Archive for the ‘Bizarres aus der Denkfabrik’ category

In den Mund gestopft

23. August 2012

Abendbrotabendidylle. – Bedächtig und mit methodischer Konzentration streicht sich der Verlobte der Stiefstudentin eine Butterstulle, welche er daraufhin mit sichtlichem Behagen verzehrt. Die Stulle, nicht die Studentin. „Daff Broop if neemich von Neddo“, verkündet er mit vollem Mund in der Runde, „iff da moomnpan daff Broop def Monapf!“ – Dass ein Geddo-Discounter sich die Mühe macht, aus seinem spartanischen Sortiment alle vier Wochen eigens ein „Brot des Monats“ zu küren, und sei dies auch bloß ein mieses, merkelig muffiges Mecklenburger Chemie-Graubrot der Marke Tristesse-am-Tisch, beweist den selten beachteten und öffentlich kaum gewürdigten, dennoch immer unermüdlich tätigen Bienenfleiß namenloser Marketing-Sklaven, die sich krumm schuften, um uns Verbraucher mit allerhand Quatsch bei frohgemuter Laune zu halten. Als politisch aufgeschlossener Bürger fände ich es kleingeistig, den Stammtisch-Kritikaster zu spielen und etwa auf Montags-Demos mit dem Megaphon lärmend nachzuhaken, wer denn bei der Wahl zum „Brot des Monats“ eigentlich überhaupt wahlberechtigt und ob die Kür auch frei und geheim sei.

Auch menschliches Graubrot, wie der vormalige Bundespräsident etwa, wird ja nicht vom breiten Volk der Stullenesser gewählt, sondern von sorgfältig ausgeguckten Elitemenschen aus Politik, Sport und Kultur. Wollen wir dem mauen Graubrotmann und nährstoffarmen Leistungsverweigerer übrigens gönnen, dass er neuerdings 18.000 Euro mehr einstreichen darf  bzw. sich dafür, wenn er möchte, lebenslang gute irische Bio-Butter ins Haar schmieren kann? Aber natürlich, so generös wollen wir sein! Zwar wird für uns, die wir ebenfalls nichts arbeiten, kaum jemals eine Gehaltserhöhung in dieser Höhe winken, aber wir beißen die Zähne zusammen – Neid ist unvornehm! Übrigens, meine durch Krieg und Hunger beschädigte Frau Mutter pflegte Butter bis in die 60er Jahre generell immer nur „guute Butter“ zu nennen, nie ohne dieses schmückende Beiwort, und immer mit einem  Blick frommer Begehrlichkeit in den hungrigen Augen; sie hatte aber auch recht, denn damals war die Lebensmitteltechnologie noch nicht erfunden. Heute besteht Butter bis zu 30% aus Wasser, weswegen sie zum Braten nicht mehr geeignet ist und fad schmeckt, selbst auf dem Brot des Monats. Wahrscheinlich wird die Wasserbutter in einem speziellen Verfahren hergestellt, – wie Bionade.

Ich gehöre nicht dazu, deswegen weiß ich auch nicht, ob die Gemeinde der Bionade-Trinker tatsächlich von der Frage gepeinigt wird, warum denn bloß Bionade „so einzigartig anders“ schmeckt, was jedenfalls die ekstatische Werbung behauptet. Das liegt, um die Sache mal aufzuklären und dazu den Chef-Tautologen der Brause-Firma mit seiner pampigen Antwort zu zitieren, daran, dass Bionade eben im „spezifischen Bionade-Verfahren“ hergestellt werde. Schon als Kind in kurzen Hosen nervten mich doofe, faule Erwachsene, die auf „Warum?“-Fragen mit „darum..!“ antworteten; ich möchte Bionade deshalb nicht zum Getränk des Monats wählen! Spitze Zungen werden anmerken mögen, Getränke ohne Alkohol hätten bei mir doch eh keine Chance, aber das stimmt so nicht. Nicht in die Tüte kommt mir lediglich der neumodische Bubble-Tee, egal, ob er Krebs macht oder nicht. Natürlich ist das wieder eine chinesische Erfindung.

Der radikal omnivore Chinese kennt offenbar generell nichts, was er nicht wenigstens versuchsweise in den Mund stopft. In der südostchinesischen Stadt Dongyang gelten zum Beispiel Eier als Delikatesse, die man stundenlang in Knabenurin geköchelt hat. Der Urin muss von Knaben stammen, die noch nicht zehn Jahre alt sind und wird, so heißt es, in den örtlichen Grundschulen gewonnen. Man beabsichtigt, glaube ich ferner gehört zu haben, diese kulinarische Sensation als Weltkulturerbe registrieren zu lassen; probieren möchte ich das  trotzdem nicht. Es verschaffte mir indes schon ein gewisses Vergnügen, „Eier in Knabenurin“ als Suchwort ins google-Feld einzugeben und umstandslos zahlreiche Treffer serviert zu bekommen. Apropos serviert bekommen: Man sollte mir nicht voreilig Mangel an Abenteuerlust unterstellen. Für mein Philo-Seminar im Herbstsemester, das sich ums Essen dreht – doch, bei mir drehen sich Seminare! –, habe ich bei einem thailändischen Versandhandel allerhand Köstlichkeiten geordert. Vielleicht werden die frittierten Schaben und gerösteten Heuschrecken ja von den Teilnehmern zum „Snack des Monats“ gewählt oder ich zum Dozenten, bei dem es „einzigartig anders“ zugeht. Dann gebe ich eine Bionade aus, die schmeckt wenigstens annähernd wie Knabenurin!

 

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Text für bis zu 9 Leser

14. August 2012

Noch brühwarm und elektrisierend aus der intellektuellen Mikrowelle: Ich habe ein neues Wort! Und nicht nur ein Wort, gleich ein veritables Studienfach, ach was sage ich – eine neue Berufsperspektive: Vexillologie. Doch, das gibt es! Hätte ich mal bloß das studiert, denn wenn man bekennt, Philosophie-Magister zu sein, gucken die Leute nur immer mitleidig und streicheln einem herablassend über den Kopf. Und ich hasse Mitleid. Aber Vexillologe, ja, da hieße es gleich ehrerbietig: „Ach, ’tschuldigung, könnse nich ma gucken, Herr Dokter, ich happda morns immer son steifen Arm…“ – Allerdings übersteigt es mein Vorstellungsvermögen, mir auszumalen, was Vexillologen den lieben Tag über eigentlich so treiben, ein ganzes Berufsleben lang, bis zur Emeritierung. Gut, sie reisen sicher zu internationalen Vexillologen-Kongressen, halten dort Vorträge über ihr Spezialgebiet und arbeiten ansonsten wahrscheinlich viel mit Buntstiften, die natürlich auch mal angespitzt werden müssen – aber dann? und sonst?

