppen zum Superstar und die letzte Kosmetik-Tusse zum Spitzen-Model gemacht habt, werdet ihr merken, daß die Spitze wieder zur Basis geworden ist, und keiner hat was gewonnen! Und dann? Dann kommt die Alterspyramide, der Rentnerberg, die Dschungel-Camps, und schließlich werden sich die Seniorenheime füllen mit gewesenen Mannequins, singenden Nervensägen und ehemals mal im Fernsehn Gewesenen!

Hört zu! Die einzige Chance, heute exklusiv, elitär und exzentrisch zu sein, besteht in der konsequenten Ablehnung jeder Auffälligkeit! Euer Wappentier, Elite, sei…  die graue Maus! Der unterirdisch tätige Nacktmull! Die Steinlaus! In Sonderheit aber, wo Scheinwerfer auftauchen und Kameras – Nichts! Wie! Weg! Irgendwo in so ’nem Regenwald gibt es bestimmt noch einen Stamm von Naturburschen, die glauben, der Weiße Mann mit seinem dritten Auge nähme einem die Seele weg per Foto und Film. Diese wunderlichen Menschen haben nämlich genau Recht! Wer von den ganzen Supersuper-Säcken hat denn noch Seele? Die meisten haben nicht mal Herz, von Hirn ganz zu schweigen. Der einzige, der vielleicht Seele hat, ist Helge Schneider. Aber hat der sich je dem „Urteil“ eines Heidi Klump oder einer Dieter Bohlen gestellt? Wohl kaum. Also Schluß mit diesem ganzen medien-darwinistischen Auslese- und Konkurrenzmist! Keine Sängerwettstreite mehr! Weg mit den „sexy“ stöckelnden Schmoll-Schnuten! Ein lebender Kleiderbügel zu werden, Mädels, das ist kein Traumberuf, das ist Krampf und Gewürge, und am Schluß endet man wie Heid Klump, als heimlich alterndes Medien-Geschnepf.

Zum Thema und als Dessert ein Löffelchen von der Weisheit des Tao-Mönchs Yoshida Kenkô:

Wenn man die anderen übertreffen will, so möge man lernen und es ihnen dann an Wissen zuvortun. Und falls man mich fragte, warum man denn lernen solle, so würde ich antworten: um zu erkennen, daß man sich seiner Vorzüge nicht rühmen und mit anderen nicht wettstreiten darf. Nur die Kraft, die das Lernen verleiht, befähigt dann, hohe Ämter aufzugeben und seine Habe zu verschenken.“

Das nenne ich vornehm gesprochen!

PS: Übrigens habe ich bei meiner Bilder-Suche versehentlich das Suchwort „Schweinwerferlicht“ eingetippt: Kaum zu glauben, aber auch dazu gibt es jede Menge Sucherergebnisse!

Vom Verschwinden

23. April 2009
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Von der anderen Seite des Bildschirms aus gesehen

NICHT WISSEN, DASS MAN DUMM UND HÄSSSLICH IST…

Ich habe oft protestiert, wurde mal wieder der Gemeinplatz breitgetreten, das Fernsehen verblöde. Der dumme Stolz gewisser hochkultureller Herrenmenschen, die immer erwarten, daß man sofort schamrot in die Knie sinke, sobald sie lautstark verkünden: „ICH!  HABE!  NICHT MAL!  einen Fernseher!“ wollte mir immer als Indiz dafür vorkommen, daß Dummheit nicht nur gern auf große Trommeln schlägt, sondern die eigene Armseligkeit auch mit Vergnügen als besondere Auszeichnung wertet. Was soll denn das? Behauptete ich auf der gleichen Festivität mit banausischem Hochmut: „Ich HABE nicht mal eine Brille!“, würde doch auch nicht gleich ein jeder glauben, ich sähe nur das Gute im Menschen! Ein TV-Gerät ist ein Werkzeug wie jedes andere. Es macht mich nicht verdächtig, eine Kettensäge zu besitzen, ein Psychologe wäre nur gefragt, wenn ich sie Tag und Nacht nicht mehr aus der Hand legte!

Daß Fernsehen keineswegs zwangsläufig zur Verkümmerung kognitiver Fähigkeiten führe, bezog ich jedoch, ohne lange zu überlegen, auf die Welt diesseits der Aquariumsscheibe. Was mit den putzigen Damen und Herren Zweidimensionalitäten jenseits der Bildschirmscheibe los ist, hm, das verdiente füglich gesonderte Untersuchungen. Wirkt meine Vermutung unbescheiden, daß auch Menschen, die jedem Tag „im Fernsehen“ sind, gewissen Irrtümern unterliegen können? Mir will das nämlich so scheinen, ohne daß ich jetzt groß Namen nenne. Aufmerksamkeitssüchtige und Medien-Junkies, die glauben, sie müßten implodieren, wenn sich nicht fünfmal am Tag eine TV-Kamera auf sie richte, glauben oft, uns ginge es umgekehrt ähnlich, dergestalt, daß wir des täglichen Anblicks ihrer Nasen nicht entraten und entbehren könnten. Das freilich, um es in aller Härte zu sagen, ist falsch. Ich zum Beispiel komme wochenlang bequem durchs Leben, ohne ein einziges Mal Herrn Guido „proud to be:“ Westerwelle, Frau Elke Heidenreich, Küchenmeister Lafer, Lachkasper Gottschalk oder Oberklugscheißer Ranicki ansichtig zu werden. Sternchen, Stars und Stehgeiger sind mir schnuppe, und ob  ein in ganz Deutschland gesuchter Superstar nun von „XY ungelöst“ oder durch Mobbing-Agenturen gefunden wird, was verschlägts?

