Archive for the ‘Phantasien’ category

So wird’s was!

8. April 2014
Holz_Planetengetriebe

Fair geschreinert: Redewerk

Zu seinem siebenten Geburtstag bekam der kleine Friedemann von seinen Eltern, braven schwäbischen Prenzlauerbergbauern mit Hang zu Höherem, einen Rhetorikbaukasten von Manufactum geschenkt. „Ei schau! ein Redetorikkasten“ rief der solchermaßen pädagogisch wertvoll Beschenkte gekünstelt aus, seine Enttäuschung wohlerzogen verbergend, denn recht eigentlich hatte er sich tief im kindlich blutvollen Herzensinneren eher ein Wii-Gerät gewünscht, zur virtuell-simulatorischen Unterstützung des Herumhampelns. Herumhampeln war nämlich des kleinen Friedemanns ganz große Leidenschaft. Die Eltern nannten es ADAC oder so ähnlich und verabreichten ihm abends ein Vorsorglichkeitslöffelchen Mirakulin® dagegen. –

Nun aber dieser Kasten, aus zartbitterem Volledelholz fair geschreinert – und geöffnet? ein Traum! Was da zum Vorschein kam! Allein das biofein handgeschmirgelte Werkbänkchen zum selber Phrasen-Drechseln! Die Präzisions-Wortklaubsäge nach Professor Duden! Der Dünnbrettbohrer aus diamantenem Urgestein! Und, guck nur, diese vollfunktionsfähige mechanische Wortverdraisine! Und dann all die Disziplinen, in denen man sich kundig machen durfte: Fraktur reden, Tacheles reden, Schönreden, Ausreden, Drumherumreden! Sogar, wenn auch nur unter Verweis auf den Kasten für Fortgeschrittene, das Energisch-in-Abredestellen, das Strikt-Zurückweisen und das Ins-Gegenteil-Verkehren und die hohe Kunst des Das-Wort-im-Munde-Herumdrehens! Das ganze Programm!

Wie ein von Anfängern nach dem Kochbuch von Reichskochkunstverweser Dr. Oetker hergestelltes oder schlecht und recht zurechtgefrickeltes Soufflée fielen Friedemanns bisherigen Beruflichkeitsträume zu NICHTS bzw. fad-zäher Matsche von gestern in sich zusammen: Umweltretter, Afrikaforscher, Frauenversteher – pah! wie banal! Vergiss es! – „Ich will die Iloquenz beherrschen! Und damit die Welt!“ jubelte der Ehrgeiz in dem kleinen, narzißtisch ungestörten Friedemann, der, von seinen Eltern wohlwollend beäugt, alsbald mit dem Training begann. Nicht immer war das für die Umwelt ohne Belästigung, ähnlich wie bei anfängerhaften Grundübungen in Geige, Posaune und Kontrafagott – am Anfang will es halt noch nicht grooven. Zu Jazz, HipHop oder Klassik sind nur kaum welche geboren. Die Eltern naschten nun auch abendlich vom Mirakulin® , auch von Diazepan und Prozac, denn was tut man nicht für die goldene Zukunft des Kindes. Und Friedemann brabbelte, blubberte, stammelte, stotterte, hüstelte zum Gotterbarm, aber trainierte dennoch unerbittlich weiter, gnadenlos gegen sich und andere: Ein Redekunststeller wollte er werden, koste es die Eltern, was es wolle! Und? Es schlug am Ende an!

Schaut, liebe Eltern, sprach er stolz unter dem Tannenbaum, an Weihnachten, ich biete euch heute heute am Ehrentag des lieben Jesuskindes eine mit Hilfe von der seligen Fa. Manufactum selbstgedengelte Prunkrede dar, in der ich advokatenhaft listig EUCH verantwortlich mache für den bisherigen Misserfolg meiner Laufbahn! Euer Schuldgefühl sei mir Applaus und Anerkennung genug! Jetzt starte ich durch! – Und so kam es: Erst der Göttinger Arthur-Rimbaud-Preis für poetische Altklugheit, dann der Georg-Trakl-Pokal für drogeninduziert präpubertäre Schwermut, schließlich die Walter-Jens-Medaille für präpotentes Gehaspele und Gequatsche! Die Laudatio hält jeweils Fräulein Hegemann. Und nächsten Sommer gehts zum Klagen nach Tränenfurt. Man muss nach vorne schauen. Auch wenn es graust.

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Improvisieren können

23. Oktober 2013
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Im Fernsehstudio

Damit mich keiner erkennt, hatte ich einen Schlips umgebunden. Ordentlich schick gemacht: Camouflage für die Talkshow. Ins Gesicht schön bunt Werbung gemalt, für Schwarzbier und Dosenravioli. Ich liebäugelte damit, das einfache Volk zu repräsentieren. Aber dem einfachen Volk sagt ja keiner etwas, zum Beispiel, dass man zu solchen Einladungen irgendetwas mitbringen muss. Neben mir saß einer, der mit dem Rollstuhl quer durch den Regenwald war und darüber mit dem Mund Bilder gemalt hatte. Zwei Plapperwachteln litten an rätselhaften Krankheiten, von denen die Kasse nichts wissen wollte, eine beleibte feministische Dame verbat es sich, auf ihren Körper oder ihre Weiblichkeit? egal, jedenfalls reduziert zu werden, und die anderen hatten eben was Selbstgemachtes mitgebracht, einen Song, ein Werk, ein Opus maximus, zum Vorzeigen und Herumprahlen. Und ich? Typisch wieder, immer denk ich, mir wird schon etwas einfallen, ich improvisiere einfach, und dann kann ich bloß Sendepause und Maultaschen feilbieten. Oder heißt es Maulfeigen? Nein, Maulaffen, jetzt weiß ich, Maulaffen. Was sind eigentlich nochmal Maulaffen? So etwas wie Ohrfeigen? Erwähnte ich schon, dass ich mich schwer konzentrieren kann?

