Archiv für Januar 2012

Filmprojekt Blogbuster

30. Januar 2012

Der Moment der Entscheidung!

„Tränen der Gier II: Der Schatz in der Schute“. – Jonny Perfidel arbeitet als Quereintreiber für die Gemüsemafia in den Docks von Gütersloh. Sein mächtiger Boss, der Gurken-Mogul Ahmad Mahdi, genannt Mad-Mad, vertraut ihm, denn er ist der König der Durchstecher, Schadensschieber und Schnäppchen-Schlawiner. Jonny Perfidel ist unnahbar, ein selten harter Hund, doch er hat eine Schwäche: Des Moguls schöne Tochter Maybelline Mahdi, genannt Baby Maybe-Mad. In die ist er verliebt, denn sie hat ein Herz aus Holz, die Beine eines Feinstrumpfhosen-Models und den Überbiss einer ägyptischen Prinzessin. Jonny hat sich extra für zu Hause einen Tisch schreinern lassen mit Beinen dran wie die von seiner Angebeteten. Kommt er abends nach einen langen gefahrvollen Tag vom Quereintreiben, sitzt er in seiner Penthouse-Mansarde und streichelt versonnen die Tischbeine. Ein Bild subtiler Erotik. Auch er ist ein Mensch und hat Gefühle!

Nun beschleunigt der Film, Konflikte werden geschürzt und Verwicklungen gestrickt: Am Kanal wird eine Schute mit Schnäppchen erwartet, für den Mogul. Es geht um Millionen! Jonny beschließt, sich die Schnäppchen selbst zu schnappen, damit, wenn er mit Baby Maybe-Mad ein neues Leben beginnt, Geld da ist fürs Gardinen-Kaufen, oder was Frauen sonst wollen, Schuhe vielleicht. Die Frage ist, ob das gut geht, denn auch andere gut informierte Kreise wollen an den Rabatt. Mit von der Partie ist sowieso die berüchtigte Polizei von Gütersloh, Bullen wie aus dem Bierbuch, korrupt, superfies und mordsverschlagen. Ihr Auftrag ist Absperren mit Flatterband, Schusswechsel, Handaufhalten.

Die legendäre Gütersloher Dunkelheit bricht herein, notdürftig erhellt von Explosionen, brennenden Limousinen und Mündungsfeuer im Hafen. Es gibt Oscar-nominierte Erregungsmusik von Hans Zimmer, welche die Unübersichtlichkeit der Situation verstärkt. Jonny Perfidel ist derweil in den Matrosenaufzug gestiegen und mischt sich unter die Beteiligten, die größtenteils erschossen am Kai liegen. Im Rumpf der Schute kommt es zum Showdown: Mogul Mad-Mad sitzt auf einer Palette mit Schnäppchen und wartet auf Jonny. „Aha, da bist du ja!“ sagt er. Es kommt zu einem Gespräch unter Männern, also mit Boxen und Schießen, teilweise unter Wasser, denn die Schute, von Schüssen durchsiebt, versinkt in den Fluten, auf denen sinnlose Schnäppchen elegisch ins Dunkel treiben! Während der Mogul und Jonny um ihr Leben paddeln, versuchen sie das Gespräch aufrecht zu erhalten. Es gelingt mit Hängen, Hauen und Würgen.

Am Kai trippelt derweil des Moguls Tochter hin und her und ringt nervenzerrüttet die Hände. „Vater! Vater!“ ruft sie nach links, und „Jonny! Jonny!“ nach rechts. Sie wird sich entscheiden müssen…

 USA/D/DAN, 2012, 120 Min., Regie: Moi. Darsteller: Johnny Depp (Jonny Perfidel), Robert de Niro (Mogul), Katja Riemann (Baby Maybe-Mad) u. v. a.. Musik: sagte ich doch, Hans Zimmer

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Das Wesen der Ehe

29. Januar 2012

Altägyptische Hieroglyphe. Übersetzung: Für den Seegurch Mikado-Suppe!!

Samstag: Motte und Nobbler durften noch etwas draußen und flogen zusammen über den Fußballteich. Im Einmachglas dabei: Hans Griebel, Nobblers zahmer Seegurch. „Komm“ frohlockte Motte, „lass uns mal Wirklichkeit spielen!“ – „Ooch, nö, nich wieder … – und welche denn?“ nöl-zögerte Nobbler. – „Na, komm schon! Die harte, ganz grause!“ – „Ach so. Na gut…“ – Schon legte Motte los und setzte sein schlimmstes Besorgnisgesicht auf, Mundwinkel unters Kinn geknöpft, und machte so jämmerlich „uuh, ooh, uuh, ooooh!“ dazu, dass der Seegurch erschrocken aufquiekte. „Jetzt müssen wir rasch einen nachhaltigen Geredeschirm spinnen“ bibberte Nobbler, vom Elend der Wirklichkeit betroffen,  und bohrte suchend in der noch kindlich unentwickelten Stupsnase, „damit wir Vertrauen haben. Vertrauen ist nämlich total wichtig! Und auch Wachstum noch!

Motte hatte indes von der Fernseh-Muhme ein niegelnagelneues Blödwort dabei, das jetzt passte: „Ich denke,“ er sog an seiner imaginären Grübelpfeife, „wir sollten auch in der Fläche breit aufgestellt sein...“  Nobbler schob bereitwillig das Bäuchlein vor, um sich breit aufzustellen, nur mit der Fläche haperte es noch einstweilen. „Wir müssen aber auch nach vorne schauen“, schlug er deshalb vor. Besinnliches Schweigen. Eine Weile schauten sie beide nach vorne. Hans Griebel auch. Dann wurde das aber allen fad, denn dort vorne gab es wirklich gar  nichts zu sehen.