Ich habe gar nichts dagegen, wenn „auf dem Schirm“ gelegentlich Leute auftauchen, die z. B. irgendwas gut können: Kunstfurzer, Schnurrenerzähler, Fingerpfeifer, Politikerimitatoren, Schelme, Narren, Spaßmacher, Spielleute, Zwerge und fahrendes Volk aller Art mag seine Allotria treiben, es darf meinetwegen nach Herzenslust gefußballert, hobbygeköchelt und karaokisiert werden, was die Studios hergeben, wenn, ja wenn nur all die dort Auftauchenden nicht immer das Auch-wieder-Verschwinden vergäßen!

Wie enervierende Kinder, die, weil beim ersten Mal die Erwachsenen darüber gelacht haben, immer denselben Unfug zum allgemeinen Ennui ad infinitum wiederholen, glauben manche Quoten-Idioten, wir könnten ihrer prinzipiell nicht überdrüssig werden. 

Da sind sie aber schwer auf dem Holzweg! Die Backpfeifengesichter der allermeisten Politik-Schlingel, Pappenheimer und Erzschelme kenne ich zur genüge. Auf lange Sicht muß man mir keinen Franz-Werner Steinbeißer, keinen  Hotte Köhler oder Bundesmutti Merkel mehr zeigen! (Erst, wenn die wieder so ein Mörder-Dekolletée spazierenführt, wie neulich mal irgendwo!) Auch nicht diesen neuen smarten Gel-Heini da, mit den zig Vornamen, diesen Hadschi Halef Omar von und zu Guttemberg, auch dessen Fresse nämlich ennuiert mich kolossal! So. Das mußte auch mal gesagt werden. Möge doch das gesamte Pack und Gesindel getrost mal einen Ausflug machen und für ein gut abgehangenes Weilchen einfach fort und gestohlen bleiben! Und man nehme dieses elende Geschmeiß der Comedians, Affen und Zotenreisser gleich mit, das dominante Quietscheentchen Heidi Klump und ihre Super-Moppel auch sowie freundlicherweise diesen eklen alten Bohlen, der mir desgleichen herzlich zuwider ist! 

Was für eine Stille wär dann, eitel Kontemplation und ruhige Naturbetrachtung! Haach! Und wäre dann die Besinnung, wie Heinrich von Kleist mutmaßte, durch ein Unendliches gegangen, stellte sich auch die Anmut wieder ein und es fände sich eine Hintertür zum Paradies, vor der kein grimmer Cherub wachte! Auf die Gefahr, als ungebetener Missionar in die Nerv-Ecke gestellt oder auf die Quengel-Strafbank gesetzt zu werden, komme ich hier noch mal mit meinem Taoismus an, den ich, wenn schon, als Staatsreligion wärmstens empfehlen würde. Der ehrwürdige Meister Yoshida Kenkô nämlich schrieb folgendes:

„Nicht wissen, daß man häßlich, daß man dumm ist, daß man in den Künsten nur pfuscht, vergessen, daß man von niederem Stande, daß man alt und allen Krankheiten hilflos preisgegeben ist, sich nicht darum kümmern, daß der Tod schon ganz nahe vor einem steht, und trotzdem nicht merken, daß das eigene Streben nach Buddhas Pfad höchst oberflächlich ist – wer in solcher Weise seine Schwächen nicht erkannt hat, wie soll der das würdigen können, was andere an ihm auszusetzen haben? 

Wie das Gesicht aussieht, vermag man natürlich im Spiegel zu erkennen, wie alt man ist, läßt sich errechnen, es ist also nicht so, daß man von sich nichts wissen kann… Ich will damit keinem nahelegen, der möge sein Gesicht verschönern und sich jünger machen, aber weshalb zieht sich so einer nicht zurück, wenn er weiß, daß er zu nichts mehr taugt? Warum sucht er nicht für seinen Körper Stille und Frieden, wenn er fühlt, wie alt er geworden ist?“

Ja, warum?  – Ich fände es schön, wenn man, wenn das zugemessene Alter erreicht ist, immer dünner, durchsichtiger, geruchloser und sublimer würde, erst wie ein Hologramm, dann wie eine Spiegelung und schließlich wie ein Gerücht, das keiner mehr wirklich glaubt und das sich verflüchtigt in die Träume einiger weniger Menschen, deren Herz man einmal berührt hat. Und mehr nicht? Nein – warum?

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Verschwinden üben!