Wird der Vexillologe wohl schon zeitig am Nachmittag heimkehren, nehme ich an, und daher noch Frau Frerkes antreffen, seine Haushälterin, die seit fünfzig Jahren in ihren Dienstherren verliebt ist und ihm gerade am Herd sein Leibgericht zubereitet, Tafelspitz mit Meerettichsauce, und während sie ihm seine Hauspuschen in der Mikrowelle anwärmt, dürfte sie, ein alter Scherz zwischen den beiden, flöten: „Na, Professorchen, was machen die Vexillen?“ – worauf der Gelehrte behaglich schmunzelnd die Hände reibt und wie immer entgegnet: „Nun, Frerkelchen, ich darf mir schmeicheln, dass meine Enzyklopädie der Querstreifen horrende Fortschritte macht!“ Das brikettschwere Werk wird seinem Todfeind Dekan Gregorius, dem Chef der Abteilung für quer gestreifte Trikoloristik, dereinst endgültig das Maul stopfen, hofft der Professor, den wir jetzt aber schleunigst verlassen, denn das Thema wird ja langsam uninteressant. Deutlich spannender ist eine Meldung, die mir gerade jetzt rechtzeitig auf den Bildschirm schneit:

„Wenn Sie sich bei Google+ anmelden, müssen Sie im Video-Chat nicht immer nur zu zweit sein, sondern können sich zum Beispiel mit bis zu 9 Teilnehmern gleichzeitig unterhalten oder zusammen YouTube-Videos anschauen.“ So sehen gute Nachrichten aus. Schon lange habe ich es im Video-Chat „nur zu zweit“ kaum noch ausgehalten! Immer die gleiche Visage vis-a-vis! Leider ist mein Bekanntenkreis zu klein, um auszuprobieren, ob es eine tatsächlich sensationelle Erfahrung darstellen würde, mich „mit 9 Teilnehmern gleichzeitig zu unterhalten“ und dabei auch noch YouTube zu gucken – oder gar YouPorn, hihi. Warum es aber gerade bloß „bis zu neun Personen“ sein dürfen, mit denen ich meine bevorzugten lustigen Kätzchen-Videos gucken kann und nicht zum Beispiel elf Freunde, das wird mir ein Fachmann erklären müssen, ein Videologe oder Numerologe vielleicht. Aber ich glaube, mir wäre das eh zu hektisch; ich kann es schon im Kino nicht ausstehen, wenn immer so Leute dazwischenbrabbeln, während ich mich auf einen Film konzentrieren möchte.

Unhektische Konzentration ist auch beim Lesen ratsam, sonst kommt es zu unwillkommenen Verlesern, manchmal sogar zu solchen, die man selbst Professor Freud selig nur errötend beichtete. Ich gab mich gerade meinem Laster hin, mehrere Dinge gleichzeitig bewältigen zu wollen, wobei eine dieser Tätigkeit im Überfliegen der Schlagzeilen von F.A.Z.online bestand, wo es dann hieß: „Durch Masturbation ans Krankenbett“. Die im Zustand milder Schockiertheit mein Gehirn überflutenden Bilder und Assoziationen möchte ich lieber dezent für mich behalten, zumal es in Wirklichkeit „Masterstudium“ hieß, was ja eine halbwegs seriöse Angelegenheit darstellt, wiewohl ich lieber altmodischer Magister als „Master“ bin, oder sogar bloß „Bachelor“, was in meinen Ohren doch irgendwie erbämlich nach Schmalspur und RTL klingt. „Ich habe einen Bachelor in Vexillologie“ – das wäre jedenfalls eine Information, die ich persönlich auf einer Party mit, sagen wir „bis zu 9 Teilnehmern“ kaum voller Stolz herumposaunen würde!

Wider die Orthopädographie

15. Mai 2012

Korrektur-Programm im Alten Ägypten: Jedes zweite Wort unterkringelt!

Warumb nuhr, theuere Genoßsen, seyd Ier unter die be-schämickt Sklaverey der RechtSSchreibunck gerahten, Ier armen Thoren? Wass lasset Ier, zu Gnaden, Euch denne vom großmechtigen Leviathan vulgo Satan oder so genannter Staat, in Euere partes privatissimae was ist die hochmögende Orthographia hineyngrappschen und herrumm pfuschen? Sünd nicht die Herren Grafen von Dudenn eyne veritabul Pestilenßz und Lantplahk, eyn beßerwisserisch Volck und Heerbann von lauther verderbtenn ehrloßen Kannegießern, krumben Pedannten der scola unt vor die Freyheit böß gesatzten Lummppenpack? Iie! deß Schröckenn und fauliges Gyfft vorspreizenden Natterngezücht, wo muthwillig cujonieren thut, was Freyheit der Scribenten seyn mußs & seyn soll, vor immerdahr und vuon unsrem HErrn GOtt geben! Mir ist die aerwig Schulmeysterei der orthopädaeisch Schwetzer und Wortdrexler ein Gräuel und wahrchafft Eckel! Sie solln ablassen von denen ierer elennt Beßsrungswuth, Thugend-Terreur und Gängelband-Binden! Ich schrob von Geburth an nemlich nach dehm eygen Schnabel und fuhr gutt nach dem Gefüel und Geschmakk deß puren Odems in meyne Brust! Hab ich nicht ius, nach dero Sitten der ehrwürdigen Aeltern zu faren? Meyn Hertz ersehned zuweylen eyn ächte Schweyzer Gard zu miehten, dem Thun der forfluchten, führwitzigen Correctores eyn End zu settzen und seys mit Schrecken, Bluth und Brannt!

– Also, zur Erklärung, es war so: Heute im medientheoretischen Seminar über Schrift und Schriftlichkeit, kamen wir, einem Textchen von Roland Barthes folgend, methodisch, dialektisch und systematisch ordentlich vom Hölzchen aufs Stöckchen, will sagen am Ende auf den beinahe staatlichen orthopädographischen Terror der sog. Rechtschreibung bzw. die Diskriminierung der kreativen Heterographen. Kaum schreibt einer, von der Macht der Begeisterung hingerissen, in seiner Bewerbung z. B. bei der Fa. Fielmann, er hätte „fielerlei Interessen“, wird er schon aussortiert und kommt auf den Lehrlings-Kompost! Ist das gerecht? Ehre den Helden der kreativen Schreibung, wie zum Beispiel James Joyce und Arno Schmidt! Und den barocken Anarchen! Kürzlich entschuldigte sich eine werte Kollegin dafür, versehentlich „Liedschatten“ geschrieben zu haben. Dabei! was für ein herrliches Wort! „Ich bin im Liedschatten der Beatles aufgewachsen!“ – ist das denn unklar, missverständlich oder verwerflich? Nicht im mindesten! Das ist wahr, das ist gut, das ist schön. Was verschlägt denn die unmaßgebliche Meinung der Duden-Terroristen?