Schon wandte sich die superfreundliche Moderatorenschlampe an mich, zeigte mir ihre gewienerten Zahnreihen und krähte mit koksbetriebenem Enthusiasmus: „Aber nun zu Ihnen, Herr…!“ und auf ihr Zeichen hin fuhr mit Karacho eine Riesenkamera auf mich zu, knallte mir frontal ins Gesicht und filmte mit Teleobjektiv neugierig in meine Nasenlöcher hinein, zum Glück frisch gepflegt mit dem Nasenhaarrasierer der Firma Oldsmobil. Das einfache Volk begann zu schwitzen wie ein Störungsmüller. Oder heißt es Schwerenöter? Briefbeschwerer? Beschwerdeführer? Jetzt half jedenfalls nur eines: maximale Hysterie!

„Ja, jaha! Verdammich, ich wars!“ schrie ich, „Erwischt! Ich bin der Schwindelbischof von Humburg, Jonathan Kraska! Also Butter bei die Fische, große Portion Beichte mit doppelt Bußkram: Ich habe gehurt, geschlurt, geschleimt und leimsiederisch rumgeschlampert! Auf dem Satanstrip wie nichts Gutes! Brokat-Bilanzen, kostbar halbseidenene Steuerverklärungen, dann wieder voll die Gelage, skrupellose Ferkel-Orgien, klar auch hier Dingsbums, Knabenliebe, Ministrantenstrich mit rotem Teppich, schwergoldene Urinale, grotesk teure Platinesken und diözesane Rubinate usw., pah, peanuts, meine leichtesten Übungen! — Wer Gott dient, muss einen guten Anzug tragen! Und zwar ministrös gebügelt! sag ich immer. Und wer moppert, kriegt eine Leviten-Abreibung in Kirchenrhetorik: Anlaufen, Beschleunigen, Abheben, himmelwärts Düsen, krass fertiges eschatologisches Weggetreten-Sein. Das ist mein Sport! Da bin ich richtig, richtig gut drin. Und der feine Herr Jesus ist mein Zeuge! Meine Devise: Für den Gottessohn nur Weihrauch, Myrrhe, Koks und Kaschmir. So! Und jetzt Sie!“, – ich begann haltlos zu schluchzen.

Eine der kranken Tanten reichte mir ein Tempo und tätschelt meinen Arm, der links vorne an der Lehne des Bischöflichen Stuhls befestigt war. „Na, na“ sagte sie begütigend, „na, na…„, die Moderollatorin starrte irritiert in ihre gelben Karteikarten, der Regenwaldrollo kicherte blöd und das Saalpublikum johlte und haute sich krachend auf die westfälischen Schweineschenkel. Vollends durchschizophreniert – wie kam ich aus dieser Nummer bloß wieder heraus – brüllte ich in den Saal: „So, Schluss jetzt! Hört auf mit dem Geschwindelgrinsen, das war kein Spaß! Beziehungsweise wohl, ich wollte sagen, wohl, das war vielmehr bloß Spaß, ein kleiner Scherz, ein Gag, zur Auflockerung, in Wahrheit bin ich…“ , und nun musste ich aber echt improvisieren, „…der Steinerne Gast, der unsichtbare Dritte, der ganzganz Andere, das Objekt klein a, der abwesend Anwesende, der Dritte Mann, jenes höhere Wesen, das wir verehren….“, – dann wurde das einfache Volk mittelsanft nach draußen geleitet.

Mann, Mann, dachte ich im Aufzug nach unten, du bist ein echter Diskurs-Vergeiger! Aber als es mir in der Senderkantine gelang, meine entwerteten Straßenbahntickets als Essensmarken zu verwenden und einen Teller Käsemakkeroni zu erschwindeln, gewann ich schon wieder an Selbstachtung. Man muss improvisieren können!

Die Hose – Ein Albtraum

11. April 2013
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Auf dem Bazar in Afghanistan: Der Autor lässt die Schwedinnen Skizzen zeichnen, damit sie zur Reinigung finden…

 „Ich aber habe mich wegen der Widrigkeiten, die ich erlebt habe und weiterhin habe, in meine Villa zurückgezogen, und manchmal erinnere ich mich einen Monat lang nicht mehr, wer ich eigentlich bin.“

(Niccolò Machiavelli, Brief vom 8. Juni 1517)

Dies trifft voll und ganz auch auf mich zu, das kann ich unterschreiben, insbesondere das mit den Widrigkeiten, weniger freilich die Sache mit dem Villenbesitz, dessen ich nämlich, entgegen anderslautenden Gerüchten, durchaus und noch immer entrate, – und wer ich eigentlich bin, habe ich im Grunde noch nie gewusst, es daher wenigstens auch nicht monatelang vergessen können. Einen Monat lang und mehr indes versäumte ich, etwas zu schreiben. Angesichts der „Welthirnjauche“ (Karl Kraus) von Ennui, Überdruss und Weltekel übermannt, mehr noch, wie „zernichtet“ (Lenz), ja innerlich verwüstet und leer, fehlte nicht mehr viel zur strikt katatonischen Lähmung, zur umfassenden Blödigkeit, zum Karpfentum nunmehr gänzlich nonverbaler Existenz als stumm wesendes, illiterates Gemüse!

Außerdem weilte ich in Afghanistan. Ich verbringe meine frühmorgendlichen Albträume gern in Krisen- und Kriegsgebieten. Jedenfalls glaubte ich, dass es sich um Afghanistan handelte: eine ungepflasterte Ödnis voller unverkleideter Berge, zugig und staubwüst, der Marktflecken aber quirlig und bunt mit allerhand orientalischen Lebensbezüglichkeiten ausgestattet und voll zwielichtigen Volks, Turbanschaffner, Bartfärber, Müll-Mullahs. Emotionalienhändler rollerten auf Onlinern durchs Gassengeviert und schrien Erregungsangebote aus; man bot wohl auch Drogen auf rein pflanzlicher Basis feil, Frauen trockneten Aprikosen unter Schonbezügen (also die Frauen), landestypische Parfums durchwehten die Lüfte – Knoblauch, Ziege, Hühnerkot. Es ging zu wie auf einem Bazar. Was sage ich? Es war ein Bazar! Was von Vorteil ist: In meinen Albträumen kann ich immer total gut laufen! Ich war nämlich mal wieder auf der Flucht, weil die ortsübliche Bevölkerung ihr Bedürfnis ausdrückte, mich massakrieren zu wollen. Kinder und Greise schwangen blutige Messer, man schoss Vorderlader-Flinten auf mich ab und hängte mir Zettel mit Schimpfnamen auf den Rücken.

