Archiv für Juni 2009

Aus dem Jenseits: Blaubeerkuchen

28. Juni 2009
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Was bedeutet Blaubeerkuchen?

Schwere, dumpfe Nacht (Grüner Veltliner). Geträumt, ich sei am Nachmittag bei Professor Sigmund Freud zum 81. Geburtstag in den Garten eingeladen. Wir saßen in klapprigen Liegestühlen und rauchten gelbe Zigarren. Es gab Blaubeerkuchen und eine Menge unattraktiver älterer Hausfrauen in geblümten Kittelschürzen hasteten mit Kaffeekannen durchs Buschwerk. Wir langweilten uns. Freud schlug nachlässig, aber unentwegt mit der flachen Hand nach kleinen blondgelockten Kindsköpfchen, die ihn liebreizend umschwirrten. Der Zwölfton-Komponist und kommunistische Arbeiterliedermacher Hanns Eisler war auch da; er passte nicht in den Liegestuhl und quengelte die ganze Zeit, wann wir endlich „einen heben gehen“ würden, da er pünktlich 15.30 Uhr (er sah dabei auf eine tropfenförmige Taschenuhr, die an einer Kette über seinem Embonpoint hing), seinen ersten Alkohol brauche. Eine mittelalte Matrone mit graumeliertem Dutt (Anna Freud?) klatschte in die Hände und rief in schauderlich ver-wienertem Englisch sinngemäß: „Kinder, Kinder, es gibt Kakao und Kokain in der Küch’n!“

Ansonsten passierte in dem Traum, der noch gefühlte Stunden vor sich hin ödete, nichts weiter Bemerkenswertes. Es war einer der langweiligsten Träume, die ich je hatte! Außer, daß wenigstens die Sonne schien, kann ich im Traummaterial keine verborgene Wunscherfüllung entdecken, die nach Freuds Traumtheorie dort zu finden sein müßte.

Das unbehagliche, irgendwie wehmütige, beinahe weinerliche Gefühl, das den Traum grundierte, hielt nach seinem Ende weiter an, so ein diffuses, symptomloses Leiden, ein leichter Druck in der Brust, so ein ziehendes Klopfen im Hinterkopf, ein irgendwo viszeraler Schmerz mit neuronalen Komponenten, verbunden mit einer sehr vagen, intermittierend aufstoßenden hysterischen Lachlust, – ich weiß nicht, vielleicht fühlt es sich so an, wenn man sich die Schweinegrippe zugezogen hat? Sie soll ja gar nicht schlimm sein, heißt es. Davon abgesehen, fühlte ich mich weder zu Eros noch zu Thanatos hingezogen, kein Todestrieb zu spüren, allerdings auch keine großartige erotische Begierde, außer stark nach frisch gebrühtem Kaffee und evtl. einer doppelten Kopfschmerzbrause „plus C“.

Der Traum war irgendwie aber schon doch ein stückweit signifikant, vor allem auch erklärlich, denn am Tag zuvor war ich vom famosen Dauerrregen nach Wien, in den 9. Bezirk, in die Berggasse 19, gespült worden und hatte mich erst in Freuds Warte-, dann in seinem Behandlungszimmer aufgehalten, bis ich einigermaßen getrocknet schien. (Einen großen Regenschirm, nach Freud DAS phallische Sexualsymbol, besaß ich nicht – nur einen „Knirps“ (!), welcher zwar meines Wissens dennoch keine Kastrationsangst in mir auslöste, gegen den Wiener Heldenplatzregen aber tatsächlich nur unzureichend Schutz geboten hatte). Die Berggasse in Wien, das ist, wie die meisten Wiener Gassen, natürlich gar keine Gasse, sondern ein Boulevard, der von großmächtigen Bürgerhäusern der Gründerzeit flankiert wird, Stuckpalästen von einer gewissen Monströsität und Protzigkeit, gewiß, aber immer noch besser als die Nachkriegsbauten der Betonfetischisten- und Verklinkerer-Innung.

In Nr. 19 hauste, werkelte, therapeutelte und traumdeutelte Prof. Freud beinahe geschlagene 50 Jahre lang, will sagen, hier wohnte er, hier hatte er Wartezimmer, Behandlungsraum und Arbeitskammer, nebenbei überraschend kleine, dunkle, niedrige Räume, damals, den Interieur-Fotos nach zu urteilen bis zum Anschlag mit Möbel, Plüsch und Nippes vollgestopft. Ich glaube ja, das berühmte psychoanalytische Couch-Setting hat Freud oder Frau Freud erfunden, weil für normale Sitzgelegenheiten kein Platz mehr war. Wer nicht stehen wollte, mußte sich halt aufs schonbezugbezogene Kanapée legen! Der karge verbliebene Luftraum wurde von dem gemeingefährlich aussehenden daumendicken, kurzen, gelben Zigarren beansprucht, die Freud unentwegt qualmte, um seine Denktätigkeit in Gang zu halten, nachdem sich Kokain wider Erwarten auf Dauer doch nicht so gut als Alltagsstimulanz eignete. – Übrigens habe ich eben zunächst statt „daumendick“ versehentlich „damendick“ geschrieben; ob dies als ein sog. Freudscher Verschreiber zu deuteln ist, der auf meine uneingestandene Verehrung für korpulente Frauen schließen läßt, bleibe vorerst dahingestellt bzw. ist auch meine Privatsache. Ich liege ja nicht auf der Couch!

Im kleinen Freudmuseeum, das in den ehemaligen Praxisräumen untergebracht ist, gibt es eine dunkle Kammer, in der auf Monitoren in Endlosschleife ein recht gespenstischer Filmschnipsel-Salat zu besichtigen ist. Man sieht tattrige Schwarz-Weiß-Stummfilmaufnahmen vom zittrigen alten Freud, der meistensteils zu sehen ist, wie er sich im hohen Alter in der Sommerfrische befindet, im Garten im Liegestuhl liegt und kurze Briefe schreibt, in denen etwa steht: „Nach der letzteren Operation“ (Freud hatte Mundhöhlenkrebs, von den Zigarren, schätz ich) „geht es schlecht; Essen, Trinken und Rauchen (sic!) geht noch gar nicht recht gut“. Ansonsten feiert er meistens Geburtstag. Der Meister wirkt dabei genervt, begreiflicherweise vielleicht, weil die Nazis den alten, gebrechlichen, kranken Mann nach 50 Jahren in der Berggassen-Plüschhöhle ins ungeliebte englische Exil vertrieben hatten. Am irresten ist aber die Kommentarstimme: Eine offenbar auch schon gefühlt 90-jährige Tochter Anna Freud, des Professors psychoanalytische Kronprinzessin, kommentiert in einem Englisch, das schauderhaft nach Grinzing klingt, mit einer irgendwie total unwirklich heulenden, jaulenden Stimme komplett Überflüssiges aus dem Off: Ist Freud zu sehen, jault die singende Nervensäge: „My Fathsser“, bekommt der Blumen, heult sie „Flowers…!“, und kommt der qirlige kleine Pekinese aus dem Busch gehoppelt, greint sie: „Sssiss iss ourr litt-tle dog“. Irgendwie spooky, als würde beim okkulten Tischerücken Oma aus dem Jenseits anrufen, um mitzuteilen, es stünde demnächst eventuell eine Reise bevor. Na ja, ungefähr so sind die Ausssagen der Psychoanalyse ja auch.

Eigentlich halte ich Freud nicht für einen Geistesriesen; er war ein Schlawiner, ein Windbeutel und ein bissel auch ein Ideologe vulgo Demagoge. Dennoch war ich irgendwie geknickt und bedrückt von der für heutige Verhältnisse unerträglichen Spießigkeit, Trivialität und Beschränktheit des Lebens in der Berggasse.