Wirklichkeit ist ein ziemliches scheiß Spiel, und überhaupt mehr was für Mädchen – darüber wurden sie alsbald einig und stülpten stracks ihre Antennenmützen aus dem Metaphysikunterricht über, um etwas Himmelsfunk abzuhören, Mangoldengel, Rauschgoldflittchen, Gesänge aus der Offenbach-Offenbarung, das ganze Programm für kleine Visionäre. Hans Griebel bekam die hölzernen Kopfhörer über. Seegurch-Propheten kommunizieren im Unterholzbereich, niedrige Sequenz-Frequenzen, einfache Sprache, große Buchstaben. – Nachdem Samstagabend-„Hosiannah!“ erscholl ihnen aber selbdritt die Stimme des Höchsten: „Wahrlich, es wird eine Zeit kommen, da ihr Käsestullen essen sollt!“  Nobbler hatte zwar „Creme-Schnittchen“ verstanden und der Seegurch schwor, es müsse „Gräten-Rollen“ heißen, aber egal, ein Hörfehler ward ökumenisch ausgeschlossen: Religion macht alle Klein-Gläubigen hungrig. – „Ey, Leute, mal herhörn“, krähte Motte enthusiastisch, „doppelter Hoppel-Galopp! Wer erster im Heim ist!“

Derart lustig flogen die Beine und schepperten die Schulterblätter, dass dem Seegurch in seinem Glashaus die Karussellen klingelten, oder, um ein billiges Wortspiel auf seine Kostenstelle zu setzen, ihm wurde ganz griebelig. Erhitzt, mit quatschnassem Schuhwerk und glühenden Ohren traf man im Turboläum ein, dem Internat für Knaben aus katholischer Bodenhaltung. Die Herbergsmutter, Frau Frerkes, schimpfte pflichtschuldigst ein wenig über die lehmigen Klotschen, schmunzelte aber doch dann gütig durch die Finger und schmierte ihren Rackern Margarinebrote mit Käse – so war es ja geweissagt, im Himmelsfunk! Für Hans Griebel gab es Mikado-Suppe, dann ab ins Regal, Schlafenszeit für Gurchi.

Auch Nobbler und Motte holten sich bei Pastor Meyerbeer, dem Traum-Kastellan, ihr täglich-nächtliches Schippchen Abend-Segen, tranken im Schrankbett noch einen Hustentee mit Honigseim und verklebten die Finger zum Nachtgebet. „Wenn ich groß bin, heirate ich vielleicht Mutter Frerkes“, verkündete Nobbler träumerisch ins Dunkel. Motte lachte sich scheckig! „So’n Quatsch, Mann!“ prustete er, „dann wärst du ja ein voll schwuler Ödipus, Blödi! Nee, da geh ich lieber nach Hammurch-St.Pauli, als Profil-Boxer!“ – Knabengespräche halt, wie sie so oder ähnlich wohl überall geführt werden, wo Gottvertrauen, Unterwasserfußball und schwellende Säfte zusammenprallen. „Mann, Mann, Frau Frerkes, die ist mal bummlich achtunnfuffzig!“ murmelte Motte noch, aber Nobbler war schon eingeschlafen und träumte von Bergen von Bratkartoffeln. – Ach, wehe, sie kommt nicht wieder, die schöne, sorgenfreie Knabenzeit! – Im Traum war Motte übrigens Freigeist, er träumte, er sei ein freigrüner Posaunenpilz und fräße kleine Mädchen. Als Pointe zu schwach, aber in sozialer Hinsicht auch nicht unbedenklich! Freund Nobbler indes träumte von erregenden Bratkartoffel-Verhältnissen. Er war der frühreifere von beiden. Er wusste vom Wesen der Ehe!

Traumberuf Truchseß

27. Januar 2012

Ein Truchseß werden!

Schon immer, so lange er denken, bangen und sehnen konnte, wollte Tobi ein Truchseß werden. Kein anderer Beruf kam für ihn in Frage. Sieben Jahre verdingte er sich als wandernder Vorkoster, stieg manchmal befristet zum Mundschenk auf, trug dann den hohen Hut mit Stolz und Würde. „Vorankommen!“ rief er sich schon vor Sonnenaufgang zu, „wer einmal ein Truchseß werden möchte, der rühre sich früh!“ Frisch das Schuhwerk poliert, die Wangen geschmirgelt und dann mutig heraus zum Markt der Praktikantensklaven getrabt! Traf er unterwegs vermeintliche Reichsverweser, riss er sein besticktes Mützchen vom Kopf, entbot den vorschriftsmäßigen Gruß und bekannte ihnen: „Ich lebe nämlich meinen Traum!“ Gleichgültige Blicke fochten ihn nicht an; ein flüchtiges Stirnrunzeln schon nahm er als günstiges Zeichen und Ansporn, seine Anstrengungen zu verdoppeln.

Vom Onkel, dem er ein wenig leid tat, bekam Tobi einen Schubkarren geschenkt, da schaufelte er seine Mappen hinein und schuf sie am Nachmittag zum Bewerbungspostamt, immer ordentlich mit Passbild drin, tabellarischem Lebenslauf und allem Pipapo. „Traumberuf Truchseß!“ schrieb er jeweils darüber, und „Ich bitte höflichst, einer Antwort gewürdigt zu werden“ darunter.