Die Flucht dauerte und dauerte, der ganze Traum im Laufschritt! Etwaige landschaftliche Schönheiten zu bewundern, blieb keine Minute. Gebirge und Wüsten stellten sich mir in den Weg, talibanesische Söldnersoldaten bewarfen mich mit heiseren Rachen-Schwüren und verlangten auf Urdu hustend mein Blut. Zwar hatte ich keine Angst, aber nach schnödem Ermordetwerden in einem doofen Land stand es mir nun auch nicht. Also weiter, weiter! Durch die Schluchten des Hindukusch! Ich hatte schon einen ganz trockenen Mund. Und dann musste ich auch noch aufs Klo! –

Als ich wieder im Bett war, hatte irgendjemand den Traum für mich weiter geträumt, denn mittlerweile war ich abgehetzt, verschwitzt und ungeduscht in Kabul angekommen, oder Kunduz vielleicht auch, und es hatte sich gerade eine Möglichkeit aufgetan, mich rettungshalber auszufliegen, in ein Land meiner Wahl. Schon wollte ich erfreut auflachen, als eine neue Beklemmung mich überfiel. Siedend heiß fiel mir nämlich ein, dass ich vor Tagen in Kabul, Kunduz oder wo eine Hose in die Reinigung gegeben, aber, wie immer und typisch für mich, den Abholzettel verbummelt hatte. Die Zeit drängte doch! Sollte ich zur Botschaft, einen neuen Zettel beantragen? Konnte ich befreundete Westler bitten, die Hose abzuholen und mir nachzusenden? Einer schwedischen Reisegruppe versuchte ich, mein Problem zu erklären, zugleich eine Skizze verfertigend, den Weg zum Reinigungsladen betreffend, und andererseits in einem Wörterbuch mit zunehmender Verzweiflung und ausbleibendem Erfolg das afghanische Wort für ‚Abholzettel‘ nachschlagend. Leider beherrschte ich auch das Schwedische nicht und endloses Gestikulieren, Skizzieren und In-der-Gegend-Herumdeuten brachte uns nicht weiter. Langsam wurde es wirklich albern!

Was soll ich sagen? Über die Angelegenheit mit der bescheuerten Hose verpasste ich schließlich nicht nur mein Flugzeug, sondern auch den ganzen weiteren Krieg, der inzwischen wohl zu ende gegangen war, denn das zerklüftete Land war nun planiert, asphaltiert und von unangenehmen Bevölkerungen gesäubert. Man hatte aus der gesamten Höllenregion einen riesigen Parkplatz gemacht, allerdings bewacht und gebührenpflichtig. War das nun die ganze Hatz wert? – Als ich beim Frühstückkaffee der Gattin brühwarm von meinem Traum erzählte, erfrischte mich erneut ihr pragmatischer Sinn. Nachdem sie mich angehört und über meine Abenteuer nachgedacht hatte, fragte sie, nach kurzem Schweigen: „Und? Was ist jetzt mit deiner Hose?“ – „Ach“, versetzte ich wergwerfend, „pah! War bloß eine schwarze Stoffhose – sowas ziehe ich doch eh nicht an…

Als Nutzanwendung des Traumes notierte ich in mein Sudelbuch: Blaise Pascal zufolge rühre alles Unglück in der Welt daher, dass die Menschen nicht mehr ruhig auf ihrer Stube bleiben könnten. – Ich möchte diese Einsicht verschärfend übertrumpfen: Das Unglück beginnt schon, wenn Männer aus den Hosen steigen!

Die Angstmütze (Zur Geschichte der Kindheit)

11. Mai 2012

Unbillfisch

Der kleine Bromian hatte ein großes Geheimnis, und das war noch nicht mal die Sache mit dem Jesukind – er mimte nämlich manchmal insgeheim ganz gerne das bittersüße, arme Jesukind voll Blut und Wunden, und auch davon erzählte er natürlich niemandem – , aber das richtig große Geheimnis war, dass er eine funktionierende echte Angstmütze besaß. Ferienbruder Arnold aus Wuppertal hatte sie ihm vermacht, als er nämlich schon wieder weg musste, der Austausch- und Durchreisefreund, weil er von seinen neuen Eltern plötzlich „adorpiert“ worden war und nach Hause musste und da wohnen, wegen Eigenfleisch und -blutbedarf usw. Jedenfalls: Normale Kappe aus falschem Bibersamt, oben im Zenit Knopf drauf, aber drei Klappen dran aus naturwildem Tierpelz, links, rechts und vorne auch. Links und rechts konnte man damit die Ohren abdecken, und wenn man vorne den Schirm ganz herunterklappte und dann alles unterm Kinn zusammen band, war man praktisch auf Nummer Sicher. Hatte Arnold gesagt, und es stimmte genau. Allerdings, wenn die Angst lange dauerte, schwitzte man an den Haaren, das ja.

Wenn was war, und es war ja fast immer was (Arnold nannte es: „Unbill droht jederzeit und mögliche Verzweiflung“), kauerte Bromian sich in eine dunkle Zimmerecke, schlang die Arme um die zitternden Knie, bezog seine Angstmütze, kniff zur Sicherheit noch die Augen zusammen und atmete kaum. Manchmal spürte er, wie Unbill und mögliche Verzweiflung wüst in der Stube herumschnaufte und nach ihm suchte; zuweilen kam es auch vor, dass der Schrecken ausblieb, dann hatte man umsonst Angst gehabt, aber was besagte das schon? Arnold hätte die feinen Brauen gehoben und vielsagend geflüstert: „Ja, dieses mal vielleicht, aber…“ Und das war der Punkt.

