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Die Angstmütze (Zur Geschichte der Kindheit)

11. Mai 2012

Unbillfisch

Der kleine Bromian hatte ein großes Geheimnis, und das war noch nicht mal die Sache mit dem Jesukind – er mimte nämlich manchmal insgeheim ganz gerne das bittersüße, arme Jesukind voll Blut und Wunden, und auch davon erzählte er natürlich niemandem – , aber das richtig große Geheimnis war, dass er eine funktionierende echte Angstmütze besaß. Ferienbruder Arnold aus Wuppertal hatte sie ihm vermacht, als er nämlich schon wieder weg musste, der Austausch- und Durchreisefreund, weil er von seinen neuen Eltern plötzlich „adorpiert“ worden war und nach Hause musste und da wohnen, wegen Eigenfleisch und -blutbedarf usw. Jedenfalls: Normale Kappe aus falschem Bibersamt, oben im Zenit Knopf drauf, aber drei Klappen dran aus naturwildem Tierpelz, links, rechts und vorne auch. Links und rechts konnte man damit die Ohren abdecken, und wenn man vorne den Schirm ganz herunterklappte und dann alles unterm Kinn zusammen band, war man praktisch auf Nummer Sicher. Hatte Arnold gesagt, und es stimmte genau. Allerdings, wenn die Angst lange dauerte, schwitzte man an den Haaren, das ja.

Wenn was war, und es war ja fast immer was (Arnold nannte es: „Unbill droht jederzeit und mögliche Verzweiflung“), kauerte Bromian sich in eine dunkle Zimmerecke, schlang die Arme um die zitternden Knie, bezog seine Angstmütze, kniff zur Sicherheit noch die Augen zusammen und atmete kaum. Manchmal spürte er, wie Unbill und mögliche Verzweiflung wüst in der Stube herumschnaufte und nach ihm suchte; zuweilen kam es auch vor, dass der Schrecken ausblieb, dann hatte man umsonst Angst gehabt, aber was besagte das schon? Arnold hätte die feinen Brauen gehoben und vielsagend geflüstert: „Ja, dieses mal vielleicht, aber…“ Und das war der Punkt.

Eine Theologie hatte er nicht gerade, aber Weltwissen. Die Welt war voller Lärm, Gestank und gefährlichem Gemache; sie war, wie Arnold, das Katholikenkind, es gesagt hätte, „ein Jammertal“. Weinen durfte man freilich nicht, wenn man im Dunkel der Angstmütze saß und an den Haaren schwitzte, höchstens ab und zu vorsichtig einen ganz leisen, hauchfeinen Seufzer  ausstoßen, damit die jederzeit mögliche Verzweiflung einen nicht zu packen bekam. Am besten war man ein sehr kleines, unscheinbares Tier, denn, so wusste es Arnold aus seiner Lebenserfahrung, eine „bescheidene Kreatur“ zu schlagen hätte das Schicksal „keine große Freude“.

Die Nacht aber war ein klaffendes Loch wie der lauernde Meeresgrund, denn die Hausmutter verbot es, im Bett eine Mütze zu tragen. Ohne Begründung. Die Ahnungslose! Nachts war man bettelarm und einsam wie das süße, blutende Jesukind in der Krippen und kein Nothelfer weit und breit in Sicht. Ein Kind darf ja noch nicht beim Zeitvergehen mitmachen, es lebt noch in der stummen Mutterblase, wie ein traumblinder Fötus im Gurkenglas, an dem sich der Unbillfisch die Nase wetzt, das arme Kind, den Zähflüssigkeiten des Seins hilflos ausgeliefert und gezwungen, den bitterdicken Brei zu löffeln, den die Eltern einem gekocht haben!