Abends saß er beim Schein der Petroleumlampe am Küchentisch, studierte die heiligen Benimmbücher, memorierte Königslisten (Merowinger, Ottonen, das ganze Programm) oder schneiderte an seiner selbst entworfenen Uniform, denn von einem Truchseß, daran glaubte Tobi fest, erwartete man tadellose Gepflegtheit in Kleidung und Auftreten. Wurde es spät, strich ihm wohl einmal die Mutter übers Haar und bat ihn sanft, den nötigen Nachtschlaf nicht zu vernachlässigen. „Ach, meine gute, liebe Mutter“, sprach der Strebsame dann, „ich muss doch an meiner Zukunft arbeiten, damit ich meinen Traum leben kann!“ Den von Sorgenfalten gesäumten, zu Tränen bekümmerten Mutterblick nahm er schweren Herzens nicht zur Kenntnis. „Wer eine Karriere in meinem Fach anstrebt, der muss es sich sauer werden lassen“, beruhigte er sich, und übersah geflissentlich selbst die sich anbahnenden Anzeichen seiner bestürzenden Gesundheitsverkümmerung.

Das Märchen tritt hier ein wenig auf der Stelle, deswegen führen wir rasch den Vater ein und regen an, ihn ein Machtwort sprechen zu lassen. Also poltert er, der Hierarch und gütige Wegweiser, donnernd in die Küche und aus seinem sympathischen Herrschermund entrollt sich ein Spruchband, auf dem steht in Fraktur: „Bub! Lass ab von deinem Traum! Und wisse – deinen Beruf gibt es nicht! Du gehst jetzt in die Schule wie andere Kinder auch!

Vergeblichkeitsempfindungen brachen einigermaßen schwallartig über dem Kind zusammen. Drohend erhob sich ein Trauma. In höchster Not brachte das „Große Volksbuch der Seelischen Zerrüttungen“ im Bücherschrank Hilfe: Vatermord nach Professor Freud! Tobi eilte zurück, wo unterm Küchenhimmel noch das väterliche Spruchband hing. Hitzig schrillte es aus dem noch weichen Kindermund: „Bei meiner Seele, Herr Vater! Meinen Traum lasse ich nicht! Eher musst du sterben, und zwar nach Professor Freud!“ Mit diesen Worten der Rebellion zerschnitt er das schriftlich verbietende Spruchband und sprengte hinaus auf die Straße der Freiheit. – Wer nun also in Gottes Namen Verwendung für einen Truchseß hat, der erbarme sich doch des armen Kindes und nehme sich seiner an meiner statt an!

Über das Schreiben (Ersatztext)

26. Januar 2012

Eine Unabdingbarkeit: Morgendliche Text-Redaktion

Thema Hochkultur, direkt durch die Hornbrille des Erzeugers: Mut, Mut, und noch mal Mut braucht es fürs Schreiben! Freche Dreistigkeit ist vonnöten, verdammt! Autist sollte man schon sein, ein Egozentriker eventuell und jedenfalls gestandener Ich-Inhaber! Natürlich ist im Vorteil, wer die Rückenschule besucht hat. Oft bläst strenger Krittel-Wind von vorn, da heißt es Tränen schlucken und den Trotzkopf hochhalten. Der Tag wird sonst eine Katastrophe! Buchstabierenkönnen ist auch wichtig, zum Beispiel das Wort Finanzmarktstabilisierungsgesetznovelle, – das ist wohl Ehrensache! Das nötige Mentaltraining erwirbt sich, wer etwa ausgiebig blutjungen Hefeteig knetet oder über rohen, ungeschälten Kartoffeln das Pendel schwingt, denn nicht immer sind Ergebnisse von Bedeutung.

Wie oft fördert nächtelanges Schlürfen im Wörterbergwerk nur wortreiches, aber wertloses Geraffel und Geschmeißgestein zutage? Das muss man aushalten! Von der Tiefe des Daseins sei man übrigens bereits in Kenntnis gesetzt: Wer nie über verknoteten Schnürsenkeln in Ohnmacht verzweifelte, wer die Kunst des Brotfaltens nicht erlernte oder das Schnorcheln mit Schnabeltassen, der hat nicht das Zeug zum Schriftsteller, der weiß nicht von Unbill und Not.

Ich selber komme ja von der Bocksbeutelflöte her, das war eine gute Schule! Wer in kurzen Texten lange Sätze unterbringen möchte, sollte ein rhythmisch kompetentes Gerät zur Geräuscherzeugung bedienen können, zwar nicht unbedingt virtuos, aber doch so, dass zwischendurch nichts schluchzt, quietscht oder klappert, denn Nebengeräusche sind in der schönen Literatur mit Recht verpönt. Also: Schön tief aus den Beinen atmen!

Oft wird die Frage aufgeworfen, ob es zum Schreiben hilfreich wäre, nicht ganz richtig im Kopf zu sein, was ich ohne Zögern bejahen möchte, indem ich indes zu Bedenken gebe, es möchte dies womöglich eine zwar notwendige, aber vielleicht nicht hinreichende Bedingung sein. Der Rentner Herr Rombach, mein guter Freund und Nachbar, ist zum Beispiel zwar definitiv wahnsinnig, aber gänzlich illiterat; ich meine, nicht jede Sprühdose spielt Kunstlieder – oft kommt nur Quacksilber heraus, das noch alchymistischer Veredelung bedarf, um als ein Bröckchen Wörtergold zu glänzen.

Hier haben wir soeben gerade die Metapher kennen gelernt, das wichtigste Werkzeug des Literaten. Metaphern sind die Dessous der Gedanken: Lediglich vage ahnen soll man, was sie an Sinn gerade so eben durchschimmern lassen  – schnöde Nacktheit bleibt pornographischen Sachbüchern vorbehalten! Wie bei Lingerie nicht unüblich, gibt es auch undurchsichtige, blickdichte Metaphern. Man nennt sie hermetisch, nach Hermes, dem Gott der unzuverlässigen Paketboten, die nicht mal klingeln, sondern aus Faulheit gleich Benachrichtigungszettel einwerfen. Mit hermetischen Metaphern bekommt man es praktisch nur in der Abitur-Phase zu tun; wenn sie länger anhalten, muss man allerdings zum Hermeneutiker, dem studierten Facharzt für Hirnschwurbel.