Eine Theologie hatte er nicht gerade, aber Weltwissen. Die Welt war voller Lärm, Gestank und gefährlichem Gemache; sie war, wie Arnold, das Katholikenkind, es gesagt hätte, „ein Jammertal“. Weinen durfte man freilich nicht, wenn man im Dunkel der Angstmütze saß und an den Haaren schwitzte, höchstens ab und zu vorsichtig einen ganz leisen, hauchfeinen Seufzer  ausstoßen, damit die jederzeit mögliche Verzweiflung einen nicht zu packen bekam. Am besten war man ein sehr kleines, unscheinbares Tier, denn, so wusste es Arnold aus seiner Lebenserfahrung, eine „bescheidene Kreatur“ zu schlagen hätte das Schicksal „keine große Freude“.

Die Nacht aber war ein klaffendes Loch wie der lauernde Meeresgrund, denn die Hausmutter verbot es, im Bett eine Mütze zu tragen. Ohne Begründung. Die Ahnungslose! Nachts war man bettelarm und einsam wie das süße, blutende Jesukind in der Krippen und kein Nothelfer weit und breit in Sicht. Ein Kind darf ja noch nicht beim Zeitvergehen mitmachen, es lebt noch in der stummen Mutterblase, wie ein traumblinder Fötus im Gurkenglas, an dem sich der Unbillfisch die Nase wetzt, das arme Kind, den Zähflüssigkeiten des Seins hilflos ausgeliefert und gezwungen, den bitterdicken Brei zu löffeln, den die Eltern einem gekocht haben!

Über den Elefanten

31. März 2012

Götter durch Fliegenpilz: Ganesha (Quelle Wikipedia)

Eine vermehrt diskutierte Frage: Ist der Elefant in der fortwährend miniaturisierten Welt der Chips und Bits noch zeitgemäß? Unvergessen ist ja die Erkenntnis und tiefere Einsicht des großen Gothaer Katheder-Professors Galetti: „Das größte Insekt ist der Elefant“. Dies gilt insofern als empirisch belegt, als ein noch größeres Insekt jedenfalls bislang nicht gefunden wurde, weder im Senegal noch auf Sumatra, wo noch die meisten zoologischen Überraschungen auf ihre Entdeckung warten. Die taxinomische Ordnung der Welt gilt aus Gründen der Übersichtlichkeit als wünschenswert. Manche „Eintheilungen“ des Professors Galetti werden indes heute als überholt oder unpraktikabel angesehen, so etwa die der Pflanzen in „zweibeinige und vierbeinige“.

Als ich nach einer Religion suchte, zu der man mal spaßeshalber konvertieren könnte, stieß ich bei Gelegenheit auf den Hinduismus. Er besticht durch seine Undurchsichtigkeit und enorm unübersichtliche Vielfalt, und der Unbelehrte möchte gern glauben, das völlig überkandidelte Göttergewirr müsse sich dem jahrhundertelangen habituellen Missbrauch des Fliegenpilzes oder anderer psychoaktiver Drogen („Soma“) verdanken. Religionen lassen sich generell einteilen in solche, die aus Mangelernährung und Sexualnot entsprangen und solche, die ohne acid gar nicht zu begreifen sind. Mein hinduistischer Lieblingsgott ist Ganesha, ein pummeliges Kind mit roter Haut und vier Armen, auf dessen Schultern ein Elefantenkopf sitzt. Sein Reittier ist eine Maus. Wer kommt denn auf so etwas?! Der lustige Elefantenpummel steht für Glück, Wissen und Weisheit, das macht ihn trotz seiner exzentrischen Morphologie jedenfalls auf Anhieb sympathisch.

Obwohl auch ich manchmal mit einem dicken Schädel aufwache und eine recht lange Nase besitze, kann ich mir nur unter gewissen Mühen vorstellen, wie es sich wohl anfühlte, mit seiner Nase Dinge ergreifen, Kindern zuwinken oder Getränke zu sich nehmen zu können. Ich stelle anheim, hierüber einmal zu meditieren. Möglicherweise wäre das eine bereichernde Erfahrung. Ob ein zierlicher kleiner Nager sich für einen Elefanten als Reittier eignet, dies zu entscheiden möchte ich lieber den Indern überlassen, die sich auf Elefanten von Geburt aus bestens verstehen.

Elefanten gibt es in grau oder, seltener, in weiß, dann sind sie heilig und man opfert ihnen Pudding und Käsekuchen. Früher gab es ihn auch noch in braun, aber diese Version ist ausgestorben und nur noch tiefgefroren erhältlich. Legendär ist das gute Gedächtnis des Elefanten. Er kann noch nach fünfzig Jahren punktgenau denjenigen Pfleger zerquetschen, der ihm mal dumm gekommen ist. Geschichten hierüber füllen die Presse; wahrscheinlich ist es auch schon auf YouTube.

Obwohl ich das interessant fände, träume ich nie von Elefanten. Mein einziger Traum mit Dickhäuter-Bezug, an den ich mich schaudernd erinnere, berührte mich einst äußerst unangenehm: In meinem kleinen Musik-Zimmer hatte sich einmal in der Ecke neben dem CD-Regal ein massives Breitmaulnashorn eingenistet. Es stank, nahm ungeheuer viel Platz weg und störte den Genuss Brahmscher Streichquartette empfindlich, in dem es mich, Ballen trockenen Heus mampfend, unverwandt anstarrte und dabei ein undurchdringlich ausdrucksloses Buster-Keaton-Gesicht machte.

Der Elefant ist dem Menschen in vielen Dingen überlegen. Ausnahmen: Eiskunstlauf, Klavier und Kartenspiele, bei denen er sich aufgrund seiner sprichwörtlichen Gutgläubigkeit leicht überlisten lässt. Dennoch bleibt er auch in der modernen Informationsgesellschaft bis auf weiteres unverzichtbar, als Glücksbote, gern bestauntes Wundertier und charismatisches Großinsekt. – Wie obige Zeilen beweisen, eignet er sich auch zur Metapher.