Ich weiß ja nicht, wie das zugeht, aber hinter jedem Word-Dokument, das ich öffne, sitzen heute hundert unsichtbare, anonyme kleine Chinesen und unterkringeln mir jedes zweite Wort, das ich schreibe, blutrot mit Droh-Verbesserungen. Bitte, ich möchte das nicht! Gezeugt, gestillt und genährt noch in der Griechischen Antike, wuchs ich gymnasial in der frühen Goethe-Zeit auf und das war eine herrlich freie (freye) Ära! Ein jeder, zuvörderst Goethen, schrieb, wie er’s sich dachte, wie er fühlte und klingen mochte, und kein absolutistischer Sprachpolizey-Kommandant namens Literalhauptkommissar Duden verwies ihm diese Freiheit des persönlichen Ausdrucks. Der Staat hatte andere Sorgen, als seynen Unterthanen vorzuschreiben, wo sie das Komma hinklecksen sollten. Kommata setzte man dort, wo man mal Luft holen musste, und gut wars! Wo bitte gibt es denn allgemeine Regeln zum Luftholen? Ein Engbrüstiger, ein Asthmatiker oder luftknapper Adept der Schwindsucht setzte viele dieser Beistriche, ein weitbrüstiger Rhapsode, Musikal-Kastrat oder Opern-Arier deren halt weniger. Ja, na und? Gab es deswegen etwa babylonische Verwirrung, gegenseitiges Missverständnis und Zungenverwirrung? I wo!

Dass Werthern sich in Lotten verliebte, als er sie beim Brothschneiden beobachtete; dass er, da er sie nicht haben konnte, sich am Ende zwangsgerecht selbst entleibte – haben wir das etwa deshalben nicht verstanden, weil im Original Seyn statt sein, Muthwillen statt Mutwillen stand? Ob was mit „ß“ oder „sz“ oder „ss“ geschrieben wird – macht uns das das Ausgedrückte etwa undurchsichtig? Ach was! – Ich weiß, der staatliche Rechtsschreibungsterror wird nicht leicht zum ersten Motiv einer Revolution werden,  aber dennoch, wenn dereinst, nach den „Piraten“, den „Halunken“ und den „Ganoven“ endlich  als achte Partei die „Barbaren“ kommen – ich wünschte, sie gäben, im Zuge einer erweiterten Aufklärung, nicht nur frei, was man glauben, sondern auch, wie man schreiben dürfte! Das wäre ein Fest! Der grammatische und orthographische Frühling! Wir strömten auf die Straße, auf den Dudenplatz, unsere Fahnen schwingend, auf denen, als Logo und Freiheitsfanal, ein „y“ prangte, ein „ß“ und ein „th“, sowie das Symbol einer Gießkanne, andeutend, dass wir unsere Kommata nach anderen Prinzipien vergössen als die Pedanten. – Ah, Freyheit!

Wie immer zu spät (Grass-Debatte)

14. April 2012

Unsere moralische Instanz: Der Butt! (Foto: Wikipedia)

Nachlese. Einmal die dicke Jägersuppe bitte, mit Windhundwurst und Greisenkraut! Und dazu ein Anmaßfass Stammtischbier! Das wird man doch wohl noch bestellen dürfen, oder? Die grinde Horde johlt. Delirium Larum Löffelstiel! Endlich frei und ungebunden. Seht her, der Pfeifenschornstein – jetzt raucht er schon und schmaucht die alten Lieder wieder. Ächzend kracht der Plapperkasten, proppevoll mit Topexpert, und dann und wann ein westenweißer Elefantenzwerg. Hutzelmänner, Runkelrüben, tosender Applaus: Der innre Schweinehund muss jetzt mal raus. – Ey, was jetzt das? Da reimt sich was! Ich glaub es nicht – soeben schrob ich ein Gedicht!

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Keine Pfeife? Oder noch mal anders. Ein Gedicht, heißt es immer, ist wie ein Wickelrock. Warum? Ich weiß es nicht! Vielleicht wegen der haarigen Beine? Ich hab noch einen Koffer im Kabuff mit Germanistenbesteck, da müsst ich mal nachkramen. Hier, ach, sieh mal: Dr. Kaisers klassisches Werk über Nudistenkostüme! Porno-Cord mit Lederflicken, schwarzbraun wie die Faselnuss. Alle, die mit uns auf Kapern-Fahrt wollen, müssen Männer mit Bärten sein. „Dies ist keine Pfeife“ urteilte Magritte harsch über den Dichter. Falsch. Pfeife sehr wohl, bloß eben Dichter nicht. In Möbeln gesprochen: Der Stuhlkreis steht, was nebbich ausfällt, ist die Reise nach Jerusalem.

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Lost in translation. Ich bin schon so sehr an Anglizismen gewöhnt, dass ich heftig schmunzeln musste: Waren die Salafisten-Spinner mit ihrer Koran-Verteilaktion wirklich gut beraten, als sie dafür den Slogan „Lies!“ erdachten?

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Alte Männer, die auf junge starren. Zugegeben, junge Leute können es leicht mit mir verderben. Ich leide altersbedingt unter Toleranzdefizit. Vorlaute, präpotente und unbescheidene junge Männer, die also exakt so sind wie ich früher, kann ich nicht ausstehen. Bei SPIEGELonline gibt es einen Kolumnisten und „Kritiker“, nennen wir ihn mal Georg Dietz, warum nicht, denn so nennt er sich ja selber, nämlich „Der Kritiker“, und „Georg Dietz“, der mir erstmals durch eine brunzdumme Polemik auffiel, in der er mein Idol Heinrich von Kleist mit – wem? Nicht wirklich, oder? Doch! Echt! mit Karl Theodor von Guttenberg auf eine Stufe stellte. Warum? Weil beide von Adel sind oder waren! Dann verriss er den neuen Roman von Kracht, den er ersichtlich nicht gelesen oder zumindest nicht begriffen hatte. So weit, so ärgerlich.

Laut Selbstauskunft schreibt er auch für die FAZ, und zwar „über alles“, was entschieden mehr ist als das, wovon er einen Schimmer hat. Aber Ritter Georg „der Kritiker“ Dietz, der topmodische Hornbrillen-Intellektuelle, gibt halt keine Ruhe, er will partout und gründlich gegen die Wand. Also hat er einen Artikel über Günter Grass geschrieben. Das ist nicht schlimm, alle tun das, und seiner war, seien wir fair, gar nicht mal der blödeste. Nur – wenn einer einen Artikel betitelt mit „Der Dichter, der nicht auf seine Worte achtet“ und darin dann „mit flinker Lippe“ (G. Grass) einen Satz heraushaut, der lautet: „Es ist dieser gerade für einen Romanautor überraschende Mangel an Emphase, der so frustrierend ist“ – dann entbehrt das durchaus der Peinlichkeit nicht, weil, erstens, wenn es dem mediokren Schriftsteller und anti-israelischen Stinkstiefel an einem nun definitiv nicht mangelt, dann wohl an Emphase; zweitens meinte Herr Dietz wahrscheinlich Emphysem? Empyreum? oder, nee, wartet, Quatsch, Empathie!