Die verbleibenden Fragen: Was machte Hanns Eisler in dem Traum? Der war zwar auch Wiener und auch Jude, hatte aber sonst, als Kommunist, mit dem kleinbürgerlichen Seelengepule gar nichts am Hut. Und schließlich: Wieso Blaubeerkuchen? Im Film kommt Blaubeerkuchen nicht vor! Was bedeutet es, wenn man von Blaubeerkuchen träumt? Steht da was drüber in der „Traumdeutung“? – Blaubeerkuchen … Blaubeerkuchen … Blaubeerkuchen….

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Fünzig Jahre in der gleichen Plüsch-und Nippeshöhle! Berggasse 19, 9. Bezirk, Wien


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Marmorkuchen, Kaiserschmarrn: Überleben trotz Ärzten

26. Juni 2009
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Er lebe ruhig ziemlich hoch: Josef II. (HRR), Kaiser des Hlg. Römischen Reichs Deutscher Nation, 1741-1790

Überall dasselbe: Historischer Hotzenprotz! London, Paris, Madrid, Lissabon, Brüssel, Wien: Im Eurovision Sightseeing Contest punkten  Metropolen mit Prunk und Pracht. An jeder Ecke alte Schachteln! Mörderische Marmorkuchen bratzen fett, monströs und milliardenschwer in Parks, an Plätzen, am oberen Ende von Alleen und am Saum der Boulevards und Avenuen: Ungeheuerlichstes Un-Getürm, posamentierte Potentaten-Palastpanzer, Schlossallee-Schlösser. Neureiche Chinesen-Touris umkurven den Steinschlamasselsalat mit der Gondel oder dem Fiaker und machen „Oh!“ und „Ah!“. „Klick“ macht es auch ununterbrochen, Asiaten wollen ja Hofburg und Versailles gern als mp3 mitnehmen, im Kopf macht es aber nicht „klick“, weil die Herrschaften kein „L“ aussprechen können, oder weil sie der diensthabenden Niedlichkeitsprinzessin, Fremdführerin Li, nicht zuhören. Quak, Qaack, sagt die gerade, was soviel heißt wie: „Kaiser Nepomuk III.a  errichtete hier ein Sommer-Sanatorium“ oder „Scherzherzog Fürstenschreck-Osterhazy leitete zum Zweck der Türkenabschreckung hier die Donau in den Wienerwald…“ usw. Wie denn, fragt sich der Bildungsferne, in Geschichte immer Geschwänzthabende: Wurde das Habsburgerreich denn von Maurern und Kanalbauern regiert? Ja und nein. Na ja gut, eher nein. Die Knochenarbeit wurde von eigens zusammengekarrten Knochenarbeitern gemacht, aber immerhin auf kaiserlich-königliche Bestellung. Wie? Was fragt ihr? Nicht alle durcheinanderreden! Du da! Was ist deine Frage?

Ob es Kaiser und Könige wirklich gegeben hat? Aber selbstverständlich! Alfons der Viertelvorzwölfte, der Kaiser mit den neuen Kleidern, der Schwiegervater von Aschenputtel und der Chef vom Eisernen Hans – die haben alle wirklich mal gelebt! Ist aber lange her. Heute sind die meisten auf ihrem Pferd versteinert und stehen auf Parkplätzen, oder so Plätzen im Palastvorgarten. Manche kennt man noch: Kaiser Testarossa, Kaiser Schmarrn, Fürst Pückler. Oder eben auch Dings, Kaiser Josef.

„Och nö! Nicht schon wieder Josef! Dann heiß ich ja wie diese ganzen anderen Kaiser alle“, maulte der kleine Prinz. Na gut, hieß es in Hofkreisen, dann nennst du dich eben … Josef II. –

 Als Josef II. geboren wude, 1741 in Wien, gab der Palast eine Presseerklärung heraus, die heute noch grooved:

 „Heute in der fruhe zwischen 2 und 3 Uhr seynd Ihre Majestät die Königin zu Hungern und Böheim (sic!), Erz-Hertzogin zu Österreich, unsere Allergnädigste Landes-Fürstin und Frau eines schön- und wolgestalteten Ertz-Herzogen zu unaussprechlicher Freude Allerhöchster Herrschaften wie auch zum höchsten Trost alhiesiger Inwohner und gesammter Königl. Erb-Königreichen und Landen glücklichst entbunden worden; von welcher glüklichen Entbindung alsogleich der Ruf mithin ein immerwährendes Jubel-Geschrey durch alle Gassen noch bey eitler Nacht erschollen. Von dieser glücklichen Entbindung seynd auch die Nachrichten mittels Abfertigung einiger Kammer-Herren, Truhsessen und respektive Expresso an unterschiedliche auswärtige Höfe abgefertigt worden.“

 „Ein immerwährendes Jubel-Geschrey durch alle Gassen noch bey eitler Nacht“, das kennt man sonst nur von der Fußball-WM, aber der kleine Säugling vom Mutter Maria Teresia hatte es verdient! Schon früh widmete sich der Kaiserlehrling der Aufgabe, sich beim Volk unvergesslich zu machen, etwa durch sorgfältig und systematisch organisierte Ausbeutung Ungarns, der Tschechei, Rumäniens, Serbiens, Kroatiens, Sloweniens, Norditaliens usw., denn eine Hofburg oder ein Schloß gibt’s ja nun nicht auf Bausparvertrag. Josef II. hat aber auch viel fürs Volk gemacht. Hauptsächlich Vorschriften, und zwar für alles und jedes. Er galt ein bisserl als Pedant, weil er der Bevölkerung sogar vorschrieb, wieviel Kerzen sie bei einer Beerdigung anzünden sollten. Außerdem verbot er den Genuß von Pfeffernüssen, von denen er irgendwo mal gelesen hatte, sie seien gesundheitsschädlich.

 Gesundheit war ihm überhaupt wichtig! Deshalb ließ er 1784 den Narrenturm bauen, um psychisch Kranke zu pflegen – damals revolutionär. Das Gebäude hat 5 Stockwerke mit je 28 Zellen, weil das für Josef, einen Anhänger der kabbalistisch-astrologischen Zahlenmystik, irgendwas bedeutet hat. Auch Monarchen pflegen Marotten. Es heißt, Kaiser Josef II. hätte sich im Narrenturm ein eigenes Studierzimmer einrichten lassen,  weil dort, hoch im obersten Stock, die „geistige Energie“ besonders stark gewabert habe, die der Kaiser habe tanken wollen oder so, vielleicht war der Habsburger insgeheim ein Feng-Shui-Anhänger? Nein, aber gehörte dem Geheimbund der Rosenkreuzer an, und deren Vorstellungen waren spinnert genug.

Anderen Spinnern war der aufgeklärte Absolutist eher abhold: Er drängte den Einfluß des katholischen Klerus zurück, befahl religiöse Toleranz und löste alle Klöster (700!) auf, die keine produktive Arbeit leisteten. Im übrigen düste der Kaiser in seiner Kutsche rastlos inkognito quer durch Europa, um als „Graf Falckenstein“ so seine Erfahrungen zu machen, zu denen es wohl auch zählte, über den Kaiser, den Hundsfott, schimpfen zu hören. Allerdings wussten die meisten Menschen schon bescheid, wenn „Graf Falckenstein“ auf Tour war: Sie zogen ehrerbietig die Hüte und riefen: „Grüß Gott, Herr Kaiser!“.

Ein späterer Nachfahr des Kaisers, Franz Joseph, hat in Wien ein Hutmuseum begründet. Das nebenbei. Die damals geschwenkten Hüte könnten also evtl. besichtigt werden.