Apropos – immer wieder werde ich auch gefragt: Was ist denn jetzt nun mit Alkohol? Wie schreibt es sich besser, „heilignüchtern“ (Hölderlin) oder „trunken vom Wein der Glückseligkeit“ (Dschalal ad-Din Rumi)? Hierüber experimentiere ich noch, bin der Wahrheit aber hart auf der Spur: Es hat offenbar mit Geschwindigkeit zu tun. Gern ein, zwei Gläschen, damit die Einfälle purzeln, aber dann auch in Windeseile wie wild in die Tastatur gehämmert! denn schon das dritte, gar das vierte Gläschen steigert das Hochgefühl bereits derart, dass sich morgens meist herausstellt, was einen nächtens noch begeisterte – es war, bei Licht betrachtet, leider bloß schnöder  Müll. Eine bestürzende Erfahrung: Was einen bei Glas Nr. 4 in der Nacht noch haltlos kichern ließ, windet sich im harten Morgenlicht klamm, doof und grau wie kalte Grütze! Ein Tag, der somit in eitel Selbstzweifeln beginnt, ist ein verlorener Tag, da kann ich ebenso gut gleich wieder ins Bett gehen.

Manche Erfolgsautoren empfehlen, man solle sich, bevor man sich gleichsam nackt in den Wörtersee stürzt,  genau überlegen, was man sagen will. Das fände ich aber langweilig. Wenn ich vorher schon weiß, was ich sagen will, brauche ich es doch nicht mehr aufzuschreiben! Ich strebe im Gegenteil beim Schreiben einen Zustand gelassener, tiefen-fluider Gedankenlosigkeit an. Das ist praktisch Zen, wie beim Bogenschießen. Es schreibt! Blöderweise ist mein Es, wenn es unbeaufsichtigt herumtollt, eine Art Soziopath, der für eine hübsche Formulierung seine Mutter verkauft, weshalb das gedankenfreie Bogenschießen auch schon mal einen Bock erwischt oder schwer ins Auge geht. – Deshalb ist dies hier ein Ersatztext für ein Stückchen, das ich jüngst beschämt aus legitimen Gründen einstampfen musste.

 

Beim Angstarzt

22. Januar 2012

Traumberuf Chefarzt

Kurz vor Anbruch der Morgendämmerung war ich wohl ein junger Arzt. Ich habe  triftigen Grund, dies anzunehmen, denn eine ältere Dame, die vor meinen Augen mit Krämpfen aus dem Bett fiel, gab zu wissen, dieses Ungemach geschehe unter meiner Obhut, und, sofern sie jetzt evtl. stürbe, sogar auf meine Verantwortung. Ooh ooh! Jäh erschüttert rief ich geistesgegenwärtig nach dem Chefarzt der Klinik. Er eilte herbei, eine Aura von Wichtigkeit um sich verströmend. Ob er aber auch wirklich ein Arzt war, daran gab er mir Anlass zu zweifeln. Hilflos umstanden wir nämlich gemeinsam, wenn auch vertikalhierarchisch um Meilen getrennt, eine geraume Weile konsiliarisch die verkrampfte Dame, die sich hilfeheischend auf dem Boden wand. Ich registrierte flüchtig, dass sie eine mit faustgroßen roten Rosen bedruckte Kittelschürze trug, verwarf diese Wahrnehmung jedoch als medizinisch irrelevant. „Wir sollten eine Infusion legen!“ schlug ich vor, denn in Krankenhaus-Serien sagen junge Ärzte so etwas, zumeist zwischen Wissensstolz und Befangenheit vor dem großen Chef schwankend. Dieser indes trat vor Wankelmut und unterdrückter Inkompetenz förmlich bebend von einem Fuß auf den anderen und replizierte: „Och, ich weiß nicht, sagen wir, na – vielleicht morgen mal irgendwann?“ – „Nein!“, stieß ich mit aufbrausender Selbstsicherheit hervor, „kommen Sie, Chef! das machen wir jetzt sofort! Morgen könnte es angesichts des desolaten Zustandes der unserer Obhut überlassenen älteren Rosen-Dame bereits zu spät sein!

Diffuses murmelnd und mit sichtlichem Widerwillen lud mir der Chef diverses Gerät in die Arme, Ständer, Stative, Stangen, Stäbe sowie ca. zwei Pfund Schlauch & Kabelsalat. Freilich, wie alles zusammengesteckt, geschraubt und verkabelt werden sollte, zumal unter lebensbedrohlichem Zeitdruck,  diese ominösen Schläuche, Kabel und außerdem noch die notorisch schicksalshaften Pieps-Dinger, wie sie auf Intensivstationen gebräuchlich sind, und die, falls man Pech hat, mit monotonem Geräusch den leider eingetretenen, beklagenswerten Tod des Patienten anzeigen, nun, das wusste er nicht und ich auch nicht.

Die ältere, uns anvertraute Dame machte sich derweil schon durch eindringliches Röcheln vernehmlich. Es klang beunruhigend nach etwas, was der Fachmann Agonie nennt. Der Chef legte seine überaus gepflegten, perfekt manikürten, bewundernswert fokussierten Arzt-Hände mit den Fingerspitzen konzentriert auf den Tisch und sprach: „Ich sollte jemanden anrufen, warum und wie so was geht, hier, Dings, das mit der Impfusion…“, und seine pianistisch-virtuosen Chirurgenhände wählten sensibel den Notdienst an der Pforte. Währenddessen fand ich, einem heilenden Instinkt folgend, die richtigen Schlauchschraubverbindungen doch noch und infundierte der kollabierten Dame flugs und entschlossen zunächst erst einmal Beruhigendes, dann Hilfreiches. – Aah, sie atmete!