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Über das Halten von Meinungen

17. Juni 2011

Meinungslos und vollbeschäftigt: Der Magister wandelt im Beruf des Nichts-Tuns

„Bei uns auf Kummerland, der Insel der unruhigen Seelen und unzufriedenen Seligen, herrscht Beschäftigungsnotstand. Die Zeit ist aus den Fugen und allzu verfügbar. Sabattikalisten, Dauerrentner, Langzeitpausierer, ausgebrannte Beamte: Wie die nur zähflüssig verrinnende Lebenszeit hinbringen? Süße Sahne des Überdrusses, fade Suppe des Ennui. Gewiss, man kann französische Bulldoggen mit immer größeren Fledermausohren züchten und versuchen, ihnen das echolotgesteuerte Fliegen beizubringen, man kann kennerisch provençalische Rohmilchweine sammeln, mollige Wollschweinwolle zu drolligen Pullovern verstricken oder beflissen sein Lebensrisiko durch das Ausprobieren bizarrer Trendsportarten erhöhen. Ob aber topmodische Übersprungshandlungen die Spanne auch bis zum Exitus ausfüllen?

Ein nostalgischer Trend gewinnt hier neues Interesse: Das Halten von Meinungen. Meinungen sind fröhliche, vitale Hausgenossen. Das Leben mit ihnen beugt wirksam Alterserscheinungen vor – Selbstzweifel, Ironismus, Differenzierungssucht werden nachweisbar reduziert! Gesunde, bereits stubenreine Meinungswelpen bekommt man am besten bei renommierten Züchtern (Süddeutsche, FR, taz, ZEIT, F.A.Z.-Feuilleton), aber dann geht’s erstmal zur Meinungsschule. Grundkommandos („links!“, „rechts“, „Fortschritt!“) müssen gelernt und eine Charakterprüfung („politcal-correctness“-Siegel) abgelegt werden. Gut erzogene Meinungen reagieren auf Stich- und Reizworte, haben einen guten Jagdinstinkt, was Abweichler angeht, und heben durch ihre nie erlahmende Beißfreude die Laune ihrer Besitzer. Amerikanische Forscher haben nachgewiesen, dass Meinungen in der Lage sind, Komplexität zu reduzieren, Ich-Schwäche abzubauen und resignative Tendenzen („Sterben – schlafen –
Schlafen! Vielleicht auch träumen!“, Shakespeare, Hamlet) aufzuhalten.

Mancher jung gebliebene Senior will das Herumtollen mit seinen Meinungen gegen keine andere Lebenslustbarkeit mehr eintauschen (Aber bitte daran denken: Kleinere „Hinterlassenschaften“ [z. B. In Leserbrief- und Kommentar-Spalten] werden selbstverständlich diskret entfernt!). Besser als jeder Blindenhund gibt eine Meinung Orientierung und Halt im Chaos des Daseins, sorgt im unaufgeräumten Denkhaushalt wieder für Stabilität und Redundanz, fördert Gemeinschaftsgefühle und verhilft zu mehr Selbstbestätigung, die gerade der älter werdende Körper benötigt…“ –

– so in etwa träumte mir am frühen Morgen ein Artikel in der Apotheken-Rundschau oder wo. Aus solch dumpfer Wirrnis erwachte ich nur unvollständig und in der vagen Furcht, auch bei mir hätten sich vielleicht Meinungen niedergelassen. Offenbar war das aber nicht der Fall. Aufatmend versenkte ich mich beim Morgenkaffee in das XIX. Buch der esoterischen Schriften des Dschuang Dsi, wo es heißt: „Der Philosoph sprach: ‚Habt Ihr denn noch nicht vernommen, wie der höchste Mann sein Leben führt? Er vergisst seinen Leib und kümmert sich nicht um seine Sinne. Ziellos schwebt er jenseits des Staubes der Welt und wandelt im Beruf des Nichts-Tuns.’“ Sich in diesem Beruf vervollkommnen sei das höchste Ziel! – Meine Meinung!

Noch nicht gänzlich verworfene Projekte

5. Juni 2011

Keine Panik – ich bin es bloß, der Magister K.