Dort, wo Josef II.  den Narrenturm bauen ließ, befanden sich bereits Armen- und Pesthäuser sowie ein Militärspital und eine Feldscher-Schule, Einrichtungen, die der Kaiser zu Wiens größtem und (damals) modernsten Krankenhaus zusammenfasste, welches man deshalb, mit gewissem Recht und zweckmäßigerweise, „Josephinum“ nannte. Das Josephinum gibt es noch heute; neben diversen Uni-Instituten beherbergt es die „Sammlungen der Medizinischen Universität Wien · Josephinum“, eine der bedeutendsten, in Jahrhunderten gewachsenen, komplett erhaltenen medizinhistorischen Sammlungen der Welt. Hier läßt sich studieren, warum die Leute, die damals überlebten und ein respektables Alter erreichten, es zumeist TROTZ der Ärzte taten, und nicht wegen. Ob dies heute natürlich vollkommen anders ist, darüber darf man denken, was man will – nicht zuletzt aufgrund der emsigen Aufklärungstätigkeit des großen Kaisers Josef II., von dem die Leute erst merkten, daß er eigentlich doch nicht so ein übler Patron gewesen war, als sie in den Genuß der Regentschaft seiner erzreaktionären Nachfolger kamen.

 Ansonsten wäre noch zu sagen, daß der Kaiser das engelhafte Originalgenie Wolfgang Amadeus Mozart dankenswerterweise generös mit Opernaufträgen bedachte. Hoch lebe daher, wenn auch nicht ganz so hoch wie’s Wolferl, der Kaiser Josef II.! Ihm, der 1790 an Tuberkulose starb, folgte sein Bruder, Leopold II. Da war erstmal Schluß mit lustig und mit Meinungsfreiheit. 

Das Menschsein / Autoreifen / Anenzephale Menschenfrösche

25. Juni 2009
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Menschenfrosch im Weckglas: Anenzephaler Embryo

Trennungen und Scheidungen mögen das Dasein würzen, sie haben aber den Nachteil, daß man oft nicht nur Sorgeberechtigungen für Kinder, Hunde und Fahrräder, sondern auch bis zu 50% seiner Plattensammlung zurücklassen muß. Hinzu tritt erschwerend die sog. Altersvertrottelung, die nicht, wie der irreführende Name andeutet, „im Alter“ geduldig auf einen wartet, sondern schon mit den allerersten Filmrissen nach durchzechter Nacht ihr Zersetzungswerk beginnt, sodaß einem beispielsweise Bandnamen und Albumtitel komplett entfallen. Einfach weg, futschikato, leider unwiderruflich gelöscht!

Meine diversen Ex-Frauen werden natürlich den Teufel tun, anstatt mir mal auf die Sprünge zu helfen mit diesem einen Song, den ich in den 80ern besaß: Also, ich glaube, es war ein Duo; der elektronische Automaten-Beat ziemlich schlicht, technisch anspruchslos, und dazu greinte ein Mann in gedehntem, weinerlich-nörgelndem, näselnd-schnarrendem Grinzing-Wienerisch ungefähr folgende Zeilen:

 „I wär sso gerrn aan Autoreifn,
i wär so gern a Bonbonnng,
i wär sso gerrn a Briefmarkn
i wär sso gerrn a Tresorrr,
 norr das Menschsein,
das Meeeenschsein peinigt mich gar sehrrr.
 Aan jedr Autoreifn hat an Profil (i hoab koaans, i hoab koaans)
Aan jedr Bonbonng hat G’schmack (i hoab koaan, ich hoab koaan)
A jede Briefmarken hat aan Ziel ( i net, i net)
A jedr Tresorr hat oan Geheimnis (i waas koans, i woas koans…)
 Ja, das Meeenschsein, das Meeenschsein,
das peinigt mich gar sehrrr!“

 Immerhin konnte ich mir diese Zeilen noch merken! Wahrscheinlich, weil’s stimmt: Menschsein peinigt! Nicht wie Zahnschmerz oder Liebesblues, sondern wie in dem einen Traum von mir, wo ich, als Sechsjähriger im Frotteeschlafanzug, unter Aufsicht von Professor Theodor W. Adorno im Kinderzimmer eine Philosophie-Klausur schreiben sollte, aber auf nur zweilagigem Toilettenpapier, mit abgebrochenen Wachsmalstiften, auf einem groben Sisalteppich als Schreibunterlage, und unten am Couchtisch warteten meine aufgeregten Eltern und tranken mit Adorno Portwein oder Stachelbeerlikör, weiß nicht mehr, kurz: eine kaum lösbare Aufgabe, ein hoffnungsloses Unternehmen! Menschwerdung: Vergiß es! Menschsein? Kaum denkbar. Menschbleiben: Schön wärs!

 Um sich mal das ganze unsagbare Ausmaß des Jammers vor Augen zu führen, der katastrophalen Bedrohlichkeit und fortwährenden, eminent beängstigenden Gefährdung zerbrechlichen Menschseins, empfiehlt es sich, gerade für Hypochonder wie mich, den josefinischen Narrenturm in Wien inwändig zu besichtigen – genauer, die pathologisch-anatomische Sammlung, die man dort, im festungsähnlichen ehemaligen Irrenhaus von 1784, Interessierten zeigt: Ein melancholisches Panoptikum der Missbildungen und Verkrüppelungen, der Geschwüre, Infektionen und Tumoren, der Seuchen, Epidemien, Mangel- und Armutskrankeiten, aber auch der mörderischen Scharlatanerien und bestialischen Quacksalbereien, mit denen man einst, voll guten Willens und Gewissens, Kranke traktierte. Draußen das morbide Wien im Dauerregen, drinnen blasse junge Mediziner in weißen Kitteln, die dir mit wissenschaftlicher Leidenschaftslosigkeit (und im gedehnten Zentralfriedhofs-Wienerisch der Berufsmelancholiker) den Horror organischer Existenz präsentieren, die Schrecken von Rachitis, Tuberkulose, Syphilis, Lues und Lupus, Krebs und Beulenpest; lepröse Nekrosen, morose Karzinome, groteske Geschwülste, wucherndes, fressendes, faulendes Gewebe, in Weingeist oder Spiritus, als Schnittpräparat, Skelett oder Paraffin-Moulage von Körperteilen, die von eigens dafür angestellten Pathologen liebevoll mit den Symptomen unaussprechlicher Hautkrankheiten bemalt, bepustelt, gesprenkelt, gefleckt, gescheckt wurden. Dann weiter, die Herrschaften, immer Dr. Frankensteins gepiercten, bleichen Gehilfen nach. Der weiße Kittel sei das Fanal!

 Regale voller Einweckgläser, Abteilung Missgebildete: Da schwimmen sie im imaginären Fruchtwasser grünlich trüber Traumlosigkeit: Anencephale Föten, hirnlose Menschenfrösche, blicklos ein-äugende Zyklopen-Babys, stumm versunken für alle Zeit im Abgrund zwischen Tod und Leben, kleine, sanfte Albtraumkarpfen, die das Menschliche knapp nur verfehlten, Nimmerlein-Aliens von Nirgendwo, wesenlose Schwebewesen, eingelegt in Vergangenheit, die nie Gegenwart wurde. – Und dort, in den Vitrinen: Namenlose Knochenqual, Skelettgrotesken, schaurig verdreht, verkrüppelt, rachitische Körperkarikaturen, die sich noch als Gebein wie in Höllenqual drehen, winden und die kleinen Krüppelfäuste schütteln gegen einen schweigenden Himmel und einen sadistischen Gott. Meine Damen und Herren – Das Menschsein! Ein Krampf, ein Gekröse, Gekrüppel und Gekrebse. Mann, Mann, mir wird blümerant! 

 Was die allgemeine Hinfäligkeit, Kränklichkeit und Skrofulösität des Organischen im allgemeinen, Hunger, Aremut und Dreck im besonderen nicht schaffen, den Rest also, den besorgten die Ärzte: Wenn sie die Kavernen tuberkulöser Lungen mit Amalgam (!) oder flüssigen Wachs verfüllten, wenn sie Kranke zu Tode röntgen oder vermeintlich renitente Irre mit Wasser-, Kälte- oder Zentrifugenfolter torturierten.