Das ist das Wort! Und drittens wäre es nicht schlecht, wenn auch „Kritiker“ auf ihre Worte achteten. Mal gut, dass ich nicht der olle Blech-Butt bin, oder noch schlimmer für den bürgerlichen Dietz, der aristokratische Karl Kraus: Prompt wäre ich in diesem Fall mit meinem Aperçu angehoppelt, der Journaille reichte es nicht, keinen Gedanken zu haben, nein, sie müsse auch unfähig sein, denselben auszudrücken. Aber den jungen Leuten ist ja eh alles wurscht.

Disclaimer. Ja, ja, keine Sorge – ich bin auch gegen alte Männer, vor allem die abgefeimten, erloschenen, ausgestopften Pfeifendeckel, die dementen Wichtigtuer, Besserwisser und ausgezehrten, morschknochigen Moralkeulen, die sich für das Gewissen der Welt halten und nicht bemerken, dass sie schon lange rattentot sind, diese unsäglich aufgeblasenen Ochsenfrösche mit erstorbenen Herzen so kalt wie Schweinssülze, deren Namen ich gar nicht nennen will, selbst wenn es Namen wären wie Günter Grass, Martin Walser oder Peter Scholl-Latour. – Ich selbst bin in einem schwierigen Alter – zu alt für einen „tragischen“ Tod, zu jung, um dramatisch abzutreten. Dennoch: Folgende „Dichter, die auf ihre Worte achteten“, vermieden es, im Alter zur Nervensäge zu werden: Heinrich von Kleist, Georg Büchner, Georg Trakl, Georg Heym, Franz Kafka, Robert Walser, Stefan Zweig, Silvia Plath, Paul Celan, Ernest Hemingway. Unter vielen anderen.

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PS. Früher wollte ich Schaffner werden, dann Tierforscher. Jetzt wäre ich gern U-Boot-Bauer, dann würde ich Israel so viel Schießzeug liefern, wie nur geht. Geradezu zuschmeißen würde ich sie mit U-Booten, Abwehrraketen und Sicherheitskram. Das wäre ja wohl das mindeste!

Eine kurze Einführung in die Quantenphysik

10. Februar 2012

Leute, so siehts doch aus!

Quantenmechanik – No, erklärt sich beispielsweise im Fußball. Bruno Labbadia, Trainer des VFB Stuttgart: „Wir müssen die Räume verdichten – aber wir müssen natürlich auch in den Räumen agieren!“ Tja, beides zugleich ist nun mal schwierig. Schrödingers Katze mauzt ratlos. Halb ist man ja schon tot. Was sich im Raum verdichtet, zieht sich in der Zeit. Nicht gewonnen und trotzdem im Finale. Gott zeigt beim Würfeln demonstrativ auf die Uhr. Keine Verlängerung! Es bleibt bei der vorläufigen Katastrophe – das Leben gewinnt wieder keinen Pokal, bleibt aber Champion der Herzen.

 Zustandsüberlagerung. Ich mache mich allmählich bereit, wegen unausgesetztem Krakeel, Krach und kretineskem Krautrock, meinen Nachbarn mit meinem Samurai-Schwert zu tranchieren und nach Strich und Faden zuschanden zu machen. Zentimeterhoch mag das Blut im Hausflur schwappen! Ich rase bereits im Amok-Modus, – während ich indes andererseits kopfhörerbewehrt und musikalisch sediert im Morgenmantel still am Keyboard sitze und versuche, Immanuel Kants Kategorischen Imperativ als Entspannungschoral zu vertonen. Aber, wehe, jetzt öffnet einer die Kiste – noch immer 50% Wahrscheinlichkeit, dass ein Killer herausspringt!

 Kollaps der Wellenfunktion (Kohärenz-Problem). – Gespräch am Brückenplatz: „Ey, hassema ne Kippe?“ – „Nee, sorry, du, ich rauch nich.“ – „Okay, dann hasse ja bestimmt ma Feuer.“ – „Ich sag doch: Ich-Rauche-Nicht!“ – „Ja eben, deswegen, eins von beiden, oder? Kann ich gezz vlleich ma Feuer?“

 Unschärfe der Ortsparameter. Mann, am Handy, beim Bäcker: „Schatziii? Schatzi, ich steh grad beim Brot hier…“ – Unverständliches („Brrpsst-Brrripst!“) aus dem Handy (Schatzi?)Mann (brüllt ins Handy): „Nee, sachich doch, ich bin bei’n BÄCKER!!!“– Passanten-Kunde, sich genervt einmischend: „Ey, Typ, vor allem bist du aber hier nich zuhause, okay?“ – Schatzi, aus dem Handy: „Watt sacht DER grad?“ – Mann, ins Handy: „Dattich hier nich zuhause bin…“ – Schatzi: „Unn, wo bisse denn denn? Nich zuhause?“ – Mann: „Nee, sach ich doch, noch unterwegs!“ – Schatzi: „Ach, ich dacht, du biss bei’n Bäcker?“

 Spin-Korrespondenz (String-Theorie). Sehr schwierige Sache. Sagen wir so: Um in Gang zu kommen, braucht mein Kreativitätszentrum Wein. Trink ich ihn aber, schaltet es sich sofort aus. Schluss mit lustig. Und umgekehrt! Wo der Hase Kausalität hinhechelt, ist der Igel Wirkung längst da … gewesen. Aber eben deshalb auch schon wieder weg, muss ja am Ende vom Wettrennen den Startschuss geben. Klar, dass der Hase da tot ist. Das heißt, na ja, vielleicht (siehe unter: Zustandsüberlagerung)…

 Beobachtungsabhängigkeit. Wie viele Übergewichtige meide ich Waagen, denn, wenn ich mich wiege, deprimiert mich das Ergebnis ohne Maßen, und wenn ich deprimiert bin, muss ich viel Kuchen essen, weswegen ich, um mein Gewicht zu halten, Waagen tunlichst ja wohl besser meide. The measure is the message! Für mich ist eines der wichtigsten Resultate der Quantenmechanik, dass man manches lieber nicht wissen wollen sollte, damit es wenigstens einigermaßen so bleibt, wie es mutmaßlich wohl ist. Vielleicht ja sogar sein soll. Der Taoismus sagt übrigens ganz Ähnliches.