Normalerweise ist Atmen kein Anzeichen für etwas medizinisch irgend  Besonderes, durfte in diesem Fall aber als Genesungszeichen wohlwollend gewürdigt werden! Die geblümte Dame erholte sich zusehends und die Kittel-Rosen erblühten zu neuem Leben. – „Puuhhh!“ hörte ich mich sagen, „Chef! Da haben wir uns aber mal echt als Ärzte erwiesen!“ Denn, so ist’s nun mal, was hilft, hat Recht! Unter uns Fachleuten heißt das „evidenzbasiert“, was bedeutet, wenn es hilft, war es gut, sonst möglicherweise leider nicht so.

Aus diesem Arztangsttraum erwachte ich mit Selbstzweifeln. Verhält es sich denn so? Befähigt das gewissenhafte Anschauen von Arzt-Serien im Fernsehen wirklich zu lebensrettenden Maßnahmen? Ganz sicher bin ich mir nicht, und ich weiß auch nicht, ob ich im Sterbenskrankheitsfalle mir selber in die Hände fallen möchte. Andererseits, der Kittel stand mir gut und ich machte eine insgesamt ja  kompetente Erscheinung.

Die geblümte Dame, deren Leben ich, nicht zuletzt durch Mut, Zivilcourage und Wagelust gerettet hatte, war übrigens Frau Frerkes! Ich habe sie dann aus Dankbarkeit geheiratet. Unsere Fernbeziehung – Frau Frerkes lebt ja in Argentinien – würzt unser Geschlechtsleben ungemein. Letzteres möchte ich jedoch als private Mitteilung, gegen entsprechende Gebühr, nur im Privatfernsehen mitgeteilt wissen! Das gebietet die ärztliche Schweigepflicht! Und Arzt, das war ich ja nun mal, im meinem Traum, ist ja nicht ohne! Mein  vielleicht nur vorgespiegelter Chefarzt hat übrigens in der Nähe von Buenos Aires ein Restaurant aufgemacht. Er behauptet auf einer Ansichtskarte, die er mir schickte, es läge „direkt am Jakobsweg“! – Nur: Kann man „Ärzten“ trauen?

Deutsche Vokabeln (III)

20. Januar 2012

Unwahrscheinlich skrupellos: Shakespeares "Wucher-Jude"

Recht eigentlich der deutschen Sprache dankbar, beinahe gerührt bin ich über das Angebot der Formulierung: sich in Schweigen hüllen“. Ein Begriff bzw. eine Angelegenheit von gravitätischer Majestät, modischer Noblesse und, was die Attitude betrifft, von unerreichbarer Vornehmheit, zugleich aber von trauter Kuschligkeit, uriger Eigenheimlichkeit und wohliger Gemütstiefe. Hier sitze ich und hülle mich in Schweigen! In Schweigen gehüllt ist man immer korrekt angezogen, auf dem Empfang, im Opern-Foyer oder daheim am Küchentisch. Wenn die Gattin mich kritisch traktiert, hüte ich mich, fatale Widerworte zu geben, die stets die Gefahr bergen, zu Diskussionen und unerfreulichen Querelen Anlass zu geben; ich hülle mich in freundliches Schweigen – mag es dann auslegen, wer will. Das Schweigen bekommt so direkt etwas Frottée-haftes, großelterliche Geborgenheit Verheißendes, und nach außen strahlt es ordentlich Gedankentiefe, Bedächtigkeit und stille Regsamkeit der Verstandeskräfte aus. Si tacuisses, philosophus fuisses!, so sagten schon die alten Lateinlehrer. Hätte sich der Kaiser, anstatt in seine „neuen Kleider“, mal lieber in Schweigen gehüllt. – Ach, würde es doch nur einmal allgemeine Mode, sich in Schweigen zu hüllen! Kein Tier müsste dafür sterben, kein Kind in Bangladesh sich für kik die zarten Hände blutig weben – Schweigen, strapazierfähiges, dickfelliges, wattiertes Schweigen in hoher Qualität gibt es für jedermann völlig umsonst! Auch die etwas vollschlankere Dame kleidet es vorteilhaft!

Ein Wort, in das ich seit Jahren verliebt bin, heißt: schlaftrunken. Rhythmisch reizvoll ist es (als ein astreiner Daktylus nämlich) und semantisch nicht ohne Tiefe. Allein „trunken“ ist ja viel galanter als die modernen, von der Gosse geprägten Synonyme „besoffen“, „breit“ oder „hackedicht“. Trunkenheit hat etwas Leichtes, schwebend Beschwingtes, sanft schwankend Schwipsiges, als wäre der Schlaf nicht des Todes kleiner Bruder, sondern ein Kelch schäumenden Belustigungswassers, das zwischen Traum und Rausch in tiefen Zügen genossen, das Vergessen befördert und frohgemute Sorgenfreiheit verspricht. Im Gegensatz zu anderen Rausch- und Betäubungsmittel-Effekten ist Schlaftrunkenheit nicht gefährlich oder schädlich. Die Dösigen, die Träumer und Somnambuliker sind doch das Salz der Erde! Sie führen keine Kriege und sind liebreizend wie verwuschelte Kuscheltiere. Am schönsten das unschuldige schlaftrunkene Kind! Aber auch ich freue mich schon darauf, später wieder eine ordentliche Mütze Schlaf zu trinken!