 Wieder draußen. Mir war nach starckem Weinen. Ach, ach: Wir armen Menschen. Meine Tränen mischten sich mit dem niederösterreichischen Dauerregen. An diesem Abend mußte ich viel Wein trinken, bis ich breit war – wie ein Autoreifen. Das Menschsein!

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Traumlos im Fruchtwasser: Eingelegt in Vergangenheit, die nie Gegenwart wurde

Vierzehn Arten, den Regen zu ertragen

23. Juni 2009
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...und der Regen regnete jeglichen Tag

EINE METEOROLOGISCHE ELEGIE IN GRAU-MOLL

Soundtrack: Hanns Eisler, „Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben“, Kammer-Suite für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Klavier, op. 70, (1941), Arnold Schönberg zum 70. Geburtstag

 Der Wetterbericht: Über Wien, um Wien herum und an der Wien entlang regnet es seit 49 Stunden ohne Pause, ohne Luft zu schöpfen oder neues Wasser zu holen, es regnet ruhig, sehr ernst und stetig, gleichsam wie selbstbewusst, also ergiebig und überaus gelassen, mithin nicht etwa leidenschaftlich, platzregenhaft, nicht sintflutend, nicht wie der Zorn Gottes, in Wasserfarben gemalt, sondern in der ausdruckslosen, mechanischen Gleichgültigkeit einer Duschbrause, unter der ein am Schlaganfall verstorbener Badender den Hahn nicht mehr hat zudrehen können, sodaß seine seit Tagen gnadenlos benetzte und begossene Haut bereits einen grünlichgrauen Farbton ungesunder Wasserleichenhaftigkeit annimmt; ein Regen ohne Melodie, ohne An- oder Abschwellen, ohne Modulation, bloß so ein schlichtes, maues, schauriggraues Schaurauschen: drucklos, aber üppig überlaufend lassen die fetten Wolken einfach unter sich, einen gewissermaßen inkontinentalen Regenwaldregen, der zum Fort- und Fortregnen gleichsam regional verpflichtet ist; ein im übrigen kühler, nässender, erkältender Regen ist das, nicht etwa ein lauer, sommerlicher, duftigerregender Erotik-Regen, der einen dazu treiben könnte, barfüßig und kindisch lachend, mit jungen, leicht bekleideten Mädchen über Wiesengründe zu hüpfen, also kein kleiner Frühstück-bei-Tiffany– oder gar Singing-in-the-rain-Regen, sondern eine auf längere Sicht eher frühherbstlich Frösteln machende 400%ige Luftfeuchtigkeit aus undurchdringlichem, vielfach tiefgestaffeltem Himmelsgrau, eine Form meteorologischer Melancholie generierend (regen-erierend?), wenn nicht schon Depression, ein nicht endenwollender feuchter Alptraum, denn, wer jetzt keine Arche hat, der baut sich keine mehr, dem regnet es ungeschützt ins Gemüt, dem hilft nicht Knirps noch Pellerine mehr, allenfalls der Besitz von Friesennerz und Gummistiefeln, doch die sind – wir hatten auf den Sommer gewettet – fern, daheim, jenseits des Regenbogens, der hier, mangels Sonnenlicht, nicht zu entdecken ist, kurzum,  es plätschert, plästert, pladdert, pütschert, pisst, pullert, pieselt, its raining cats and dogs, einen gradlinig faden Schnürlregen, der die Siebenschläfer hinter den sieben Bergen in ihren Schlafnestern ertränkt, ein in seiner Leidenschaftlosigkeit und Indolenz gegenüber allem Lebendigen schon geradezu erhabenes, grandioses Scheißwetter, so schlecht, das Wetter schon nicht mehr der richtige Begriff ist, denn Wetter kann sich per definitionem ändern, aber hier regnet es fürderhin einen jeglichen Tag, noch und noch, für und für, hundert Jahre Regenwetter, der ungnädigen Himmel weitoffene Schleusen oder Unterhosen changieren zwischen stein-, blei- und blaugrau, was sagt uns das, nun, Gott hat eine feuchte Aussprache, ihm ist tausendjähriges Pisswetter wie ein Schauer am Nachmittag, amen, jetzt bricht der Tag an für die Stiefkinder der Evolution, modrige, morose, morastige Molche und mollige Mollusken erheben das Haupt, quirlige Quallen quellen qualvoll quietschend unter quarrenden Quadratlatschen, bei jedem Schritt, Fische flösseln schlüpfrig kichernd durchs Treppenhaus, pelziger Schimmel schlägt auf in den Vorstädten, Landunter, landunter! unwetterwarnt das Unterwasserwarnamt blubbernd, Blasen steigen auf zwischen fallenden, stürzenden, rieselnden, rinnenden Tropfengüssen (gießt es noch oder schüttet es schon?), alles fließt, panta rhei, sickert, strömt, löst sich, sprudelt, strudelt, schäumt, schlammschlawinert schneckenschleimig matschig patschend, Rinnen, Gräben, Bäche, Flüsse nährend, das Wassermannzeitalter einläutend, einnässend, apathisch aquatisch, eine chinesische Wasserfolter, water boarding, in submariner Marinade Badende waten vage winkend ins Uferlose unwägbarer Feuchtgebiete, hinab in den sumpfigen Schoß der Urmutter, die Stufenleiter der Wesen wieder abwärts, zum Regenwurm, zum Unwettergeziefer, zum Geschmeiß und Geschnetz, zum initialen Originalurschleim, zum Geisseltierchen, zum Naßzeller, und weiter noch, bis dahin, wo das Urmeer den Urkontinent Gaia umspült mit Milliarden Tiefdruckgebieten…

Ich glaube, ich leg mich wieder ins Bett.

Jour Fixe bei Winterseel (8): Kunstdouble im Blutbusiness

21. Juni 2009
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Enver Konopke (r) in seiner Paraderolle als Hermann Nitsch

KONOPKES JOB

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Die Nachricht schlug im Salon ein wie eine im Gottesdienst geworfene Wasserbombe: Enver Konopke, unser selbsternannter Paradiesvogel, der einmal einen mehrtägigen Schluckauf bei Altlyriker Anatol Blankenvers ausgelöst hatte, indem und weil er sich selbst als „metaphysisch unbehost“ bezeichnet hatte, Konopke also, der unverbesserliche Schnorrer und durch langjährigen Alkoholmissbrauch stark verwirrte (Konopke: „Wieso’n jezz ditte? Missbrauch is höhssens, wennssu dich damit die Füße einreibst!“) Sohn eines preußisch-protestantischen Pedanteriewarenhändlers aus Rixdorf, hatte neuerdings, so mussten wir trotz aller ungläubigen Verblüffung realisieren, einen Job! Einen veritablen Arbeitsplatz! Und zwar, wie er kryptisch per unfrankierter Postkarte mitgeteilt hatte, „im Auslandseinsatz, höheren Orts in der allerobersten Welt-Kunstszene“! Erregt bestürmten wir Frau Geisträtin Mag. Isolde Kobloch-Gumpertting, Winterseels alte Integrierte-Gestalttherapeuttin, Psychoanalytikerin und Holographologin aus Wien, die uns die gute Botschaft mit verschmitztem Lächeln erläuterte: In der Tat sei Konopke, der religiös so hoffnungsfern Verwahrloste, bei einem mehrtätigen Casting auf Schloß Prinzendings als einer von mehreren Doppelgängern eines berühmten, nichtgenanntwerdenwollenden Wiener Malers und para-mystischen Aktionskünstlers engagiert worden!