Einen Tag lang in einem überdimensionalen, mindestens 1,90m großen Hühner-Kostüm (an Helfer für den Kopf denken!) durch die Stadt laufen, hyperaktiv mit den Flügeln schlagen und helle, heillose Aufgeregtheit demonstrieren. Passanten über den Sinn der Sache spekulieren lassen (Atom? Gurke? Die da oben, die Banker, die Euro-Spekulanten, das Schweinesystem? Aus Solidarität mit Japan, Spanien, Is- oder Griechenland?), – ansonsten Engagement durch permanentes Gackern unter Beweis stellen. Falls technisch machbar, Mitbürgern gelegentlich sanft auf den Kopf picken.

Die Ausweitung der Grauzone erforschen, medialen Debatten-Krieg gegen das Entweder-Oder anzetteln (FAZ und ZEIT anrufen!). Pamphlet „Für mehr dazwischen!“ gegen die diktatorische Bi-Polarität von Yin und Yang, Amok und Koma, Mann und Weib, AC/DC, brutto und netto usw. entwerfen. Natürlich geht „ein bisschen schwanger“ sehr wohl – halb tot oder fast wahnsinnig geht ja auch! Mit dieser These durch Talkshows tingeln. Auf die Frage, ob das ernst gemeint sei, bedächtig den Kopf wiegen. Vermeiden, Fragen mit Ja oder nein zu beantworten.

Einen aufblasbaren Schwimmgürtel (evtl. rosa Krokodil oder sehr gelbe Ente) kaufen (klären, ob es das in XXXL gibt!), über den eh schon dicken Bauch stülpen, die Straßenbahn besteigen. Empörten Fahrgästen erklären, meine Religion beföhle mir solches, andererseits trüge ich den Gürtel aber auch aus freiem Willen, weil ich mich sonst nicht komplett angezogen fühlte. Zeter und Mordio schreien, falls jemand (Rechtsradikale!) mir die Luft aus der Ente lassen wollte. Flammende Anklage gegen die tägliche Diskriminierung von Dementen und Altersstarrsinnigen formulieren. Ggf. Verband gründen.

Einen Doku-Spielfilm über die ersten 21050 Tage meines Lebens drehen (unbedingt Mäzene finden!), Arbeitstitel: „Trauer, Tragik und Trostlosigkeit des Ego – Die Kirche der Angst vor dem Knall im Kopf“, bei der Biennale in Venedig einreichen. Plagiatsvorwürfe energisch dementieren. Mein Ableben bekannt geben. Nachrufe ausschneiden, sammeln und abheften (delegieren!). Als Buch/Video/DVD herausgeben. Mein Ableben dementieren. Als Untoter durch die Talkshows tingeln, evtl. Interview mit der ZEIT (Giovanni di Lorenzo).

Schon mal geeignete Heime besichtigen. Fragen, ob ich Hühnerkostüm bzw. Schwimmgürtel mitbringen darf. Einen Film (Werner Herzog anfragen!) über meine Zeit im Heim: „Alter und Tod eines Enfant terrible“. Alterswerk planen. Interview in der FAZ (unbedingt Schirrmacher, nicht Bahners!). Mein gesamtes Geld verschenken (BILD: „Sind wir alle dement?“), neues Pamphlet: „Warum ich den Schwimmgürtel trage“.  Im Hühner-Kostüm durch die Talkshows tingeln. Kapitalismus anprangern. „Kirche des wollüstigen Alkoholismus“ gründen. Vielfältige mediale Aktivitäten: CD mit Trinkliedern; Vertrieb von GPS-Spezial-Geräten für Menschen, die aus der Kneipe nicht mehr nach Hause finden; gemeinsame Auftritte mit Joopi Heesters. Eine Oper über Hitler schreiben (für Drehbuch Guido Knopp gewinnen).

Nach der Weltherrschaft greifen. Erste Maßnahmen: den Kapitalismus, Afrika, Dreiviertel-Hosen und deutsche Volksmusik verbieten; übergewichtigen Männern über 60 das Tragen von Schwimmgürteln verordnen; das aufgeregte Huhn ins deutsche Staatswappen aufnehmen (weg mit dem arroganten Adler!), sonst so milde wie möglich regieren.