Nun aber leider etwas Widriges. Die Sprache hat nicht nur Kuschelwörter, manche sind auch aus eitel Stacheldraht, hart, schneidend, picklig und abstoßend wie Krötenschleim. Ein solches Wort ist „skrupellos“. Zeitungsschreiber verwenden es gern, und natürlich Agitatoren, Aktivisten und … Andere. Zum Beispiel schreiben die Grünen, Betreiber von Ponyreitbahnen seien in Wahrheit (das Wort kommt meistens mit „in Wahrheit“!) „skrupellose Geschäftemacher“, denen Bandscheibe und Drehwurm der Reittiere kalt am Herzen vorbeigeht. Schlimm genug, wenn einer ein „Geschäftemacher“ ist, das sehen wir schon nicht gern, aber dann noch „skrupellos“, was bedeutet, er zeigt noch nicht einmal sittliche Zerknirschung (vgl. Luther: „Zerknyrschungk“) über seine Verworfenheit! Wer sich der Skrupellosigkeit schuldig macht, steht mit einem Bein schon außerhalb der Humanitas, er ist gebrandmarkt als gewissenloser Schurke, als Knecht des Mammon, als Wucher-Jude („raffendes Kapital“). „Skrupellos“ ist das Sahnehäubchen, der Kosakenzipfel auf der Verurteilungstirade, ein definitives Vernichtungswort, das sich anhört, als fiele eine rostige Kerkertür ins Schloss. – Aber Achtung! Nicht damit zu verwechseln ist das Wort „skrupulös“, denn es bezeichnet das gerade Gegenteil. Skrupulöse Menschen wären wahrscheinlich zu sensibel, um Wörter zu benutzen, die mit „skr“ beginnen, weil ihnen das klanglich nicht behagt. Sie würden auch nie „Wucher-Jude“ schreiben, weil ihnen bange wäre, dass einer die Ironie nicht mitbekommt.

Das Leben ist DOCH ein Ponyhof!

20. Januar 2012

Bilder des Grauens!

Bin ich meines guten Gemütes und meiner Verstandeskräfte noch mächtig? Geht mein Kalender nach oder hat, während meine Aufmerksamkeit kurzfristig erlahmte, unser gütiger Landesherr den immerwährenden 1. April ausgerufen? Sind wir unter die Zwerge gefallen? Vor Absurdistan gestrandet, mit der Post an Bord? – so mag sich wohl guten Grundes fragen, wer sich heute durch die E-Postillen klickt: verwirrende Postmoderne! Kaum weiß man noch, was Scherz, was Ernst, was beklagenswerter Hirnschwurbel ist oder bloß fahrlässig ausufernder Branntweingenuss.

Da meldet man mir, die Partei der Grünen, die ohnehin kollektiv mehr und mehr meiner Frau Mutter („Gib das Rauchen auf!“, „Zieh dich warm an!“, „Iss mehr Obst!“) in ihrer nie ermüdenden Fürsorglichkeit ähnelt, fordere nunmehr – was? Die Lösung der Finanzkrise? Das Ende von Welthunger und Kinderarbeit? Wenigstens das Verbot der industriellen Massentierhaltung? Iwo! Die Grünen, im Gefolge der definitiv extradurchgeknallten PETA-Aktivisten, möchten das Ponyreiten auf Jahrmärkten untersagen lassen! Ja, freilich, das Ponyreiten! Meine Herren, traun für wahr, das schreit gewisslich gewaltig gellend zum Himmel, dieses grausame, herzlose Ponyreiten! Und die Grünen kennen das ja aus eigenem Leid: Sich in kleinen Kreisen täglich um sich selber drehen, kindliche Gemüter bespaßen und grundlos in der Gegend herumschnauben – das kann einen hart ankommen! Deswegen sind sie bestimmt auch gegen’s Zwerge-Werfen. – Noch zwanzig Jahre grün-verheucheltes Sentimentalitätsgedusel, dann ist unsere Republik endgültig in einen großen Waldorfkindergarten verwandelt, in dem debile Kinder jeden Alters jauchzend sich an den Händen fassen, über grüne Wiesen tanzen und ausrücken zum gemeinsamen Bienen-Streicheln. Aber ganz vorsichtig, Kinder, dass ihr die traulichen Tierchen nicht verschreckt!

Vorbildlich ausgewogen verhalten sich indes schon jetzt die NRW-Städte Minden und Gütersloh, bekannte Hochburgen des Humanen: Man verbietet dort zwar nichts, macht aber den Jahrmarktsmenschen immerhin zur Auflage, ihre Ponys alle dreißig Minuten (!) die Richtung in der Reitbahn wechseln zu lassen, damit es bei den Tieren nicht versehentlich zu einer einseitigen Weltsicht kommt.

Zu bekennen wäre: Ich treuer Esel habe dieser Partei, vielleicht aus bürgerlichem Biedersinn, vielleicht mangels politischer Bildung jahre-, wenn nicht jahrzehntelang meine Stimme gegeben. Wird wohl Zeit, dass ich auch mal die Richtung wechsele: Jetzt mal rechts rum, Kinder! Als Islam-Feind, USA-Freund, Israel-Fan, Stierkampf-aficionado und Frauenquoten-Gegner grüßt immer gegen den Strich: Mag. K.

Mann-am-Rand-Blues

19. Januar 2012

Am Rand da hat ein Mann gestanden
Der war vom Wandern schon ganz wund
Auch kam ihm der Verstand abhanden
Zwischen Al-Andaluz und Annalund

Er erstand etwas Sand in Flandern
Und ein Stück Land mit eigenem Fluss
Den ließ er im Sand mäandern
Das Stranden empfand er als Lebensgenuss

Als die andern das Abendland erfanden
Blieb er orientalisch entspannt
Er ist dann in den Anden gelandet
Und Abendland ist abgebrannt.

Bleibt die Sache mit dem Verstand
Der ist, wie gesagt, zuschanden
Und der Mann steht deshalb am Rand
Wo wir ihn ja am Anfang schon fanden.