Ein paar Augenblicksmysterien lang senkte sich eine Stille über den Salon, daß man das räuspernde Knospen, Knispeln und Knobeln von Milliarden Synapsen hören zu können meinte. „Neiiin!“ kreischte es dann, Sven Aaron Mangold, der Einserjurist, war wieder mal der Fixeste, „neiiin! Vom Nitsch? Doch nicht vom Nitsch, oder? Vom Blut-und-Hoden-Nitsch?! Konopke und … Nitsch??!“ Die Wiener Seelenprofessorin schmunzelte mit jenem unnachahmlich unergründlichen Analytiker-Gesichtsausdruck, den sie, dem Ondit nach, noch von Sigmund Freud selbst in mehrjähriger Lehranalyse übertragen bekommen hatte, und schwieg zur beredten Antwort ihr aufmunternd-vorurteilsfreies Ich-höre-Ihnen-zu-Schweigen.

„Wie? Wie’n Wien? Wassn? Wer issnn-ndieser Nnüscht?“ fragte Miss Cutie aufgeregt in die Runde. Sie schnupfnäselte noch, nach ihrer in einer Schönheitsnase mündenden Beauty-OP. Ironischerweise waren es ausgerechnet die Aquavit-Zwillinge, die schon mal einem „Orgien-Mysterien-Theater“-Spiel des berühmten Aktionskaspers Hermann Nitsch beigewohnt hatten. Verstanden hätten sie damals Nitsch nicht, nix, nüschte,  aber es sei sehr sinnenaufpeitschend, mystisch, mythologisch, liturgisch und para-ekklesiastisch, eklektizistisch und sogar auch etwas bemüht pseudo-dionysisch-orgiastisch zugegangen. Oder, um es mehr in der genuinen Ausdrucksweise der Aquavit-Zwillinge zu formulieren: Es war wohl in jeder Hinsicht „eine ziemliche Sauerei“ gewesen, bei dem mit dem Blut und Gedärm einer geschlachteten Sau herumgeschmiert worden wäre und, so Hauke, „so’ne s-plitterfasernackte Christussi hatten sie doa an so’n SM-Kruzifick-Kreuz angebunnen, und die mußte denn so’n ganzen Humpen Schweineblut runnerschlucken…“ – „Bah! Näh, was fürn Schweinkram!“ krakeelte Oma Hager im Brustton tiefsten Angewiedertseins dazwischen. Hinnerk ergänzte noch, man hätte zu dem Spektakel noch „so nebelartige Waber-Klang-Musik-Mansche“ gespielt, „so elektronische Softporno-Musik wie bei ‚Schulmädchenreport’“. (Hauke korrigierte: „Du meinz Emmanuelle Teil III!“)

„Und was hat nun unser Kamerad, der olle bekloppte Konopke, mit diesem Schweinkrämer zu tun?“ brachte Blankenvers die Diskussion wieder auf den Punkt. Nun, dies war rasch erklärt. Originalkünstler Hermann Nitsch sei es seit seinem 70. Geburtstag unendlich leid, überall den impertinent-beleidigenden, unverschämt-anmaßenden, nichtganzvondieserweltseienden Kunst-Naturburschen und Hundsbua zu geben. Das unentwegte Leute-Beleidigen, Kapriziösitäten-Vorgaukeln und Assistenten-Herumschubsen sei ihm in seinem Alter nicht mehr allein zuzumuten! Daraufhin sei die Entourage des Meisterswingers und Profi-Orgiasten auf die Idee verfallen, nach kleinen, drummeligen Opas mit grauem Bart und irrem Blick zu suchen, die evtl. nicht ganz richtig im Kopf, emotional instabil und metaphysisch beschlagen genug seien, um Nitsch an drei Abenden der Festspielwoche überzeugend zu doubeln und zu vertreten. Ende vom Lied: Enver Konopke hatten sie vom Fleck weg genommen und eingestellt! Mit Vertrag, Sozialversicherung und Ausfallgarantie!

Traurigkeitslehrer Arnold Winterseel, wie immer bemitleidenswert fröstelnd in sein schwarzes Samt-Sakko gewickelt, war gerade zur Tapetentür eingetreten, als aus dem Hintergrund eine straffe Sportsdame, die – wenn Fredi Asperger, der mir diese Information steckte, das denn mal richtig verstanden hatte –, als Modezarin firmierte und ihre Abstammung auf etwas undurchsichtige Weise vom finnischen Weihnachtsmann (?!) ableitete, mit einer Frage den verqualmten Luftraum durchschnitt: „Ist denn dieser Herr Konopke, wenn er von der Kunstwelt als Kunst-Nitsch akzeptiert wird, somit denn nun selbst auch als Künstler zu betrachten? Oder ist das vom Nitsch-Double Konopke vergossene Schweineblut weniger dionysisch-mysterien-orgiastisch als das vom Original-Nitsch verschmierte?“

Dr. Wintersell räusperte sich, um zu einem Vortrag über Ontologie, Semiologie und Phänomenologie des Orginalkunstwerks, der Kopie, der Fälschung und des Selbstplagiats anzusetzen, als die Amazone einfach weiter schwadronierte: „Weil, nämlich, ich kenn da einen angeblichen Star-Künstler, Cy Twombly, den gibt es in Wirklichkeit gar nicht, den hat man bloß erfunden, um mal zu testen, was fürn doofes uninspiriertes Gekritzel man den Leuten noch als Kunst verkaufen kann!“  Abermals stieg – wie „weißer Nebel wunderbar“ – Stille empor zwischen den Sitzgruppen. Diesesmal handelte es sich jedoch nicht um eine Schwingung des sprichwörtlichen Engelsflügels, sondern um frostig peinliche Betroffenheit. Alles starrte gebannt auf Winterseel, der, wie jeder sonst wusste, enger Freund und autorisierter strukturalistischer Exeget Twomblys gewesen war, und an dessen Stirn jetzt eine Vene deutlich pochend hervortrat. – Der fällige Vulkanausbruch blieb jedoch aus.

Winterseel seufzte nur milde und murmelte: „Gewiß, liebes Kind, der Meinungen sind viele, in Sonderheit der irrigen, aberwitzigen oder sonst der Häresie, Blasphemie oder Hebephrenie verdächtigen…! – Still, einer jeder in sich gekehrt, gingen wir an diesem Abend heim, allerlei Denkwürdigkeiten wägend.

St. Marxsche Entschwörung

21. Juni 2009
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Die drei Reiter der Apokalypse sind wieder on tour: "Dialektik!", "Entfremdung!", "Historischer Materialismus!"...

Die zweineinhalb Meter der preußisch-blauen MEW-(„Marx-Engels-Werke“)-Bände führen in meiner Bibliothek eher ein Schattendasein. Zur Lösung etwelcher Welträtsel habe ich sie seit langem nicht mehr zurate gezogen; nicht, daß ich inzwischen staatsfromm geworden wäre oder ein glühender Verfechter des Kapitalismus, aber mir stecken die „Kapital“-Seminare der frühen 70er Jahre („Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate und der Streik bei Ford“) noch immer in den Knochen. Seitdem ich dem Fünf-Götter-Glauben (Marx-Engels-Lenin-Stalin-Mao) abschwor, ist Karl Marx für mich nur noch ein achtbarer Ökonom und Gelehrter, aber auch ein alter, starrsinniger Grimmbart und herrischer Miesepeter. In den Termini der Psychoanalyse: Marx ist der Vater, den ich töten mußte, um zu leben.

Mit einem gewissen Mulm in der bei mir äußerst sensiblen Gegend zwischen Herz und Magen registriere ich nun in der Wiener Josefstadt, daß er wieder da ist: St. Marx! Und damit meine ich nicht den nach einem Siechenhaus, das dem Hl. Markus gewidmet war, benannten Teil des 3. Wiener Bezirks, sondern den kommunistischen Propheten. Er feiert sein Comeback, seitdem die Finanzkrise erwies, daß Börsen-Gurus, Fondsmanager und Finanzmagnaten genauso wenig Ahnung vom Wirtschaften haben wie wir, nur daß sie damit halt mehr Schaden anrichten. Verständlich, der Rückgriff auf Marx, er hats ja immer schon gesagt, daß das mit dem Profitwahnsinn nicht gut geht. Aber freilich hat er auch die Vereinigung der Proletarier aller Länder und ihre diktatorische Machtergreifung ersehnt.