Endlich mal nachschauen, wohin ich meine Medikamente verbaselt habe.

Sorry, hab grad keine Zeit

2. Juni 2011

Zeit - relativ relativ...

Zeit, Zeit. „Wann hast du denn mal Zeit für mich?“ drängen die 2, 3 Leute meines Freundeskreises. Eigentlich habe ich nie Zeit. Betonung auf „eigentlich“, denn im Grunde habe ich Zeit ohne Ende, weil, ich arbeite ja nicht. Ich meine, ich habe schon Arbeit, aber nur als schlecht bezahlter Freiberufler, was bedeutet, ich kann sie mir einteilen. Das wiederum ist schön, aber ganz schlecht, denn meine Aufteilung sieht so aus: Alles aufschieben, bis es gar nicht mehr anders geht. Daraus resultiert: 90% meiner Lebenszeit müsste ich „eigentlich“ arbeiten und hab deswegen keine Zeit; nur, dass ich in dieser Zeit halt zumeist nicht arbeite, sondern meine Arbeit aufschiebe, um traumverloren (natürlich nur metaphorisch!) in der Nase zu bohren, meiner Benjamin-Feige beim Wachsen zuzuschauen oder darüber nach zu grübeln, ob es ein Zeichen von Vergreisung darstellt, dass ich immer seltener Lust zum Onanieren verspüre.

Prokrastination habe ich bis vor zwei Jahren für eine abstoßende Hautkrankheit gehalten, bei der man so grässlichen wie sozialunverträglich schrundige-verkrusteten Hautausschlag bekommt, so dass man sich in klandestinen, hygienisch isolierten vorstädtischen Prokrastinierer-Lagern verstecken muss; heute weiß ich, prokrastinieren ist das heimliche Laster der Kreativen, Phantasievollen und Beinahe-Genies.

Die berühmt-berüchtigte Relativität der Zeit kann man sich daran verdeutlichen, dass astrophysikalisch tätige Forscher im CERN sich verzweifelt die Haare raufen, weil sie es nicht schaffen, sich auf weniger als Zehn hoch minus 47stel Sekunden an den Urknall heranzurechnen. Also als Laie kann ich mir diese Zahl nur mit Mühe vorstellen, glaube aber, dass eine „Zehn-hoch-minus-47stel Sekunde“ eine verdammt knappe Zeit ist, zumindest zu knapp, um aufgeschobene Arbeiten noch zu erledigen.

Warum ich sonst noch so selten Zeit habe, entnahm ich jetzt einem von Schlafforschern zusammengestellten Dossier, das mir die Gattin zu-mailte, um mich über meine chronische Insomnie hinweg zu trösten. In dem Konvolut befindet sich ein simples, aber eindrückliches Spielzeug: ein Schieber nämlich, wo man sein Alter einstellt und dann nachlesen kann, wie viel Zeit seines Daseins man bereits verschlafen hat. Bei mir kam es auf 21,16 Jahre! Das heißt, selbst wenn man die Schlaflosigkeit in Anschlag bringt, andererseits die Phasen des Wahns, der erotischen Obsessionen und drogen-induzierten Absencen wiederum hinzuschlägt, war ich bei einem satten Drittel meines Lebens gar nicht dabei! Kaum auszudenken, was ich alles verpennt habe!

Eine eulenkluge Freundin, der ich meine Bestürzung über meine Schnarchsack-Existenz mitteilte, frug: „Und? Was hättest du in diesen 21 Jahren – wach – gemacht?“ „Noch mehr Unfug?“ schlug ich zagend vor – und erntete ein weise bedächtiges Nicken. Stimmt ja auch. Ich stelle mir das so vor: Gott beugte sich über sein Fehl-Konstrukt „Mensch“ und bekümmerte sich: Dieses Wesen, stellte er fest, treibt allerhand Allotria und wenn es mal was tun soll, schiebt es das ewig auf. Seine Lebensdauer beträgt zwar, wenn es hochkommt, siebzig, achtzig Jahr, aber wir könnten dem Blödsinn abhelfen, wenn wir ein Drittel davon in gnädiger Bewusstlosigkeit versinken lassen! Wie bei Gott, der kein Prokrastinierer ist, üblich: Gesagt, getan.

