Ohne Bedeutung
Zuweilen spielen sich im Ganzkleinen, im mikroskopischen Mikrokosmos, piepsleise Tragödien ab, und keiner merkt es, es sei denn ich. So kommt etwa ein Wort zur Welt, ein hübsches, blitzsauberes, klangvolles Wörtchen, blickt aus blanken Augen voller Neugier in das irdische Realitätenkabinett und – Schock! findet sich als behindertes Waisenkind, ohne Auftrag, Nutzen und Frommen, will sagen, es ist ein Wort ohne verbürgte Bedeutung. Der Signifikant wurde ohne Signifikat geboren! Das ganze kam so: Ich entdeckte gestern auf der Terrasse ein wundersam schicklich gestaltetes, noch nie gesehenes Kerbtier, geometrisch geschmückt und irgendwie ganz gotisch-ritterlich anmutend gekleidet, und ich fotografierte es stracks, zu zoologischen Bestimmungszwecken. Es ist ja doch nun einmal so, dass Männer, die ein gewisses Alter überschritten haben, in dem man früher füglich und ordnungsgemäß längst gestorben wäre, heute einfach weiterleben und übersprungshalber anfangen, Allotria zu treiben vulgo allerhand unnützes Gemache und Gewese zu entfalten, sodass man sie in den Garten hinaus schickt: Käfer fotografieren.
Aber weiter mit der spannenden Geschichte! Unter Aufbietung gehöriger koleopterologischer Anstrengungen identifizierte ich den seltenen Gast als Amerikanische Kiefern- oder Zapfenwanze, leptoglossus occidentalis, und, wie es üblich ist bei uns um Volksbildung geflissentlich Bemühten, begoogelte ich das prächtige Geschöpf sogleich um- und eingehend. Natürlich, das Netz wusste Bescheid! und versah mich freigebig mit allerhand Wissenswerten und Denkwürdigen. Über das prachtvolle Neozoon, den weitgereisten Gast aus Amerika hieß es dort unter anderem: Fühle es sich angegiffen, sondere es ein Sekret ab, das „nach Limetten und Amselseife“ duftete. Was für liebes, zartes, mysteriöses Wort! Amselseife, Amselseife, Amselseife, summte ich den ganzen Tag über vor mich hin. Indes, es wollte sich mir einfach kein gehöriges Duftbild zu diesem Namen einstellen, sodass ich mich irgendwann doch der Frage stellen musste – was ist denn das, Amselseife?
Ein müßig herumlungerndes Amselpärchen im Garten verweigerte mir Auskunft, sondern flötete betont unbeteiligt, als hätte es meine Anfrage nicht gehört, sein Kannitverstan in die Abendluft. Nächste Station: Gattin. „Sag, Frau, jetzt du mal als Frau so, du wirst doch sicher wissen, was Amselseife ist, gell? Gewiss hat dir die Mume resp. knausrige Großmutter früher zum Namenstag immer gütigst ein Stückchen Amselseife zugesteckt, nicht ohne Mahnung, dass dies aber für ein ganzen Jahr hinreichen müsse?“ – „Hä? Wovon redest du denn ?“ – Wenn Madame mich für meschugge hält, macht sie ein ganz besonderes Gesicht. Oh, wie oft bekomme ich es zu sehen! Nun sitze ich hier, mit meinen Wort, auf der Bettkante. Wir lassen unsere Beine baumeln und warten beide auf unsere Bedeutung.
Zum Schluss zwei Menü-Vorschläge für Hartherzige: Giraffen-Spießchen mit Seepferdchen-Herzen und Affenbrotbaum-Salat; Eisbärenbabies im ganzen gebraten mit Amselrotkohl und paniertem Toast. Dazu passt eine Eiswasserschorle mit Schuß.
PS: Ob wohl vielleicht Apfelseife gemeint war? Schnöder Tippfehler? Egal, zu spät – das Wort ist in der Welt!
This entry was posted on 20. März 2014 at 8:27 PM and is filed under Aus dem Kulturbeutel älterer Jugendlicher. You can subscribe via RSS 2.0 feed to this post's comments.
Schlagwörter: Amerikanische Kiefernwanze, Amsel, Amselseife, Bedeutung, Duft, Eisbärbaby, Giraffe, Käfer fotografieren, Mume, Neozoon, Sekret, Signifikant, Wanze
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21. März 2014 um 8:35 AM
Ich wage es ja kaum, das Wort mit einem schnöden Kommentar von der Bettkante zu reißen – aber könnte es nicht schlicht und einfach Amselscheiße heißen? (Reimt sich sogar). Ich bitte den Autoren um eine Testung.
(Assoziation kam so zustande – ich wurde einstmals auf eine Weinprobe gezwungen. Fast so schlimm wie eine Kunstvernissage. Der französische Oberkellner = Sommelier behauptete, ein bestimmter Rotwein munde zu 0,00001 Prozent nach abgetragenem Ledergürtel, zu 0,000023 Prozent nach Katzenurin). Warum also nicht Amselsch… – ok, Schluß mit den Fäkalien…
21. März 2014 um 11:37 AM
Ich weiß aber nicht, wie das riecht…
21. März 2014 um 12:28 PM
Probieren geht über …- mit einem Wort: Scheißlich.
21. März 2014 um 9:02 AM
Apfelseife – das giftgrüne Zeug der 70er Jahre. Das ist aber wirklich eine ganz gemeine Wanzen-Taktik. Nur Amselfelder wäre noch schlimmer.
21. März 2014 um 11:37 AM
Stimmt, Amselfelder wär schon wirklich gemein!
21. März 2014 um 12:42 PM
Wie sähe denn ein geeigneter (Schein) Angriff aus, den das Tierchen zum Sekretabsondern ermutigen würde?
Man muss es sich ja nicht immer schwer machen.
21. März 2014 um 12:51 PM
Bisschen schubsen vielleicht; als ich das erwog, war das Tier aber schon davongeflogen…
21. März 2014 um 1:10 PM
Zurück in die Staaten. Verständ.
21. März 2014 um 3:56 PM
Nein, bestimmt nicht Apfelseife, das ergibt keinen Sinn. Kein Mensch würde einen Duft so beschreiben: Limette und Apfelseife. Gib Dir mal ein bisschen mehr Mühe mit deinem Wort, Herr Magister.
22. März 2014 um 3:04 PM
Nachtrag: vermutlich wird Amselseife aus Vogelmilch gemacht.
3. April 2014 um 9:37 PM
Ich wüsste auch gern den Geruch nach Amselseife. Die einzigen Wanzen, die ich hier herum schubsen könnte, wären ganz gewöhnliche Feuerwanzen. Bringt nichts.
3. April 2014 um 9:39 PM
Wie ich inzwischen erfahren habe, wird Wanzen-Schubsen von den maßgeblichen Tierschutzverbänden ohnehin scharf verurteilt.
3. April 2014 um 9:45 PM
Dann müsste ich es klammheimlich tun.
3. April 2014 um 9:59 PM
@zeilentiger: Was als Wanzenschubser beginnt, endet vielleicht als Giraffenschlächter! Oder Eisbärbabybraten-Fresser! Wehret den Anfängen!