Puffreis (Gruß aus der Puppenküche)

15. März 2012

Traum vom Fliegen (Fotoquelle Wikipedia)

Gespräch mit dem Kinde. – „Was möchtest du denn mal werden, Kleiner?“ – „Ich werd krank!“ – „Waas? Krank?“ – „Ja, und denn wieder gesund. Da bin ich immunitär und werd Super-Held. Also Weltretter und so.“ – „Und wovor oder wem willst du die Welt retten“? – „Vor Lurchen! Dings, Schlampen. Oder Schrunden? Nee, warte: vor Schurken! Schurken ist das richtige Wort!“ – „So bösen Trenchcoat-Menschen?“ – „Jaha, genau! Die mach ich platt, mit’n Flammenkuchen…“ –  Gott, was für ein bescheuerter Dialog! Wie will ich so jemals einen anständigen Roman zustande bringen? Das macht doch keinen Sinn! Ich fang noch mal an…

Konfusionstechnik. – Was empfiehlt das postmoderne Benimm-Kochbuch derzeit eigentlich, wenn es im Treppenhaus zu unerklärlichen Unheimlichkeiten kommt? Wenn, sagen wir, aus dem Halbschatten hinter der verdorrten Flurpalme unversehens eine unfrauliche Frau, baulich unverfugt, im Schreckschraubenoutfit, mit Hornbrille und Hütchen auf dem schwarzblondierten Haar, auf einen zuschießt und faucht: „Sie sind seit Monaten eine Zumutung für mich!“ Hat der Kafka-Franz sie geschickt? Ist die Feder am Hut vom Paranoia-Vogel? Wer besäße in einer solchen Situation voll dubioser Implikationen und Unwägbarkeiten die legendäre Schlagfertigkeit des mythischen Hypnose-Therapeuten und Konfusionstechnikers Milton Erickson? Er hätte geantwortet: „Darf ich vielleicht anbieten, Ihnen eine Stricknadel ins Ohr zu stecken?“ Natürlich müsste man dazu noch ein absolut undurchdringliches Buster-Keaton-Gesicht machen und fragend auf seinen Kragenknopf deuten.

Shoppen mit Schwung. – Seltsamerweise können auch Vergeblichkeitsträume gelegentlich euphorisierend wirken. In einem großen Warenhaus für Galanteriewaren und Kreativkitsch fragte ich jüngst nach einer lebensgroßen Erich-Honecker-Büste aus Rauchglas, gefüllt mit rosenfarbenem Duftwasser. Ich meinte, dergleichen im Schaufenster erspäht zu haben. Man behandelte mich mit vorzüglicher Hochachtung und nannte mich ständig Herrn Dr. Brauchburger. So heiße ich zwar keineswegs, ließ es mir aber doch gefallen und erfreute mich der Zuvorkommenheit, die mir sowohl die Prinzipalin als auch der leitende Ladenschwengel zuteil werden ließen. Im Lager fand sich zwar nichts mehr, was meinem Wunsch gleichkam, obwohl man große Suchanstrengungen unternahm, aber dennoch verließ ich das Geschäft beschwingt und erhoben, noch im Erwachen lachend, ohne dafür einen zwingenden Grund angeben zu können.

Aus der akademischen Welt. – Ebenfalls traumentsprungen: Deutschlands jüngster Professor! Er hieß Korbinian Herrnwisch (24),  war Experte für proszillitäre Protreptologie an der Uni Münster und trat in einer Talkshow auf. Er wirkte schüchtern, litt offenbar unter Selbstzweifeln und war unfähig, dem Publikum im Studio plausibel zu machen, worin genau seine Tätigkeit bestand. Immerhin war ihm das Geständnis zu entlocken, dass an der Uni Münster bislang noch gar keine Proszillatoren installiert seien, aus Kostengründen. Dafür wusste er mit der Mitteilung zu verblüffen, dass es in Münster praktisch keine Studentinnen der theoretischen Pataphysik gäbe, die kein sog. Arschgeweih ihr eigen nennten. Ratlos starrte der Moderator in seine Karteikarten.

Doppelte Angstüberwindung. – Ja, zugegeben, ich träume von Reisen auf dieser Windmaschine: Nicht so sehr, wie ich die Drahtabsperrungen des Stromparks überwinde, den ragenden Mast mühselig besteige, den Turm des Wahnsinns erklimme, das Herzstück erreiche, die allfällige Höhenangst herunterschlucke, mich überwinde, mich mental einkriege, tieftief durchatme, nein, aber wie ich dann, endlich oben angekommen, befreit beschleunige, abhebe und los fliege – das hat was! Hab ich erwähnt, dass ich eine reizende Frau habe? Sie fliegt natürlich mit, auch wenn sie unter Flugangst leidet. 

Ein Dichterleben

16. Februar 2012

Kulturdamen verabscheuen Indezenz! (Quelle: http://www.allmystery.de/)

„Am 23. Jänner, im dritten Semester, war ich bereits dermaßen arm, dass ich erwog, mir die Fingerspitzen zu frittieren, um wenigstens einmal wieder etwas Warmes zu knabbern zu haben.“ – Auf einer Novelle, die dergestalt sinister begänne, läge kaum Segen. Mit Grausen beschlösse die jäh abgeneigte Leserin, immerhin Absolventin mehrerer Volkshochschulkurse zum Thema Gute Damen-Literatur, die Lektüre noch in der duftkerzenbeschienenen, von Vivaldi-Musik umschmeichelten Wellnessschaumbadewanne abzubrechen. „Ein entschiedenes ‚Igitt, nein!’ zu solchem sozialkritischen Autokannibalismus! Es sind ja noch nicht mal Rezepte drin!“ schleudert die vor Unzufriedenheit bebende Lesedame dem unbekannten Autor K. entgegen, der hungrig in seiner Dachmansarde im 5. Stock (ohne Aufzug) sitzt und den Kopf hängen lässt, nicht wegen der strengen Lektüre-Domina, die hat er ja zum Glück gar nicht hören können, sondern aus allgemeiner Geschmacksverbitterung und hirn-ekliptischer Gemütsokkultation.