Trotzdem, Leute: 21,16 Jahre! Was hätte man theoretisch alles verschlafen können: Kennedy-Mord, Mondlandung, Mauerbau und -fall, Modern Talking, den Vokuhila-Haarschnitt, aber eben auch Regine, Hildegard und Ilona! Auf Bewussstseinslücken angesprochen, darf man guten Gewissens die Achseln zucken – tut mir Leid, da hatte ich keine Zeit, da hab ich grad schlafen müssen….

Ich gedenke mir dies in existentiellen Situationen zu nutze zu machen. Klopft dereinst der Tod an meine Wohnbüro-Tür, murmele ich durch diese hindurch, ohne zu öffnen: „Sorry, lieber Freund,  aber im Moment passt es leider überhaupt nicht – ich hab grad GAR KEINE ZEIT!“

Ganz unten: Die „ZEIT“

9. Januar 2010

„Selber Schuld! Selber Schuld!“ gellt mir der Hohn der Immerschonallesgewußthabenden ins Ohr. „Das kommt vom Daten-Schludern!“ Dabei halte ich vielleicht nur mit dem technologischen und ökonomischen Sauseschritt des Fortschritts nicht mit. Immer öfter beginne ich Sätze oder Anekdoten aus meinem ereignislosen Leben mit „…eigentlich bin ich nicht doof, aber…“ – aber was? Na eben nebbich wohl doch.

Diesmal war es ein besonderes Laster, das mir zum Verhängnis wurde: Meine Schwäche für Umfragen, Fragebogen, Tests usw. Ich habe immer schon leidenschaftlich gern persönliche Fragen beantwortet. Schon als Kind habe ich mir jede Woche die „Brigitte“ von meiner Mutter vorgeknöpft und die „Psycho-Tests“ darin absolviert – selbst wenn das Testergebnis darüber Aufschluß geben sollte, ob ich eine gute Hausfrau oder eine perfekte Liebhaberin sei. Mir ging’s ja nicht ums Ergebnis, mich erfreute es einfach, wenn jemand, und sei es ein anonymer Fragebogen-Entwickler, etwas über meine Einstellungen, Abneigungen, Wünsche und geheimen Träume wissen wollte! Zugegeben, vielleicht eine etwas abgefahrene Obsession, aber ich genoß einfach die Illusion, jemand interessiere sich für mich.

Ich konnte einfach die Finger nicht von diesen Test-Fragebogen lassen. Sogar den IQ-bzw. Eignungstest bei der Bundeswehr habe ich mit Vergnügen absolviert (Ergebnis: bloß Ersatzreserve II, aber nicht wegen doof, sondern weil ich nicht ganz richtig im Kopf war und außerdem im Verdacht stand, Drogen zu konsumieren…).

In den 80ern habe ich sogar Stress mit meinen ultralinken Freunden riskiert, weil ich als einziger FÜR die amtliche Volkszählung war. Die Aussicht, 80 persönliche Fragen beantworten zu dürfen, war einfach ZU reizvoll, auch wenn es bloß der böse Staat war, der alles über mich wissen wollte. Zum Glück fanden wir einen Kompromiß: Ich füllte damals gleich acht oder zehn der dicken Fragekataloge aus, und zwar immer wieder anders – meine Genossen lobten dies als raffinierte Subversion, und mir war es recht, weil es meiner Neigung zu pluralen Identitäten entgegenkam. Noch heute muß ich mich bei facebook zusammenreißen, wenn gefragt wird: „Welcher Drogentyp bist du?“, „Was ist deine Lieblingsperversion?“, „Wenn du ein Auto wärst, dann wärst du ein…“ oder ähnliches. Denn auch dies wird durch Testfragen ermittelt! Das ist die Hauptsache.