 Viele-Welten-Theorie. Erklärt einiges, zum Beispiel das beharrliche Gefühl, sich definitiv „im falschen Film“ zu befinden. Hierbei handelt es sich nicht eigentlich, wie von Laien oft vermeint, um eine Halluzination, sondern vielmehr um das nur besonders sensiblen Menschen zugängliche Empfinden, dass IRGENDWAS NICHT STIMMT. Und wenn EINES stimmt, dann ja wohl dies! Ansonsten besagt die Theorie u. a., dass, was möglich ist, zwar nicht auch vernünftig, indessen aber zumindest durchaus wirklich ist. Wer glaubt, bizarre Träume zu haben, hat in Wahrheit nur entferntere Universen besichtigt. Dass man trotzdem morgens normal Kaffee kochen kann, ohne dass einem die Kausalität um die Ohren fliegt, scheint mir ein gutes Omen dafür zu sein, sich mit der Quantenmechanik endlich mal auszusöhnen.

 Mathematische Formeln. Ein Grund für Probleme mit der Quantenmechanik: Man ist einfach nicht gut in Formeln. Ich scheitere schon an der Schrödinger-Gleichung, die ja nun puppig-einfach ist! Versuche ich, eine mathematische Formel zu entschlüsseln, schlafe ich unweigerlich noch vor der ersten Klammer ein. Narkoleptisch-mathematischer Sekundenschlaf. Rein intelligenzmäßig hätte ich Atomforscher werden können, aber in der Praxis scheitere ich an meiner Formel-Legasthenie. Oder Dyskalkulie. Die Welt wird mir dieses Defizit einst noch zu danken wissen.

Biographisches Fragment

27. Dezember 2011

Karge Kindheit

Ich heiße Gernot Riederer und ich hasse den Namen, weil er mich an meine Kindheit erinnert; meine Kindheit verdirbt mir deshalb noch heute die gute Laune, denn sie, die Kindheit, war hart wie Brandt-Zwieback. Von meiner stets stur sturzbetrunkenen Stiefmutter wurde ich stupide mit stereotypen Stabreimen gestillt. Danach ernährte ich mich mühsam von Rabenbrot mit bitterer Tunke. Ein seltener Festtag, wenn Mutter mal unverhofft aus dem Koma aufschreckte und uns im Schnellkochtopf zermatschten Rosenkohl verkochte. Er schmeckte stets nach Hasen-Urin, war aber mal wenigstens eine Abwechslung, wie sonst nur Donnerstag, da kam immer der Milchmann. Wir waren zehn Geschwister, meine Schwester Amelie und ich, sie sechs, ich vier, wegen des Altersunterschiedes. Jeden Abend hockten wir um den Resopal-Tisch, den trüb neonbefunzelten, und benagten frische Birkenzweige. Wegen dieser Mangelernährung peinigte uns die Angst vor kommender Kleinwüchsigkeit, eine der fiesesten Phobien, die es auf der Welt gibt, außer vielleicht der Abneigung gegen Staphylokokken-Salat.

Das schönste Erlebnis mit meiner Schwester (13) hatte ich (7), als wir Hans-Peter Riederer begruben, unseren Wellensittich, für den wir das Sorgerecht teilten und der sich umbrachte, in dem er in den offenen Petroleumofen flog, weil er es in der Riederer-Familie nicht mehr aushielt. Wir betteten unseren kleinen blauen Freund auf geweihter Watte in einer Zigarrenkiste („Sportstudent“), einen frischen O.B.-Tampon als letztes Kopfkissen. Psalmodierend prozessionierten wir dann mit ihm kreuz und quer durch den Gemüsegarten (Rosenkohl!). Meine Schwester rauchte dazu feierlich eine Overstolz-Zigarette, weil dies angeblich zum „protestierten Ritus“ gehörte. Mir konnte man ja viel erzählen, damals.

Allerdings nicht, dass Oma-Berlin „eine längere Reise“ angetreten hatte. Für wie blöd hielt man denn Siebenjährige! Sie war nämlich am Oberschenkelhalsknochen erstickt, nicht ohne zuvor im Hospital, wo wir sie besuchen mussten, meine Schwester und ich, ihre Demenz energisch dementiert zu haben, während sie zugleich, irre kichernd, berichtete, wenn ihr fröre, würde man abends ihr Nachthemd mit Heilspiritus tränken und sie fürsorglich anzünden. Wir waren nachhaltig beeindruckt. – Meine entzündete Oma durchgeisterte noch Monate lang meine Albträume. Dann verschied Vater. Das heißt, genau genommen war er nicht tot, nur immer seltener zuhause. Liebend gern hätten wir, meine Schwester und ich, ihn würdig neben Hans-Peter begraben, aber den Gefallen tat er uns nicht.

Als der intellektuell regsamere unter uns zehn schlug ich meiner Schwester vor, dass wir, falls uns tatsächlich das Schicksal der Kleinwüchsigkeit ereilen sollte, wir immer noch gemeinsam durchbrennen und zum Circus Renz gehen könnten, und zwar beispielsweise als „die phänomenalen Riederer-Twins“. Meine Schwester indes war eine phantasielose Pragmatikerin, die darauf herumritt, bei sechs Jahren Altersunterschied würden wir ja wohl  kaum als Zwillinge durchgehen können. Für mich war das eine Frage der Einstellung! Meine intransigente Haltung in manchen Dingen führte dazu, dass ich außer Mutter und Amelie viele Jahre keine Frau mehr kennenlernte: Man geht nicht fehl, dies für eine Durststrecke zu halten. So schlug ich die Laufbahn eines Gynäkopathen ein.

Heute, als ausgebildeter Tanzlehrer, schaue ich auf diese Zeit mit Wehmut zurück. Wir waren so idealistisch! Ich jedenfalls. Meine Schwester übernahm einen Konsum. Ich hingegen wurde auf ein altgriechisches Gymnasium gegeben, wo wir als Jünglinge splitternackt im Klassenraum stehend die Ilias aufsagen mussten. Rückwärts! Bei offenem Fenster! Hier übertreibe ich etwas. Übertreibungen liegen mir im Artistenblut. Den Rest der Kindheit habe ich verdrängt. Auf dem alten Klassen-Foto erkenne ich niemanden mehr, nicht einmal mich selbst. Aber vielleicht hatte ich auch gefehlt. Die Pubertät habe ich dann geschwänzt, bis auf dass ich mal in Frau Frerkes verliebt war. Sie lebt heute in Argentinen, glaub ich. Wir sind gute Freunde geblieben.

Subserwies: Gebäudereinigung als Kunstkritik

22. November 2011

Der Großkünstler Joseph Beuys wird gerade zu heiß gebadet (Fotoquelle unklar, möglichwerweise urheberrechtlich geschützt; Rechteinhaber dürfen sich melden!)