Umheimliche Begegnung am Brückenplatz (steampunk)

16. Januar 2012

Professor Freud mit neuem Triebmodell (Fotoquelle: http://www.untote.cc/2008/07/21/steampunk-artwork/)

Die Menschen, scheint’s, werden zunehmend wunderlicher, ich bemerke das durchaus, ihr abgeschmacktes Auftreten, das flirrend Narrenhafte und Flamboyante ihrer Kleidung und wie sie hinterrücks mit toten, farblosen Augen mir Löcher in die Welt bohren! –

Gestrigen abends war es spät geworden; ein langer arbeitsreicher Tag lag hinter mir, sowie noch eine sowohl detaillierte als auch epische Schilderung der Gattin, wie sie selbigen Tages eine Brustvergrößerungsoperation gefilmt habe, wobei es aber der Tontechnikerin blümerant geworden sei, weil sie nämlich das Blubbern, Zischen, Knirschen und saugende Schmatzen des Fleisches direkt auf die Kopfhörer übertragen bekommen musste und zwischen ihnen, den Kopfhörern, eben nicht genügend Platz zu finden gewesen sei, um sich dem fleischlichen Elend flüchtend zu entziehen, – so dass ich, diese Erzählung auf dem Heimwege ins Büro noch ventilierend, mich für berechtigt hielt, mir am Büdchen auf dem Brückenplatz eventuell ein kleines Fläschchen Jägermeister zu erstehen: Man ist ja, wie es der Präsident unserer Republik sachdienlicher Weise formuliert hat, „auch nur ein Mensch“. Aber stimmt das denn auch und passt auf alle?

Wie ich nämlich gerade in den Hosentaschen nach kleiner Münze grub, um ein Schlückchen vom hilfreichen Kräuterlikör zu erwerben, traten mir wie aus dem Nichts entsteigend drei unheimliche, schwarz gekleidete Geschöpfe der Nacht entgegen, eines wohl männlich, eines ein fettes Mädchen, sowie ein ungeheuer langes, mich Norm-Riesen weit überragendes, klapperdürres Gespenst unbestimmter Geschlechtszugehörigkeit, das, nach steampunk-Art gewandet, sich mit schulterlangen, neonbunt durchflochtenen Dreadlocks schmückte und eine Brille mit gruftgrünen Gläsern (goggles) in die Stirn geschoben hatte. Das Gothic-Mädchen hingegen war nur notdürftig aus breitem, weißem Hefeteig geknetet, aber derart eng bestrumpft, gegurtet, umpuschelt, gehalsbandelt, vernietet, umkettet, abgespachtelt und generalübertüncht, dass es von ganz allein in der Form seiner Umrisse verblieb, was den Dritten im Bunde der apokalyptischen Triole zu einem gewissen Frauen-Besitzerstolz animieren schien. Selbdritt starrte man mich aus feindseligen Kajal-Augen an, als sei ich der personifizierte Absturz, der schwarze Morgen-Kater, das wandelnde Entzugssyndrom. „Wartet, wartet, ihr drei Schönen…“, japste ich mit unnatürlich hoher Stimme, denn ich wollte einen Beweis, „darf ich euch…“ – Ich wollte sagen: „…vielleicht fotografieren?“, aber da waren die drei schon genauso totenstumm und maskenschweigend wieder in der Nacht verschwunden, aus der sie sich zuvor so instantan manifestiert hatten.

Wie ich aber nun heute des morgens, am frühen Sonntag, auf dem nämlichen Brückenplatz, die dorten firmierende Bäckerei Bolten betrat, um, wie es meine gute, bewährte Gewohnheit ist, frische Brötchen zu kaufen, damit ich in der Folge frühstückshalber kommod der Gattin beizuwohnen in die Lage käme, fand ich sie, die Bäckerei, knüppeldicke besetzt, voll gestopft und nahezu verrammelt mit Scharen bestürzend ungefüger, grobschlächtiger, teilweise auch hässlich entstellter Brillenträger vor, welche in dummen, ja geradezu frappant albernen hellblauen Uniformen aus dem frühen 19. Jahrhundert steckten, welche ihnen sei’s viel zu groß um die Knochen schlackerten, sei’s spack und wurstig um die ausladenden Hüften spannten,  dergestalt dass sie, die urplötzlich emergierten Karnevalsjecken, denn um nichts anderes handelte es sich bei dem pickligen, unfrohen Volk,– am Ladentresen unentwegt eine, haha! „steife Latte“ und Zwiebelmettbrötchen „aber ohne Zwiebeln“ ordernd –, mir jede Aussicht auf zeitnah zu erwerbendes Backwerk raubten, was in mir, so früh am Morgen, heftige Anwandlungen von Misanthropie, wenn nicht sogar schlimmer, bösartiger Anthropofugalität verursachte, sintemalen ich, eben um diese Zeit, von einer enormen ästhetischen Hypersensitivität geplagt werde, die in reziprokem Verhältnis zu meiner mitmenschlichen Toleranzschwelle steht.

Was, frug ich mich, hat denn dieses idiotische Narrenpack, dieses urdeutsche Demenzphänomen  und Belästigungsgesindel, morgens um halb zehn, am heiligen Sonntag, ausgerechnet bei uns im Geddo zu schaffen? Ist denn, halten zu Gnaden, die Menschheit nunmehr ganz und gar aus dem Häuschen geraten? Aus dem urgemütlichen deutschen Haus- und Gemeinwesen ist wahrhaft ein bizarres Charivari geworden, in dem Tag und Nacht, Sinn und Nonsense, Menschliches und Gespenstisches schrill kichernd und haltlos ineinander gleiten, uns Gutgesinnte und gemütvolle Herzenstakt-Besitzer böswillig verwirrend, behindernd und ängstigend! Wie soll das noch auskommen?