Auch im Internet kann ich manchen Umfragen nicht widerstehen. [Alle, die das Bedürfnis haben, zu sagen „Ja, das ist aber nun ganz schön naiv!“ oder „Du hast ja keine Ahnung, was die mit deinen Daten alles anstellen“, tun dies bitte jetzt nach dem Signalton: …piiiiiep: Danke. Das Band ist leider voll!] – Die Gattin nun, meinen Faible für Umfragen – und meinen ständigen Bedarf an Mitteln, zu prokrastinieren – kennend, leitete an mich eine Online–Umfrage des ZEIT-Verlages weiter. Der Fragebogen war – wie die gesamte ZEIT heute – nicht gerade besonders anspruchsvoll. Mit beidem ist man schnell durch. Die ausgelobte Belohnung für die drei Minuten Lebenszeit klang ganz gut (ich weiß, ich wirke naiv): Drei Wochen sollte man kostenlos die ZEIT, zusätzlich auch noch ein Sachgeschenk bekommen, außerdem wurde einem zugesichert – das gab bei mir den Ausschlag, den Sende-Button zu klicken–, daß sich die Lieferung der ZEIT keinesfalls automatisch verlängere; es würde nach Ablauf der drei Wochen NICHT automatisch ein Abonnement eingerichtet, eine Kündigung sei NICHT erforderlich und Kosten fielen NICHT an.

So, und jetzt dürft Ihr mich mal alle geschlossen auslachen: Ich habe das geglaubt! Hahahaaah, ha. Weil die ZEIT früher mal eine seriöse Zeitung war (in der 60ern, 70ern schätz ich), hab ich echt geglaubt, die lügen einem nicht einfach frech ins Gesicht! So dreist sind die nicht! Und die nehmen ihre Versprechungen auch nicht hinterher vom Netz, damit sich kein Geprellter darauf berufen kann! So dachte ich, bzw.  soviel zum Thema „…eigentlich bin ich nicht doof, aber…“.

Die ZEIT, einst Flagschiff einer linksliberalen Diskurs-Kultur mit intellektuellen Anspruch, heute verflacht und versudelt zu einer öden, schnöden adipösen „Bäckerblume“ für opportunistische Schwätzer und Aufschneider, scheint jetzt endgültig in den sumpfigsten Niederungen des Geschäfts angekommen zu sein, dort, wo man sich miesester Drücker-Kolonnen und bauernfängerischer Tricks bedienen muß, um unfreiwillige Abonnenten zu shanghaien und mit vorgehaltener Waffe zum Konsum der ungenießbaren Papierpampe zu zwingen.

Und ich? Habe ich was gelernt? Werde ich in Zukunft nicht mehr bei Umfragen teilnehmen? Hm, wenn Ihr mich SO fragt….

Ostern: Ein Vorschlag zur Güte

9. April 2009
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Ich bin gegen Kreuzigungen!

ICH MÖCHTE DAS BITTE NICHT!

Ich bin, schon von Berufs wegen, eigentlich aufgeschlossen, aber ich fürchte, an mir würden tausend Missionare zu schanden werden, ein Burn-Out-Syndrom, eine Sinnkrise oder das nackte Grausen bekommen. Glasperlen, Rosenkränze, gute Worte und frohe Botschaften scheinen an mir verschwendet. Ich bin da gar nicht stolz drauf. Ich meine, meinen Beruf ergreift man ja nicht, wenn man nicht einen Faible für komplett abgefahrene, spinnerte, irre oder um mehrere Ecken herum gedachte Hirngespinste besitzt. Ich fieberte bei den Abenteuern von Hegels „Weltgeist“ mit, auf seiner langen Reise „zu sich selbst“. Von Leibnitzens irgendwie seifenblasenartigen „fensterlosen Monaden“ hab ich geträumt; mit Descartes’ Captain Cogito hab ich auf der Brücke der Körpermaschine gestanden, mit Husserl das „reine Bewußtsein“ gesucht und mit Heidegger auf „das Sein“ und dessen Raunen gelauscht. Mit Nietzsches „Übermensch“ bin ich um die Häuser gezogen, hab Sartres „Ekel“ verspürt, in Ernst Blochs „Dunkel des gelebten Augenblicks“ einen Filmriss erlitten, ich habe gegen Marcuses „eindimensionalen Menschen“ gekämpft und bin mit Theodor W. Adorno in der Dämmerung dem „Nicht-Identischen“ begegnet.