Brühwarm erlebt und erzählt: Heute (!) im Seminar. Es herrschte reichlich kregle Stimmung (Die elitären Philo-Seminare vom alten Magister gehören zu den ganz wenigen Belegen für die sonst schwer haltbare These, dass man „auch ohne Alkohol lustig“ sein kann). Grundsätzlich ging es um den Versuch, zwischen Heidegger und Baudrillard ein dünnes Seil zu spannen, auf dem eine Philosophie des Mobiliars zu entwickeln wäre. Möbel sind in der klassischen Philosophie nämlich ein total unterschätztes Thema. Lange Zeit wurde verschwiegen, wie handgreiflich und übergriffig Möbel auf Körper und Seele ihres Besitzers einwirken. Wir hatten jedenfalls gerade über die psychoanalytischen Aspekte des Resopals diskutiert, das im Deutschland der frühen 50er Jahre zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, indem es die Sehnsucht nach Abwaschbarkeit in eins mit dem Wunsch nach geschichtlichem Gedächtnisverlust stillte, also nationalen Waschzwang mit Sühneverweigerung kombinierte, da gerieten wir irgendwie auf abwegigere Fragen, ausgelöst durch einen Versprecher von Klaus.

Klaus hatte dabei das Phänomen „dieser Kunstputzfrauen“ ins Gespräch gebracht, jener teils offensiv ignoranten, teils fundamentalistischen Reinigungskräfte, die andauernd sauteure Kunstwerke ruinieren, indem sie hartköpfig die Dekontextualisierung des Gebrauchsgegenstandes und seine museale Rekontextualisierung als Kunstwerk missachten, und dem Beuys oder dem Kippenberger seinen künstlerisch applizierten Dreck weg machten, um das jeweilig zu Kunstzwecken missbrauchte Gebrauchsdings wieder seiner vermeintlich ordnungsgemäßen Bestimmung zuzuführen.

Ich warf, verschärft scharfsinnig, dazu die Frage ins Geviert, ob es sich dabei nicht vielleicht möglicherweise um eine subversiv-kritische Kunstputzfrauen-Bewegung handeln könnte, die klandestin daran arbeite, postmoderne Überspanntheiten im Kunstbetrieb der Lächerlichkeit preiszugeben. Ich meine, wenn Banksy in Museen einbricht, nicht um Bilder zu stehlen, sondern um Bilder hinzuzufügen, warum sollte dann nicht eine Kunstputzbrigade für frischen Wind sorgen, indem sie den aufgeblasenem Kunstfurz Einhalt gebietet? Ihre Maxime wäre der bekannte Ausspruch: „Ist das noch Kunst, oder kann das schon weg?“ – Die Gattin nennt solche immerhin denkbaren Aktionen, ebenfalls aus einem Versprecher geboren, sinnig: subservice (sprich: subserwies), was eine Mischung aus Untergrund und Dienstleistung beschreibt. Gebäudereinigung als Kunstkritik!

Die ganze ontologische Verwirrung der Dingwelt hatte ja mit Marcel Duchamp begonnen, der ein Urinal und eine Schneeschaufel aus dem Baumarkt dadurch adelte, dass er das Zeug signierte und ins Museum stellte. Big deal damals, und mit einigermaßen verheerenden Auswirkungen auf die Kunstwelt und das Können an sich! – Und wenn man jetzt diesen Scheiß satt hätte und wäre der Geste überdrüssig, was hinderte einen, den hochintellektuellen Kunst- und Überfliegern ein wenig Flugangst beizubringen? Subversion kennt kein Ausruhen. „Nichts, das entsteht, ist wert, dass es nicht zu Grunde geht“ befand schon Goethes Mephisto in einem hellen Moment vulgo einem momentanen Anfall nihilistischer Grundstimmung.

Mein Lieblingssubserwies-Service begab sich einst in einer dem Kunstschamanen und Mental-Illusionisten Joseph Beuys gewidmeten Ausstellung, in der u. a. die Kinderbadewanne gezeigt wurde, in der Beuys als Kind gebadet wurde. „In dieser Wanne wurde Joseph Beuys als Kind gebadet“ beschied die angebrachte Legende feierlich ergriffen, und dann hatte jemand mit Kuli darunter gekritzelt: „Offenbar zu heiß!“ – Ich muss gestehen, dass mich, wahrscheinlich aus einer weltanschaulich fundierten Grundalbernheit heraus, solche Gemeinheiten resp. kynischen Spöttereien mehr erheitern als alle postmodernen Kunstexperimente sonst.

Ausnahmsweise ließ der Seminar-Leiter mal die Zügel streifen (vor allem die eigenen) und regte im Anschluss an eine Bemerkung von Erika an, darüber nachzudenken, ob man der Duchampschen Schneeschaufel ein, zwei oder drei weitere, freilich unsignierte, zur Seite stellen könnte, ohne dass es fad würde oder der Museums-Hausmeister dieselben in den Geräteschuppen verbrächte. „Anführungsstriche kann man nicht sehen!“ krähte ich, um zu einem Exkurs über Ironie anzusetzen. Leider ließ ich zwischendurch den Satz fallen: „Aber lassen wir das für heute“, worauf alle sofort aufsprangen, hektisch ihre Tasche packten und vor Schluss fluchtartig den Seminarraum verließen. Ich fürchte, meine Seminare ähneln sich mehr und mehr dem „Jour fixe“ des Traurigkeitslehrers Arnold Winterseel an (vgl. „Kategorien“ in diesem Blog!): Man hasst es, man fürchtet es, aber man geht trotzdem immer wieder hin.

Trost im Schaf (Kurze Haare)

28. September 2011

Schafe "Ursache" und "Wirkung", nach Neutrinos Ausschau haltend (Foto: Wikipedia)

Im Fernsehen war es zu beobachten: Musste der Papst sich in das Goldene Poesiealbum einer Stadt eintragen, krakelte er ein kleinwinziges „Benedict XVI pp“ hinein. Das „pp“ ist hierbei keineswegs dasselbe wie in „etcetera pp“, wo es „perge“, d. i. „und so fort“ bedeutet, sondern will sagen: pastor pastorum, Hirten der Hirten. Ich teile dies mit, um zum Thema „Schaf“ zu gelangen. „Man kann“, sagt, in Thomas Manns nobelpreisgekrönten Roman,  der alte  Konsul Buddenbrook, der seine Tochter gewinnbringend lukrativ verheiraten will und ihr den ungeliebten Mann schmackhaft machen möchte, ja doch „am Ende nicht fünf Beine auf ein Schaf verlangen“, und das ist ja wohl wahr, und gute alte Kaufmannsweisheit dazu! Ein Schaf mit fünf Beinen wäre zwar ökonomisch durchaus wünschenswürdig, weil es eine Lammkeule mehr pro Schafskopf ergäbe, aber nebbich! so Schafe sind halt extrem selten und praktisch unbezahlbar.