Inzwischen ist uns das klassische Industrieproletariat weitgehend abhanden gekommen – im Zuge der Automatisierung wegrationalisiert. Zu meiner heute großen Erleichterung sind meine früheren Freunde und ich an dem Vorhaben gescheitert, die „Diktatur des Proletariats“ in Deutschland zu errichten. Mich hat das zu einem großen Verehrer des Scheiterns gemacht.

Zum Glück scheinen auch die Wiener insgesamt nicht mehr so stark dem Extremismus zuzuneigen, sondern den Ausgleich zu suchen. So fand sich unmittelbar neben der Marx-Seminar-Anzeige denn auchvorsichtshalber gleich ein prophylaktisches Gegenmittel gegen einen etwaig ausbrechenden neuen Marxismus angekündigt:

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Mich hat das beruhigt…

Coole Schmierage: Vorsicht Leben!

21. Juni 2009
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Die Schablonen-Technik erinnert an Banksy...

Ohne mich in der inner-österreichischen Politik auszukennen, geh ich mal davon aus, die ÖVP-nahe Initiative „Pro Josefstadt“ wollte sich da im letzten Jahr ein bisserl einschleimen bei den Josefstädter Hausbesitzern. „Wenn wir da ein wenig auf den Putz hauen, gegen Schmutz und Schund wettern und nach Ordnung schreien, wählen die uns vielleicht“, hat sich ein junges, aufstrebendes Politik-Genie evtl. gedacht und die eigene Idee für verdammt „leiwand“ (wienerisch für: genial, spitzenmäßig, intelligent) erachtet. Also hat er sich mal hingesetzt, ein altes Schulheft herausgekramt, eine leere Seite gefunden, am Bleistifterl geleckt und dann folgende Anfrage an den Bezirksvorstand formuliert:

 ANFRAGE: Graffiti – Unwesen in der Josefstadt

von: PRO JOSEFSTADT

 1. Ist Ihnen das Problem des Graffiti-Unwesens bereits aufgefallen?

2. Was haben Sie als Bezirksvorsteher bereits dagegen veranlasst oder gedenken Sie dagegen zu veranlassen?

 BEGRÜNDUNG:

Seit geraumer Zeit gehört in der Josefstadt das Beschmieren von Hauswänden, Toren und Geschäftslokalen zur Tagesordnung. Die verschiedenen mehr oder weniger künstlerischen Ergüsse und teilweise provokanten Slogans verunzieren mittlerweile fast jeden Häuserblock in diesem Bezirk. Gleich welchen politischen oder sonstigen Ursprungs sie sind, und gleich welchen künstlerischen Inhalt sie haben mögen, sie sind in jedem Fall eine Beschädigung privaten oder öffentlichen Eigentums. Da sich diese Delikte besonders im letzten Jahr gehäuft haben, können die betroffenen Bürger, die den Schaden bezahlen müssen, sehr wohl Hilfe, aber zumindest eine sofortige Stellungnahme des Bezirksvorstehers, die auf Grund der Dringlichkeit der zahlreichen Beschwerden noch vor der Sommerpause erfolgen sollte, erwarten.“

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Damits nicht zu süßlich wird in der Josefstadt

Der Bezirksvorsteher, ich nehme mal an, ein Sozialdemokrat, blieb gelassen und in seiner Antwort recht kühl und knapp: Antwort des Herrn Bezirksvorstehers: Wenn es auffällt, werden die jeweiligen HV verständigt.“ Ob die rechtspopulistischen Wichtigtuer und Saubermänner diese Antwort befriedigend fanden?

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Grimmiger Kommentar

Mir sind einige neuere Produkte der AerosolArt-Fraktion in der Josefstadt aufgefallen, und ich muß sagen, für meinen Geschmack sind sie sehr kleidsam und verhindern, daß die renovierten Straßenzüge allzu übermäßig geleckt und verstorben anmuten. Welche Aussage die Sprayer intendieren, weiß ich ja nicht, aber auf mich wirken sie wie ein rotziges Gitarrenriff aus einem offenen Fenster – die Message: „Vorsicht! Hier wird noch gelebt!“

Freilich, ich bin auch kein Josefstädter Hausbesitzer. Wäre ich einer, ich glaub, ich tät mich vorerst nicht beschweren. „Fesch!“, würd ich zum Sprayer sagen und „leiwand wie auf Leinwand!“

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"Cool Killer..." (Baudrillard)


Durch(h)aus freiwillig

20. Juni 2009

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Ich bin ein Freund der Freiheit. Das geht bis zur anarchistischen Tendenz. Verbote, Befehle, Anordnungen – so etwas finde ich irgendwie … unhöflich. „Durchgang verboten!“, „Rasen nicht betreten!“, „Nicht auf den Boden spucken!“ – solche barschen, begründungslosen Autoritätsbrocken, die einem von unbekannten, evtl. sogar kafkaesk gestaltlosen Mächten vor die Füße geworfen werden, reizen dazu, umgangen, unterlaufen oder übersprungen zu werden. So ein Ton macht mich renitent! Da krieg ich grad erst Lust, das Verbotene zu tun! Dabei spucke ich sonst nie auf den Boden – und nun mit Fleiß!

Umso magischer zieht mich da ein Torbogen in der Wiener Josefstadt (Lerchenfelder Straße 13) an, über dem steht die große Inschrift: „Freiwilliger Durchgang“! Ja, so ist es charmant! Enchanté! Ein Durchgang, des es mir in höflicher Unverbindlichkeit anheim stellt, ihn gern zu betreten – der es aber unaufgeregt und gelassen durchaus auch hinnähme, wenn ich sein Angebot für jetzt erst einmal dankend ablehnte – denn es beruht dies alles ja auf reiner Freiwilligkeit! –, DAS ist nach meinem Geschmack, da – Freiwilligkeit adé ! – MUSS ich einfach eintreten!

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Wie sich später herausstellt, war auch gar nicht meine Freiheit gemeint, sondern daß hier zur Biedermeier-Zeit, als Wien immer dichter bebaut wurde, der gnädige Herr Hausbesitzer es „freiwillig“ gestattete, daß man, um ohne Umweg von einer Gasse zur anderen zu kommen, praktisch durch sein Haus hindurchlief, weshalb diese Häuser, auf der Grundlage des sog. „überbauten Wegerechts“, auch „Durchhäuser“ oder eben „Freiwillige Durchgänge“ hießen. Aber beiseite mit dem juristischen Aktenkram! Dahinter verbirgt sich nämlich Zauberhaftes und eine der weniger bekannten, selten in Reiseführern herausgestellten Attraktionen Wiens, das noch mehrere solcher Durchhäuser besitzt.

Im Grunde handelt es sich um eine verbundene Kette von Hinter- bzw. Innenhöfen, durch die hindurch man von einer Straße oder Gasse rasch zu einer parallel verlaufenden gelangt – wenn man das noch will! Denn in den Durchgängen findet man sich urplötzlich in einer anderen, nämlich 150 Jahre zurückliegenden Welt. Cafés, Beisl, Heurige, kleine Manufakturen (handgenähte Schuhe!), Galerien und Lädchen reihen sich aneinander, Efeugrün filtert das goldene Sonnenlicht zu dezent indirekter Beleuchtung, Gewerbefleiß und Wiener Gelassenheit verbinden sich zu dezenter Geschäftigkeit, und als fremder Flaneur findet man sich mitten in der Riesenmetropole allem Stress enthoben, geborgen und behütet, und man ahnt, was Urbanität einmal bedeutet hat und wäre gern freiwilliger Mitbürger einer Zeit, die als „Biedermeier“ zu unrecht einen etwas spießen Ruf besitzt.