 * * *

Apropos: Kürzlich hörte ich mich gesprächsweise behaupten, das voluminös gleißnerische Gesamt-Werk des Scharlataneriewarenhändlers Prof. Sigmund Freud mit all seiner vollrohr verschlungenen Psycho-Hydraulik, seiner plüschig-sofaesken Dampfsexualität und der wirren Bricolage aus Ventilen, Druckmessern und mystischen Triebwerken sei recht eigentlich eine veritable steampunk-Wissenschaft, eine phantastisch-retrofuturistische, viktorianische Bastelei von monströser Schönheit zwar, wiewohl dennoch letztlich auch zur Gänze nutzlos.  Ich rede viel, wenn der Tag lang ist, doch dieser Gedanke erschien mir noch lange, bis in die tiefe der Nacht hinein, haltbar. Wenn nicht sogar ausgezeichnet!

Kleines Glück (Kafka bricht sich das Bein)

13. Januar 2012

Kleines Glück: Ich muss nicht zum Zahnarzt!

Ich glaub, ich google das Wort seit Jahren alle fünf Monate und vergesse doch immer wieder, was das bedeutet: Resilienz. Die Qualität des Stehaufmännchens. Subjektiv sind meine Resilienz-Werte erschütternd niedrig; die Tatsache, dass ich noch immer lebe, spricht freilich eine andere Sprache. Sonderbares Gefühl, ähnlich wie wenn jemand Kaffee gekocht und direkt in meinen Traum gebracht hätte, während ich noch schlief: Schau an! Man ist ja doch ein zäher Hund!

Grund meiner milden Euphorie: Ich besitze zwei Beine! Gerade entdeckte ich dies! Das ist ein Grund zur unverstellten, zügellosen Freude und wahrhaft Anlass, das Leben zu feiern, denn mit zwei Beinen lässt es sich zum Beispiel viel komfortabler und eleganter Fahrrad fahren als sonst. Wie lässig ich mich an der roten Ampel abstütze! Das zweite Bein verleiht mir etwas Weltmännisches, Sportives und Grundsolides. Kein Hut wohl, und säße er noch so verwegen, vermöchte dies. Heute ist es schon so, dass ich mich ohne zweites Bein irgendwie inkomplett fühle und gar nicht aus dem Haus möchte. Generell freut man sich zu wenig über doch nur scheinbar Selbstverständliches. Gestern Nacht geriet ich beispielsweise nächtens im Bett in helle Begeisterung, weil ich mich mühelos von der rechten auf die linke Seite drehen konnte. Tagelang ging das nämlich nicht ohne unmenschliche Tortur, weil ich mir die Halswirbel verrenkt hatte, was sehr viel lustiger und bagatellenhafter klingt, als es tatsächlich ist. Wer je eine dreiviertel Stunde benötigte, sich einen Socken artgerecht auf den Fuß zu stülpen, weiß, wovon ich spreche.

Von Franz Kafka, dem vergleichsweise unbekannten Hochkomiker deutscher Zunge, ist der Text überliefert: „Einmal brach ich mir das (sic! Kraska) Bein, es war das schönste Erlebnis meines Lebens.“ Wie alle Werke des Prager Großmeisters ist auch dieses schwer zu interpretieren. War sein Leben dermaßen mies, dass ein Beinbruch darin schon „das schönste Erlebnis“ war? Oder verbarg sich „das Schöne“ im Erlebnis, immerhin nicht nur „das“, sondern zum Glück noch ein zweites, ein Ersatz-Bein zu besitzen? Oder, noch unheimlicher, war Kafka, als verschlagener Dialektiker, ähnlich wie der von ihm bewunderte Robert Walser, ein solcher Meister des positiven Denkens, dass ihm noch der allerletzte Lebensunbill zum Grund überschäumender Lebensfreude geriet? Schwer zu glauben, denn Kafka trug ja bekanntlich schwer an seiner notorischen Schwermut. Tausende von kafkakundigen Germanisten werden dies gern bestätigen.

Ein Quell seinsfrommer Glückseligkeitsempfindungen, der erstaunlich selten erschlossen wird, besteht in der Tat darin, dass man nicht jeden Tag, und vor allem am heutigen nicht,  zum Zahnarzt muss. Ich möchte Schwermütigen empfehlen, mehrmals am Tag an einer Zahnarztpraxis vorbeizuschlendern und sich, die Tabelle der Sprechzeiten studierend,  aufs wohligste klar zu machen, dass man selbst dental gerade nicht involviert ist. Wie strahlt darauf der Rest  des Tages! Das Leben gibt schulfrei. Die ganze Welt steht einem offen! Man kann Fahrrad fahren, sich im Bett herumdrehen, Socken anziehen, kurz, tun, wozu der Mensch im Eigentlichen gemacht ist! Herrlich!

Im Rausch der Freiheit, der mich vor der Zahnarztpraxis überfiel, ergriff mich dann die plötzliche Einsicht, dass mich, selbst wenn ich ein politischer Mensch wäre, die Frage nicht unbedingt zu interessieren hätte, wer Bettina Wulffs Kleider bezahlt. Selbst die Kausal-Herkunft jenes seltsam entrückten, fast manischen Dauergrinsens, das ihr fest in die Backen gedübelt zu sein scheint, gehört nicht zu den vierhundert Fragen, die mir den Schlaf rauben. Selbst wenn ich, der Unwürdige und sozial Verdienstlose, zum Neujahrsempfang des Bundespräsidenten eingeladen worden wäre, hätte ich die First Lady nicht mit uncharmanten Fragen bedrängt, sondern ihr vielleicht erzählt, dass ich zwei mühelos selbst angezogene Socken trage. Das gewiss konsequent nicht-irritierte Lächeln, das sie mir daraufhin geschenkt hätte, zählte zu den schönsten Erlebnissen meines Lebens!