 * * *

„SPUCKEN SIE BLUT BEIM ZÄHNEPUTZEN?“ – Mit dieser marktschreierisch-aufdringlichen, schamlos verhörerischen Erkundigung hatte den jungen Empfindling schon am Morgen eine Reklametafel für Zahnpasta angefallen und gründlich den Tag verdorben. Solche indezente Herumbohrerei in seiner oralen Intimzone hatte ihn nachhaltig verstört; in seinem Merkbuch für angehende Dichter hieß nämlich eine der ersten Maximen: „Merke, Dichter! / Blut und Eiter/ stimmen niemals heiter!“ – Unbedingte Körperdistanz und strikte Affektkontrolle! – so hatte es ihm einst sein alter, vor zwei Jahren auf einer Kreuzwallfahrt nach Detmold verschollene Traurigkeitslehrer Arnold Winterseel stets eingeschärft. Schon, dass er inwendig lauter Adern besaß, in denen es praktisch ständig blutete und, schlimmer noch, einen meterlangen rosa-bräunlichen Darm, in dem unentwegt Unaussprechliches vor sich ging, kränkte ihn aufs peinlichste und ließ ihn vor Selbstabscheu das Atmen vergessen. Seine fortschreitende Dezenz veranlasste ihn sogar, nachts seine Wortschatzkiste zu durchkramen und gemeine Wörter wie „schleimlösend“, „Brechdurchfall“ oder „Mukoviszidose“ auszusortieren und unter allen Anzeichen des Ekels in den Wäschekorb zu stopfen. – „K.“ ist übrigens natürlich nur ein Künstlerpseudonym, unser Autor heißt bürgerlich Fredi Asperger, eine Name, unter dem er indessen praktisch unbekannt ist.

* * *

Wie mancher zumeist Ungelesene lebt Asperger häufig von frugaler Mangelernährung. Fettfreier Erbsbrei, Trockentoast und Teewurst alle Tage, an hohen Feiertagen vielleicht eine Dose plastinierte Ölsardinen, das ist das Brot der Dichter. Vitamine, Sprudelelemente und ungesättigte Mineralöle? Fehlanzeige! Eine gewisse Dünnhäutigkeit ist die Folge, was freilich der emsigen Verwandlung von Alltagszumutungen in schöne oder auch weniger schöne Literatur förderlich sein kann, in der Mansarde, nach Feierabend. Nur die Plapperkiste muss aus bleiben, denn da kommen zum Abendbrot schon wieder Nachrichten aus dem Verdauungstrakt.

* * *

Zum Glück war der TV-Apparat ohnehin längst entzweigegangen und komplett hin, weil Asperger, von einem Koi-Aquarium bei seinem Eck-Chinesen inspiriert sowie durch eine halbe Flasche Schottenschnaps ein wenig übermütig geworden, einmal während einer öden Talk-Show eine Kanne Blumenwasser hineingefüllt hatte, um zu prüfen, ob die verzweifelt munteren Plaudertaschen im Studio wohl einmal das Plaudern vergäßen und zu schwimmen versuchten, wenn man sie dazu zwänge. Sie vermochten dies aber eher nicht, soweit Asperger dies beurteilen konnte, denn zu seiner schlagartigen Ernüchterung implodierte die Flimmerkiste mit einem unangenehm endgültigen Brizzel-Knall-Geräusch und verriet fortan nichts mehr über das weitere Leben ihrer internen Spaß-Figürchen. – Im Grunde ein Segen, denn Fernsehen verklebt, wie die Ölpest das Gefieder der Pelikane, die Flügel der Phantasie, – mit Ausnahme von Kulturfilmen aus Afrika, zum Beispiel über diesen einen Stamm in Äthiopien, wo sich die Frauen Essteller in die Unterlippe operieren, um attraktiver zu sein. Das lädt freilich endlos zum Träumen ein.

 

Albtraumatlanten

4. Februar 2012

Weiße Flecken in Schwarzafrika

Ich besitze als Erbstück einen gediegenen, sommernachtsblauen Atlanten von 1905, in dem die Welt noch weiße Flecken der Unerschlossenheit enthält, vor allem in Schwarzafrika. Es handelt sich, obwohl er bescheiden unter dem Titel „Handatlas“ firmiert, um einen fast hundsgroßen, mit Goldprägung versehenen 40-Pfünder, über dem zu träumen einen massiven Ohrensessel und sehr starke Knie erfordert. Manchmal weiß man bei einem weißen Fleck auf der Karte nicht auf Anhieb, ob die entsprechende Gegend noch nicht erforscht oder bloß unbewohnt ist. Mich würde dies speziell für das Land Oklahoma interessieren, denn dorthin wanderten die Gebrüder Reinhold und Christoph H., meine Ur-Ur-Großonkel väterlicherseits, aus, und zwar aus Birnbaum, woher sie gebirtich; heute liegt das verträumte Örtchen an der Warthe-Schleife, um Juden und Deutsche sorgsam bereinigt, in der Woiwodschaft Wielkopolskie, Rzeczpospolita Polska, und heißt nun Międzychód. Damit aber genug der geographischen Pedanterien!

Meine beiden Ahnen sind, mangels Wildwesttauglichkeit, leider umgehend, kurz nach ihrer wohlbehaltenen Ankunft, in der Prärie verschollen. Verschollen, das ist übrigens 2. Partizip von „verschallen“, ein Wort, das längst nicht mehr erklingt. Es ist also seinerseits verschollen, das schöne Verb. Ich male mir gern aus, dass die auswanderlustigen Brüder von edelwilden Indianern der Marke Sioux massakriert wurden. Nicht dass ich ihnen das direkt gewünscht haben möchte, aber es wäre irgendwie romantisch und verliehe einem doch ein gewisses Flair, wenn man auf Partys, nachts in der weinseligen Küchenrunde, von einer Familiengeschichte zu erzählen wüsste, in der es von Tragischem und Exotischem wimmelt bzw. strotzt, z. B. von skalpierten Ur-Ur-Großonkeln väterlicherseits. Man wäre berechtigt, kurz und männlich beherrscht aufzuschluchzen, wonach einen möglicherweise Frau Frerkes an den wogenden Busen risse und einem mütterlich tröstend über den Kopf striche!