Neulich träumte ich von Versuchen, Kühe zu züchten, deren linke bzw. rechte Beine kürzer als die jeweils gegenüberliegenden sind, damit sie stabiler am Hang stehen. Auch dies wäre zweifellos begrüßenswert, ist aber andererseits ebenso schwer zu realisieren. Aber so ist der Mensch –  immer angetreten, die Schöpfung innovativ zu meliorisieren.

So hätte man beispielsweise etwa den nun wieder nach Rom entschneiten Papst gern evangelisch, als homme à femmes, schwulenfreundlich und libertär, was der gute alte Mann etwa so hartleibig verweigert, wie das Schaf, sich fünf Beine wachsen zu lassen. Was hatten wir denn gedacht? Der Schaf bleibt Vierbeiner, das Papst ein Katholik. Und das ist letztlich „auch gut so“, weil, wo fänden wir sonst einen billigen Gegner? Der Papst hat mal kurz durchblitzen lassen, dass er nicht doof ist und spielte ansonsten den bockigen alten Kirchenhampel.

Brillant hat er das gespielt! Ganz am Ende hat er sogar gemurmelt, ihm seien Agnostiker lieber, die noch vergeblich Gott suchen (also praktisch auch ich!), denn „Routiniers im Glauben“. Das war, diplomatisch gesehen, schon ein Hammer, und kam bei mir sehr gut an: Wir sind schließlich die Mehrheit!  Leute, die nichts Ungewisses wissen, darauf aber nicht stolz sind, dennoch indes subtil dandyhafte Ironiker bleiben, die sich stillvergnügt über Seiner Heiligkeit erzreaktionären Starrsinn die Hände reiben, weil sie den Zwergenaufstand dagegen so putzig finden. – Die missliche Erdenwelt bietet wenig Kurzweil, da muss man sich das Vergnügen halt tröpfchenweis zusammensaugen.

Aber nun von etwas anderem! Wieviel Beine noch mal hat ein Schaf? Das kann man sich gerade noch merken, aber was man im Alter immer öfter plötzlich vergisst, ist die eigene PIN! So steht es in einem Zeitungsartikel: Kein Bargeld wegen instantaner PIN-Verschusselung! Gründe hierfür? Kommt drauf an. Ist man eine sog. gPoAe (gesunde Person ohne Alkoholeinfluss), handelt es sich vielleicht nur um stressbedingten Konzentrationsmangel; wer im Wein Vergessen suchte, darf sich allerdings nicht wundern, wenn auch geldwertes Wissen dahinschwindet. Dritte Möglichkeit, doppelplusungut: Demenz. –

Der saudumme Wissenschaftsartikel empfiehlt dann doch tatsächlich, zur Vorbeugung die ersten hunderttausend Stellen nach dem Komma der Zahl π zu memorieren oder eine schöne Primzahl-Tabelle, weil dies mutmaßlich die Durchblutung des Gehirns fördere. Da der Anblick von Zahlenreihen bei mir seit Kindesbeinen eher zu spontaner Blutleere im Gehirn führt, bleibt mir diese Dimension präventiver Demenzkompensationskompetenz verschlossen.

Apropos. Die Abnahme der geistigen Kräfte hat kurzfristig auch positive Effekte: Man wird wieder ein staunendes Weltkind im Garten der Wissenschaften. Mit vor Erregung beschlagener Lesebrille las ich von dem Kuriosum, dass irrgendliche Neutrinos aus dem CERN schneller wieder in Italien waren als der Papst. Bzw. der Papst erlaubt. Jedenfalls überschritten sie das Tempolimit um ein Beträchtliches und stellten damit die Kausalität in Frage. Weltbilder brachen zusammen! Meines auch? Nicht eigentlich. Dass Ursache und Wirkung sich geheimnisvoll schleifenartig verschlingeln können, ist mir seit langem vertraut (hier eigenes Beispiel einfügen: …………………………). Mein Bespiel, aus dem religiösen Bereich, nach Augustinus: Gott gibt es, sofern ich an ihn glaube. Dass ich glaube, ist hinwiederum aber eine Gnade, die mir nur Gott erweist, wenn es ihn gibt, was davon abhängt, dass… usw.  Wer hier die Kausalität festnageln kann, der darf sie behalten und mit nach Hause nehmen.

Ich werde wegen dieser Turbulenzen die Meeresstille der Seele nicht verlieren und womöglich von galoppierenden Neutrino-Schafen träumen, deren Beine ich zähle, um einschlafen zu können. Das ist halt der Vorzug präseniler PIN-Vergessenheit, oder wie es anderersets Konsul Döhlmann in den Buddenbrooks ausdrückt: „Kurze Haare sind bald gekämmt“.

Bin ich „Der Kannibale von Hochfeld“? (Schlechte Bücher)

18. September 2011

Dass zu viel schlechte Lektüre ins Verderben führt, ist heute selbst bei Extrem-Alarmisten ein nur noch selten gehörter Warnruf. Längst stehen Killer-Spiele, Ego-Shooter und überhaupt dieses ganze Internetz aus Porno und Gewalt im Fokus des Verdachtes. Doch vielleicht zu unrecht! Lesen kann noch immer Schäden verursachen! Der Beweis in Bild und Schrift: Es kam so. Heute war so ein mies-kühler Herbsttag, diverser Lebensunbill hatte mich klamm ums Herz werden lassen und ich hatte so Fröstel-Blues, und da dachte ich: Legst Du mal Kant und Hegel beiseite und gönnst dir, schön muggelich im Hausmantel in den Sessel gekuschelt, Kanne Kaffee dabei, einen richtig schönen Serienkiller-Kannibalen-Splatter-Roman. „Blut und Knochen“ von Stuart MacBride schien mir das genau Richtige für einen besinnlichen Sonntag: Jede Menge Sadismus, kannibalischer Horror und Blut bis über die Kachelgrenze – danach würde es mir vielleicht besser gehen.

Während ich mich der blutigen Lektüre hingab, machte ich nebenher immer mal wieder Notizen auf meiner To-Do-Liste für später, wenn ich die Gattin zu Szegediner Gulasch und Münsteraner „Tatort“ besuchen würde. Spät abends heimgekehrt fiel mein Blick auf die liegengebliebene Liste –  und mir gefror das Blut in den Adern. Da stand tatsächlich: „Nicht vergessen: Einmalhandschuhe – Tupperdosen – Reinigung! – Versicherung prüfen!“ Purer Zufall, ich schwör! Und ich kann alles erklären!

Aber nur mal angenommen, gerade wäre per tragischem Zufall meine Nachbarin zerstückelt aufgefunden worden und man entdeckte nun bei einer Hausdurchsuchung diesen Zettel bei mir! Würfe dies nicht ein verdammt schiefes Licht auf mich? Zwar würde die Gattin bestätigen können, die Tupperdosen seien für frischen Apfelkuchen bestimmt gewesen und die Handschuhe ihr schon lange zum Putzen versprochen worden, ferner hätte ich geäußert, die Kosten meiner Krankenversicherung fräßen mich auf und ich müsste mal die Tarife klären und außerdem mein Sakko in die Reinigung bringen  – aber reichte das zur Entlastung? Bloß gut, dass nicht auch noch „Kettensäge“, „Schaufel“ und „Parkanlagen googeln!“ auf meinem Zettel standen – ich hätte mir ja selbst nicht mehr über den Weg getraut!