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Manche „Durchhäuser“ verbinden drei, vier oder mehr Höfe und umfassen oft sechs oder sieben „Stiegen“ (Hausaufgänge), zumeist sind sie luftig, sanft lichtdurchflutet, immer ein wenig geheimnisvoll und versprechen dem neugierigen Entdecker ein ähnlich erregendes Glücksgefühl wie eine Wundertüte in der Kindheit. Durchhäuser sind architektonische, gastronomische, künstlerische etc. Wundertüten! 

Der „Freiwillige Durchgang“, den ich hier fotographisch dokumentiere, verbindet, am Rand der Josefstadt, Lerchenfelder Straße und Neustiftgasse (Das ist dann schon Neubau, also 7. Bezirk). Im Durchhaus befindet sich u. a. Galerie und Café Kandinsky, das ich aber NOCH nicht besucht habe. Macht nichts, denn hier will ich eh noch mal hin!

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Wiener G’schichtn: Adabei

18. Juni 2009
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Nicht Jet-Set, sondern Postkutschenzeit: Der Hirschkäfer

Eine Überdosis historisches Wien kann nostalgisch stimmen. Auf der Terrasse, abends, nach einem langen Tag in der Josefstadt, verfolgt die Gattin sinnend den schwerfällig brummelnden Heimflug eines Hirschkäfers und murmelte, nach ausgiebiger Kontemplation, leis und schwärmerisch traumverloren: „Das ist auch so ein liebes Tierchen noch aus dem 19. Jahrhundert … Ich mein, halt so Postkutschenzeit…“

 Als Evolutionstheorie ist das zwar ungewöhnlich, aber plausibel und ausbaufähig. Lebten wir früher, zur Zeit des Urgroßvaters, gemütlich unter urigen Unken, Lurchen, molligen Mollusken, Schopfschnepfen und schnuckeligen Napf-Schneckchen, so stöhnen wir heut in der Ära der Eintagsfliegen, Schnell-Schnaken und Spinnmilben, gefangen im Zeitalter nichtsnutziger Parasiten, blutsaugerischer Mast-Egel und unterwürfiger Tausendküßler. Die biogeographischen Großräume München und Wien veröden unter dem Befall mit schmierigen Adabeis, einer Laus-Plage auf Schleimpilzbasis, einer Society-Krankheit, die durch angedeutete Wangenküsse („Bussi-Bussi, Gä’Frau!“) übertragen wird.

 Die männliche Form des Adabei (österreichisch für „auch dabei“) demonstriert zumeist, durch schwarzbraune Hautfarbe, daß es außer Golfen und Segeln nichts mehr „zum Tun“ gibt; sie trägt, vor allem während der ganzjährigen Balz, an der Bauchseite und den Bizeps Muskelattrappen zur Schau und bewegt sich in nach oben hin weit offenen Automobilen („Cabrios“) fort; wo die Verkehrsverhältnisse besser ausgebaut sind, benutzt er auch gern schwarze, tonnenschwere, allradgetriebene Geländewagen („SUVs“) der Firmen Daimler, Porsche oder VW. Der männliche Adabei war meistens früher mal irgendwas (Schlagersänger, Zuhälter, Defraudant oder Casino-Betreiber), wovon er dann lebenslang zehrt. Apropos zehren: Die Nahrung des Adabei besteht a) aus der klebrigsüßen Aufmerksamkeitssülze des Boulevardjournalismus, b) aus „Hasen“ (auch: „Spatzl“, „Baby“ oder „Hascherl“, manchmal evtl.: „Flitscherl“). Ohne Nachschub an frischen oder wenigstens frisch ausgestopften „Hasen“ muß der Adabei verhungern oder implodieren, weil sein Mikroorgan („Penis“) mit Denken evolutionär überfordert ist.

 Die weibliche Begleitform des Adabei bildet die sog. „Kunstszene“, die so heißt, weil am „Hasen“ meist alles mehr oder minder künstlich ist: Frisurblondierung, libido-stimulierendes Möpse-Volumen, Bräunung der sog. Lederhaut, Zähne-Blecken an Lipgloss-Botox-Schwellkörperlippen („schneeweiß & rosenrot“), Fingernägel („Acrylkrallen ‚LasVegas’“), girrendes, gurrendes Lachen – alles künstlich! Selbst das Hirn des weiblichen Adabei besteht oft nur aus einem Eierlöffelchen Kunsthonig. Der Rest ist Parfum und Herzenskälte. Das Weibchen ist zuständig für die Abteilungen Optik (Deko) und Sexualität. Die Sexualität der Adabeis erfolgt durch gemeinsames Cabrio-Fahren und angedeutete Wangenküsse („Bussi-Bussi!“).

 Die Wiener „Kronenzeitung“, ein Boudevardblatt jener Klasse, die man bereits zögert, auch nur als Tissue de toilette zu verwenden, hat eine Rubrik: „Adabei“. In ihr berichten gel-haarige, goldkettchentragende Sonnenbankiers und Press-Zuhälter über ihresgleichen und deren „Hasen“. Eine kotzbare Lektüre für Geschmeißfliegen und Freunde süßlich-fauliger Geschmacksverwesung! („Ja schloag net so aan Wöin! Woas kost scho so aan Gschmaack! Aan Gschmack zahl i dir aus der Portokassn!“)

Wer sich das mal kostenlos anschauen will, stellt sich an den Schaukasten vom Bistro-Pub „Nikodemus“, direkt vis à vis von der Kirchn am Hauptplatz der Metropole Purkersdorf. Das Schaukasterl dokumentiert die Adabei-Party zum 19-jährigen (ha! „Hasen“!) Bestehen des „Nikodemus“, und zeigt „Szene-Wirt Niki“ im Kreise seiner prominenten Adabei-Freunde, unter denen freilich jetzt mir nur einer bekannt war: der im Wienerwald anscheinend weltberühmte ältliche Rockschlager-Öler „Andy Lee Lang“. Berühmt ist er, weil er letzte Woche in Purkersdorf als Vorgruppe von Peter Kraus gespielt hat.

Laut div. Tourismus-Flyer ist das „Nikodemus“ eine „SzeneKneipe“. Wer jetzt gleich seinen Vorurteilen die Sporen gibt und sagt: „Na, zu DER Szene möchte ich aber nicht gehören, dieser démi monde des Kreditkarten-Adels und dero blondierter Silikon-Flittchen!“, der äußerst sich evtl voreilig. Außerhalb des nordwestdeutschen Sprachraumes, z. B. in München und Wien, bedeutet „Szene-Kneipe“ etwas abweichendes: Es handelt sich um ein Etablissement, wo sich der Adabei und seine Hasen gern mal eine Szene machen. Hier wird die Teilung des Pelzmantels („Nobelzobel“) und das Sorgerecht für die Silikon-Möpse ausgehandelt, hier lächelt man vielzähnig („Hai! Spatzl! Buss-Bussi!“), während die Trennung von Fisch und Fahrrad beschlossen wird, hier klimpern goldene Armreifen und maskara-schwere Traumwimpern („Oréal! Jetzt mit bis zu 25% mehr Ausdruck!“), hier werden hochwertige Plastik-Chips mit astronomischen Gefühssimulationen über die Spieltische geschoben; in den V-Ausschnitt-Vitrinen an den Nebentischen wölbt und wogt Doppelmopsfleisch in Übergrößen, man gibt sich entfesselt, spontan und sorgenfrei, kurz: hier wär man gern „Adabei“.