Wenn ich heute von der Lust überfallen würde, meinem Vaterland den Rücken zu kehren, fände ich Zuflucht auf den Hebriden, wo ich ein Stück Land besitze, einen Quadratmeter Schafsnasengrasnarbe in Küstennähe, eine Parzelle im Nirgendwo, die ich mal als Werbe-Gimmick drauf zu bekam, als ich im Internet eine Flasche sehr teuren schottischen Whiskys erstand. Er schmeckte ungeheuer authentisch nach verbranntem Torf, Salzwasser und Schafsexkrementen – ein Schluck, und man wähnte sich auf den sturmzerzausten Hebriden! Was man trinken muss, um da wieder wegzukommen, ist pauschalschriftlich nirgends erwähnt; man kann sich also ganz individuelle Trinkrouten ersinnen, zum Beispiel mit der MS Verpoorten nach Eierland, von dort den Rumgrogzug nach On-the-Rocks nehmen und dann gemütlich mit dem Riesling-Express wieder nach Hause in den Ohrensessel, wo man traumtrunken erwacht, um sich gnadenreich vage an erlittene Reise-Unbill zu erinnern.

Ein vierzigpfündiger, fast hundsgroßer Atlas eignet sich nicht zum Handgepäck, weswegen ich ohne ihn unlängst eine Traumreise in die Residenz Moers unternahm, um Fleisch und Hemden zu kaufen, ein Marktflecken, der in meinem Traum freilich nicht nur Ausmaße ungeheuerlichster Unübersichtlichkeit angenommen hatte und mit exaltiert Walt-Disney-haften Sakralbauten vollgestellt war, sondern auch einen labyrinthischen Grundriss besaß, so dass ich mein Fahrrad nicht mehr fand und den Weg verlor; unter anderem begegnete mir ein Mensch mit einem grässlichen, rosa-schleimig glitzernden Elefantenfuß, ferner, in einem Kinderwagen, ein Kopf ohne Körper, der jämmerlich vor sich hin greinte, sowie eine Menge durchweg freundlicher Einwohner, die mir den Weg erklärten, nur jeweils immer einen anderen. Wäre ich nicht vom dringlichen Dingdong der Türglocke erwacht, ich würde heute noch, die Hände voll rohem Fleisch und flatternden Hemden, in Moers herumirren.

Als ich jedoch nichtsahnend die Tür öffnete und davor meine beiden in karierte Reise-Plaids gehüllten Ur-Ur-Großonkel standen, mit blutüberströmten Schädeln und einem verlegenen Grinsen im Birnbaumer Bauerngesicht, da schwante mir freilich, der Traum sei noch nicht zu Ende, sondern drohe zum Alb auszuarten.

Filmprojekt Blogbuster

30. Januar 2012

Der Moment der Entscheidung!

„Tränen der Gier II: Der Schatz in der Schute“. – Jonny Perfidel arbeitet als Quereintreiber für die Gemüsemafia in den Docks von Gütersloh. Sein mächtiger Boss, der Gurken-Mogul Ahmad Mahdi, genannt Mad-Mad, vertraut ihm, denn er ist der König der Durchstecher, Schadensschieber und Schnäppchen-Schlawiner. Jonny Perfidel ist unnahbar, ein selten harter Hund, doch er hat eine Schwäche: Des Moguls schöne Tochter Maybelline Mahdi, genannt Baby Maybe-Mad. In die ist er verliebt, denn sie hat ein Herz aus Holz, die Beine eines Feinstrumpfhosen-Models und den Überbiss einer ägyptischen Prinzessin. Jonny hat sich extra für zu Hause einen Tisch schreinern lassen mit Beinen dran wie die von seiner Angebeteten. Kommt er abends nach einen langen gefahrvollen Tag vom Quereintreiben, sitzt er in seiner Penthouse-Mansarde und streichelt versonnen die Tischbeine. Ein Bild subtiler Erotik. Auch er ist ein Mensch und hat Gefühle!

Nun beschleunigt der Film, Konflikte werden geschürzt und Verwicklungen gestrickt: Am Kanal wird eine Schute mit Schnäppchen erwartet, für den Mogul. Es geht um Millionen! Jonny beschließt, sich die Schnäppchen selbst zu schnappen, damit, wenn er mit Baby Maybe-Mad ein neues Leben beginnt, Geld da ist fürs Gardinen-Kaufen, oder was Frauen sonst wollen, Schuhe vielleicht. Die Frage ist, ob das gut geht, denn auch andere gut informierte Kreise wollen an den Rabatt. Mit von der Partie ist sowieso die berüchtigte Polizei von Gütersloh, Bullen wie aus dem Bierbuch, korrupt, superfies und mordsverschlagen. Ihr Auftrag ist Absperren mit Flatterband, Schusswechsel, Handaufhalten.

Die legendäre Gütersloher Dunkelheit bricht herein, notdürftig erhellt von Explosionen, brennenden Limousinen und Mündungsfeuer im Hafen. Es gibt Oscar-nominierte Erregungsmusik von Hans Zimmer, welche die Unübersichtlichkeit der Situation verstärkt. Jonny Perfidel ist derweil in den Matrosenaufzug gestiegen und mischt sich unter die Beteiligten, die größtenteils erschossen am Kai liegen. Im Rumpf der Schute kommt es zum Showdown: Mogul Mad-Mad sitzt auf einer Palette mit Schnäppchen und wartet auf Jonny. „Aha, da bist du ja!“ sagt er. Es kommt zu einem Gespräch unter Männern, also mit Boxen und Schießen, teilweise unter Wasser, denn die Schute, von Schüssen durchsiebt, versinkt in den Fluten, auf denen sinnlose Schnäppchen elegisch ins Dunkel treiben! Während der Mogul und Jonny um ihr Leben paddeln, versuchen sie das Gespräch aufrecht zu erhalten. Es gelingt mit Hängen, Hauen und Würgen.