 Aber es ist Ostern, das mich verwirrt und melancholisch stimmt. Speziell der Karfreitag, weil, Ostersonntag gibt’s ja Lamm, es wird Frühling und alles hat mit Recht gute Laune. Aber Karfreitag? Leute! Ich meine, die Vorstellung von einem gütigen Gott ist ja auf den ersten Blick recht hübsch, aber dann wird der auf eigenen Entschluß hin Mensch und zwar ausgerechnet auch noch als sein eigener Sohn, läßt sich alsbald auf grausamste, viehischste Weise zu Tode foltern, und zwar, wie ich gerade wieder lesen muß, das alles, um mich von meinen Sünden zu erlösen?! Also bitte! Das wäre doch nun nicht nötig gewesen! Ich will gar nicht mit Logik kommen, aber, wenn ich Schuldgefühle möchte, dann halte ich mich an meine Mutter, die es im Erwecken von Schuldgefühlen  mit jeder jüdischen Mamme spielend hat aufnehmen können. Ich möchte nicht, daß wegen meiner Sünden – Ladendiebstahl (verjährt), leichtes Übergewicht, zuviel Alkohol, Eitelkeit und Hoffahrt – jemand zu Tode kommt! Schon gar nicht auf so entsetzliche Weise! Da muß einer gar nicht unbedingt Gottes Sohn sein – ich bin prinzipiell und aus ganzem Herzen gegen Kreuzigungen. Ich will so etwas nicht!

 Und warum sagt Gott beim Jüngsten Gericht angesichts meines im Weltmaßstab eher bescheidenen Sündenkontos nicht einfach „Schwamm drüber!“ und setzt meinetwegen meine Strafe für 500 Jahre zur Bewährung aus, in denen ich auf Erden als Engel herumspuken muß und dabei helfen, Ehen zu kitten, verlorene Geldbörsen wiederzubeschaffen und armen Kindern Fahrräder zu schenken, beispielsweise? Das wäre wenigstens nützlich. Aber so? Ich glaube 50% meiner kindlichen und präpubertären Albträume gehen auf den in Kirchen stundenlang beglotzten zerschundenen Leichnam Jesu Christi am Kreuz zurück. Fürchterlich! Unter dem Einfluß von Kirchen-Liedern wie Paul Gerhardts unvergesslichem Hit „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ wurde ich zum morbiden schwarzen Romantiker, bekam eine schiefe Weltsicht und versäumte, u. a. aus Schuldgefühlen, viel guten, früh-adoleszenten Sex. Ich hätte eventuell sogar die himmlisch süße Angela aus dem Konfirmandenunterricht küssen können, wäre mir Jesu Blut und Wunden nicht dazwischen gefunkt!

 Ich hätte da einen Vorschlag. Zeit scheint ja keine Rolle zu spielen bzw. reversibel zu sein. Wenn Jesus für meine Sünden gestorben ist, die ich erst zweitausend Jahre später werde begangen haben sollen, könnte man das dann nicht auch irgendwie umdrehen? Also ich sündige nicht mehr, mäßige meinen Weinkonsum, treibe mehr Sport und bin charmant zur Gattin – und dafür läßt ER diesen ganzen Geißelungs- und Kreuzigungsscheiß, lebt schön weiter, heiratet seine Maria Magdalena, und Ostern feiern wir ganz einfach wieder Frühling, Fruchtbarkeit und den Beginn der Spargelsaison? Ich finde, damit wäre uns doch allen gedient! – Aber das ist jetzt naiv, oder?