Na und? Kein Problem! Kann man! Das „Nikodemus“ hat einen gemütlichen kleinen Schankgarten, es gibt kleine leckere Gerichte, sorgfältig gemachte, recht delikate Salate und guten Wein aus der Region, auch noch zu vernünftigen Preisen. Die abschließende Käse-Platte enthielt zwar keine Überraschungen, kam aber frisch, schmackhaft und ansprechend daher und wurde mit lediglich 5,50 € berechnet. Hätte man DAS gedacht? Nun, nur, wenn man Vorurteile hegt. Essen, Trinken, ethnologische Studien betreiben – diese drei Dinge kann man hier durchaus tun und adabei sein. Wenn man Glück hat und fremdelt, bekommt man vom Wirt keine Wangenküsse, sondern nur ein devot händereibendes, ganz leicht schmieriges „Geht es Ihnen gut? Werden Sie gut betreut? Ist alles nach Ihren Wünschen?“ zugedienert.

 Apropos Wein: Immer wieder rege ich mich über die Unsitte auf, zu normalpreisigem Essen völlig überteuerte Durchschnittsweine zu kredenzen. So etwas tut man im „Nikodemus“ nicht! Hier kommt man bizarrerweise durch die Brotpreise auf seine Kosten. Während man so schaut, staunt und die Auslagen (s.o.) beglotzt, knuspert man gedankenlos an den dargereichten Brötchen und Laugensrangen – man will ja nicht immer offenen Mauls glotzen! Ich glaube, erstmals im Leben war bei mir am Ende des Abends die Brotrechnung höher als die Getränkekosten. Trotzdem geh ich da noch mal hin. Wir, die Gattin und ich, haben nämlich gewettet, wie oft wir kommen müssen, bevor sie die ersten Wangenküsse einstreicht. – Die Kotzen übernimmt natürlich der Gentleman! Also, Bussi-bussi, gööh, babá und ciao, Euer Kraska (Adabei)

Wiener G’schichtn (Impertinente Prominenz)

17. Juni 2009
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Aus großer Zeit: Hermann Nitschs "Orgien-Mysterien-Theater"

WAS UNS TRENNT

„Deutsche und Österreicher unterscheiden sich durch die gemeinsame Sprache“ spöttelte einst Karl Kraus, und kaum ist man als Nordnordwestdeutscher in Wien-Schwechat aus dem Flieger gestiegen, merkt man das wieder. Eingeborene Wiener beherrschen die musikalische Kunst, ein unglaublich breites, vokalreiches und gedeeeeehntes Idiom zu sprechen, dies aber in einem Wahnsinnstempo. Daß Deutsche in Österreich oft als arrogant verschrieen sind, hat vielleicht hier seine Wurzel. Wiener scheinen es nicht für denkbar zu halten, daß man sie schlichtweg nicht versteht, und unsereins traut sich nicht, ständig nachzufragen, was noch mal Blunzn sind, Kiwara, Hawara, Naderer,Tschecheranten, G’stopfte oder Gfrastsackl. Da kann die Kommunikation schon mal holpern. Wie wir später beim Dorfwirt in Purkersdorf überm Blunzgröstl gesessen sind, hab ich zur Gattin gesagt: „Hier ist alles wie bei uns – nur eben ganz anders“. Gut so! sonst hätt ma ja nicht extra nach Österreich foahrn miassn.

 In der Flughafenhalle entdecke ich gleich unseren Chauffeur. Nicht, daß wir uns kennen, aber er hält ein Schild mit unserem Namen hoch und schaut a bissel fragend ins Menschengewühl. Irgendwann treffen sich von ferne unsere Blicke, ich zeig auf sein Schild, er zeigt ungläubig auf mich zurück, ich nicke heftig, er deutet sicherheitshalber noch einmal aufs Namensplakat, dann fragend auf uns, ich weise draufhin neuerlich auf mich und nicke noch mal frenetisch, das geht noch ein Weilchen so weiter, und schon haben wir uns verstanden: Das ist der Mann von C&K, der uns von Wien-Schwechat nach Purkersdorf kutschiert, was präzis 38 Euro kostet, also günstiger ist als ein Taxi, und Wiener Sprachmusikalien in Form von G’schichtn gibt’s gratis oben drauf.

 Das heißt, ein Weilchen beäugt uns der Mann etwas skeptisch, aber irgendwann wird’s ihm fad. „Ah, hoit foahr i proaktisch nuur a Promineeeenz…“ – „??“  –„Noo, dös Fernseh…“ deutet er aufs Namensschild, wo der Arbeitgeber-Sender der Gattin draufsteht. Ich unterlasse die fällige Richtigstellung, daß man auch vollkommen unberühmt beim „Fernseh“ arbeiten kann und lausche lieber einer atemberaubenden G’schicht, die so beginnt: „Und vor vier Stunden hob i den Nitsch gfoahrn! Den Maler, wissen’S? Mit am Flitscherl, dös könnt sei Enklin sein!“ Glücklicherweise bin ich bewandert und repliziere gekonnt: „A, gehn’S! Den Blut-Nitsch?!“ So entspannt sich ein Gespräch über Wiens berühmtesten lebenden Kunstmacher Hermann Nitsch, den Erfinder des Orgien-Mysterien-Theaters, bei dem bekanntlich u. a. viel Tierblut und nackerte junge Menschen zum Einsatz kamen.

 Unser C&K-Mann war vom Nitsch nicht begeistert, was aber außerkünstlerische Gründe hatte (der Wiener ist in Kunstdingen sicherheitshalber tolerant; man kann ja nie wissen, ob nicht einmal wieder ein Mozart oder Schubert oder Schiele herauskommt…): Der große alte Nitsch nämlich hatte sich „impertinent“ benommen und sich als Ungustl (= unsympathischer Mensch) erwiesen. Erst hatte der Malerfürst den Fahrer nur indirekt angesprochen, über sein Flitscherl („Sag dem Bua, er soll da einbiegn!“), dann hatte sich der Herr Chauffeur, ein gesetzter Mitfünfziger, vom alten Nitsch (71) nicht „Bua“ nennen lassen wollen, und dann gabs „a richtigs Gfrett (= reichlich Ärger)!

 Am End von der G’schicht war noch Zeit übrig, und so bekam ich noch einen Abriß der Firmengeschichte der Transportgesellschaft C&K dargelegt, den ich abkürzungshalber zusammenfasse: Die Firma unterhält mit 90 Wagen einen Transportservice von und zum Flughafen Wien-Schwechat. Bis 2008 war das Unternehmen im Besitz eines spielsüchtigen Falotts (= Gauners), der Steuern hinterzog und Fahrer schwarz („schwoazz“) arbeiten ließ. Dann haben Kiwara (=Polizisten) in einer Großaktion alles beschlagnahmt und den Chef einsackelt (= verhaftet). Die Wiener Lokalbahnen, eine Tochtergesellschaft der Wiener Stadtwerke, hat den Bestand dann übernommen, vom Wagenpark bis zur Buchhaltung alles renoviert und auf ordentliche Räder gestellt und jetzt ist es ein seriöses Unternehmen, dessen Dienste man gern in Anspruch nimmt. Besonders stolz scheint man darauf zu sein, so entnahm ich später Presseberichten, und so bestätigte es der Chauffeur, daß man nicht nur den Fuhrpark erwerben konnte, sondern auch die Telefonnummer („fünfmol die vier“), die zum Erfolg des Unternehmens viel beiträgt.

 Auf der gut halbstündigen Fahrt habe ich noch viel mehr erfahren: Einiges aus der Lebensgeschichte eines Urwieners; etwas über die spezifische Bösartigkeit Schwechater Gendarmen (= Kiwara!) gegenüber Droschken mit Wiener Nurmmernschild; einiges über Rapid Wien und das Ernst-Hanappel-Stadion sowie ferner noch einmal doppelt so viel andere G’schichtn, von denen ich leider nichts begriff, weil er erzählte sie in in der gemeinsamen Sprache, die uns trennt.