Am Kai trippelt derweil des Moguls Tochter hin und her und ringt nervenzerrüttet die Hände. „Vater! Vater!“ ruft sie nach links, und „Jonny! Jonny!“ nach rechts. Sie wird sich entscheiden müssen…

 USA/D/DAN, 2012, 120 Min., Regie: Moi. Darsteller: Johnny Depp (Jonny Perfidel), Robert de Niro (Mogul), Katja Riemann (Baby Maybe-Mad) u. v. a.. Musik: sagte ich doch, Hans Zimmer

Das Wesen der Ehe

29. Januar 2012

Altägyptische Hieroglyphe. Übersetzung: Für den Seegurch Mikado-Suppe!!

Samstag: Motte und Nobbler durften noch etwas draußen und flogen zusammen über den Fußballteich. Im Einmachglas dabei: Hans Griebel, Nobblers zahmer Seegurch. „Komm“ frohlockte Motte, „lass uns mal Wirklichkeit spielen!“ – „Ooch, nö, nich wieder … – und welche denn?“ nöl-zögerte Nobbler. – „Na, komm schon! Die harte, ganz grause!“ – „Ach so. Na gut…“ – Schon legte Motte los und setzte sein schlimmstes Besorgnisgesicht auf, Mundwinkel unters Kinn geknöpft, und machte so jämmerlich „uuh, ooh, uuh, ooooh!“ dazu, dass der Seegurch erschrocken aufquiekte. „Jetzt müssen wir rasch einen nachhaltigen Geredeschirm spinnen“ bibberte Nobbler, vom Elend der Wirklichkeit betroffen,  und bohrte suchend in der noch kindlich unentwickelten Stupsnase, „damit wir Vertrauen haben. Vertrauen ist nämlich total wichtig! Und auch Wachstum noch!

Motte hatte indes von der Fernseh-Muhme ein niegelnagelneues Blödwort dabei, das jetzt passte: „Ich denke,“ er sog an seiner imaginären Grübelpfeife, „wir sollten auch in der Fläche breit aufgestellt sein...“  Nobbler schob bereitwillig das Bäuchlein vor, um sich breit aufzustellen, nur mit der Fläche haperte es noch einstweilen. „Wir müssen aber auch nach vorne schauen“, schlug er deshalb vor. Besinnliches Schweigen. Eine Weile schauten sie beide nach vorne. Hans Griebel auch. Dann wurde das aber allen fad, denn dort vorne gab es wirklich gar  nichts zu sehen.

Wirklichkeit ist ein ziemliches scheiß Spiel, und überhaupt mehr was für Mädchen – darüber wurden sie alsbald einig und stülpten stracks ihre Antennenmützen aus dem Metaphysikunterricht über, um etwas Himmelsfunk abzuhören, Mangoldengel, Rauschgoldflittchen, Gesänge aus der Offenbach-Offenbarung, das ganze Programm für kleine Visionäre. Hans Griebel bekam die hölzernen Kopfhörer über. Seegurch-Propheten kommunizieren im Unterholzbereich, niedrige Sequenz-Frequenzen, einfache Sprache, große Buchstaben. – Nachdem Samstagabend-„Hosiannah!“ erscholl ihnen aber selbdritt die Stimme des Höchsten: „Wahrlich, es wird eine Zeit kommen, da ihr Käsestullen essen sollt!“  Nobbler hatte zwar „Creme-Schnittchen“ verstanden und der Seegurch schwor, es müsse „Gräten-Rollen“ heißen, aber egal, ein Hörfehler ward ökumenisch ausgeschlossen: Religion macht alle Klein-Gläubigen hungrig. – „Ey, Leute, mal herhörn“, krähte Motte enthusiastisch, „doppelter Hoppel-Galopp! Wer erster im Heim ist!“

Derart lustig flogen die Beine und schepperten die Schulterblätter, dass dem Seegurch in seinem Glashaus die Karussellen klingelten, oder, um ein billiges Wortspiel auf seine Kostenstelle zu setzen, ihm wurde ganz griebelig. Erhitzt, mit quatschnassem Schuhwerk und glühenden Ohren traf man im Turboläum ein, dem Internat für Knaben aus katholischer Bodenhaltung. Die Herbergsmutter, Frau Frerkes, schimpfte pflichtschuldigst ein wenig über die lehmigen Klotschen, schmunzelte aber doch dann gütig durch die Finger und schmierte ihren Rackern Margarinebrote mit Käse – so war es ja geweissagt, im Himmelsfunk! Für Hans Griebel gab es Mikado-Suppe, dann ab ins Regal, Schlafenszeit für Gurchi.

Auch Nobbler und Motte holten sich bei Pastor Meyerbeer, dem Traum-Kastellan, ihr täglich-nächtliches Schippchen Abend-Segen, tranken im Schrankbett noch einen Hustentee mit Honigseim und verklebten die Finger zum Nachtgebet. „Wenn ich groß bin, heirate ich vielleicht Mutter Frerkes“, verkündete Nobbler träumerisch ins Dunkel. Motte lachte sich scheckig! „So’n Quatsch, Mann!“ prustete er, „dann wärst du ja ein voll schwuler Ödipus, Blödi! Nee, da geh ich lieber nach Hammurch-St.Pauli, als Profil-Boxer!“ – Knabengespräche halt, wie sie so oder ähnlich wohl überall geführt werden, wo Gottvertrauen, Unterwasserfußball und schwellende Säfte zusammenprallen. „Mann, Mann, Frau Frerkes, die ist mal bummlich achtunnfuffzig!“ murmelte Motte noch, aber Nobbler war schon eingeschlafen und träumte von Bergen von Bratkartoffeln. – Ach, wehe, sie kommt nicht wieder, die schöne, sorgenfreie Knabenzeit! – Im Traum war Motte übrigens Freigeist, er träumte, er sei ein freigrüner Posaunenpilz und fräße kleine Mädchen. Als Pointe zu schwach, aber in sozialer Hinsicht auch nicht unbedenklich! Freund Nobbler indes träumte von erregenden Bratkartoffel-Verhältnissen. Er war der frühreifere von beiden. Er wusste vom Wesen der Ehe!