Paranoia schärft den Blick: Bloß nichts Schriftliches hinterlassen! Geriete ich in den Blick der „in alle Richtungen ermittelnden“ Kripo, würde man bestimmt auch die Reste unseres Gulasch in die forensische Pathologie bringen und dort hochnotpeinlich überprüfen. Und? Man fände Bröckchen von einer blöden Kuh und einem fiesen Schwein! In Chili-Sauerkraut! Iigitt! Ich seh mich schon in der BILD-Zeitung, einen nur äußerst knapp bemessenen schwarzen Balken vor den Schamteilen meines Gesichts, darunter die Schlagzeile: „IST DAS DER KANNIBALE VON HOCHFELD?“ – Würde ich danach jemals wieder Vorlesungen über Kants Kategorischen Imperativ halten können? Iwo! Ich könnte nicht mal öffentlich „Königsberger Klopse“ sagen, ohne dass man mich mit schauderndem Misstrauen scheeläugig examinierte! Vor meinem Haus rottete sich der Mob zusammen und reckte Schilder in die Luft, auf den stünde: „Raus die Sau!“, „Unsere Kinder sind vor Kannibalen nicht sicher!“ und „Keine Gnade für Fleischesser!“

Den Rest meines Lebens müsste ich in einer Höhle im Stadtwald zubringen, getarnt mit einem Klebebart und einer künstlichen Glatze! So gefährlich sind niveaulose Lektüren und fahrlässige To-Do-Listen. Also, Nachbarn: Bedenkt, was ihr tut!

Sorry, hab grad keine Zeit

2. Juni 2011

Zeit - relativ relativ...

Zeit, Zeit. „Wann hast du denn mal Zeit für mich?“ drängen die 2, 3 Leute meines Freundeskreises. Eigentlich habe ich nie Zeit. Betonung auf „eigentlich“, denn im Grunde habe ich Zeit ohne Ende, weil, ich arbeite ja nicht. Ich meine, ich habe schon Arbeit, aber nur als schlecht bezahlter Freiberufler, was bedeutet, ich kann sie mir einteilen. Das wiederum ist schön, aber ganz schlecht, denn meine Aufteilung sieht so aus: Alles aufschieben, bis es gar nicht mehr anders geht. Daraus resultiert: 90% meiner Lebenszeit müsste ich „eigentlich“ arbeiten und hab deswegen keine Zeit; nur, dass ich in dieser Zeit halt zumeist nicht arbeite, sondern meine Arbeit aufschiebe, um traumverloren (natürlich nur metaphorisch!) in der Nase zu bohren, meiner Benjamin-Feige beim Wachsen zuzuschauen oder darüber nach zu grübeln, ob es ein Zeichen von Vergreisung darstellt, dass ich immer seltener Lust zum Onanieren verspüre.

Prokrastination habe ich bis vor zwei Jahren für eine abstoßende Hautkrankheit gehalten, bei der man so grässlichen wie sozialunverträglich schrundige-verkrusteten Hautausschlag bekommt, so dass man sich in klandestinen, hygienisch isolierten vorstädtischen Prokrastinierer-Lagern verstecken muss; heute weiß ich, prokrastinieren ist das heimliche Laster der Kreativen, Phantasievollen und Beinahe-Genies.

Die berühmt-berüchtigte Relativität der Zeit kann man sich daran verdeutlichen, dass astrophysikalisch tätige Forscher im CERN sich verzweifelt die Haare raufen, weil sie es nicht schaffen, sich auf weniger als Zehn hoch minus 47stel Sekunden an den Urknall heranzurechnen. Also als Laie kann ich mir diese Zahl nur mit Mühe vorstellen, glaube aber, dass eine „Zehn-hoch-minus-47stel Sekunde“ eine verdammt knappe Zeit ist, zumindest zu knapp, um aufgeschobene Arbeiten noch zu erledigen.

Warum ich sonst noch so selten Zeit habe, entnahm ich jetzt einem von Schlafforschern zusammengestellten Dossier, das mir die Gattin zu-mailte, um mich über meine chronische Insomnie hinweg zu trösten. In dem Konvolut befindet sich ein simples, aber eindrückliches Spielzeug: ein Schieber nämlich, wo man sein Alter einstellt und dann nachlesen kann, wie viel Zeit seines Daseins man bereits verschlafen hat. Bei mir kam es auf 21,16 Jahre! Das heißt, selbst wenn man die Schlaflosigkeit in Anschlag bringt, andererseits die Phasen des Wahns, der erotischen Obsessionen und drogen-induzierten Absencen wiederum hinzuschlägt, war ich bei einem satten Drittel meines Lebens gar nicht dabei! Kaum auszudenken, was ich alles verpennt habe!

Eine eulenkluge Freundin, der ich meine Bestürzung über meine Schnarchsack-Existenz mitteilte, frug: „Und? Was hättest du in diesen 21 Jahren – wach – gemacht?“ „Noch mehr Unfug?“ schlug ich zagend vor – und erntete ein weise bedächtiges Nicken. Stimmt ja auch. Ich stelle mir das so vor: Gott beugte sich über sein Fehl-Konstrukt „Mensch“ und bekümmerte sich: Dieses Wesen, stellte er fest, treibt allerhand Allotria und wenn es mal was tun soll, schiebt es das ewig auf. Seine Lebensdauer beträgt zwar, wenn es hochkommt, siebzig, achtzig Jahr, aber wir könnten dem Blödsinn abhelfen, wenn wir ein Drittel davon in gnädiger Bewusstlosigkeit versinken lassen! Wie bei Gott, der kein Prokrastinierer ist, üblich: Gesagt, getan.

Trotzdem, Leute: 21,16 Jahre! Was hätte man theoretisch alles verschlafen können: Kennedy-Mord, Mondlandung, Mauerbau und -fall, Modern Talking, den Vokuhila-Haarschnitt, aber eben auch Regine, Hildegard und Ilona! Auf Bewussstseinslücken angesprochen, darf man guten Gewissens die Achseln zucken – tut mir Leid, da hatte ich keine Zeit, da hab ich grad schlafen müssen….

Ich gedenke mir dies in existentiellen Situationen zu nutze zu machen. Klopft dereinst der Tod an meine Wohnbüro-Tür, murmele ich durch diese hindurch, ohne zu öffnen: „Sorry, lieber Freund,  aber im Moment passt es leider überhaupt nicht – ich hab grad GAR KEINE ZEIT!“