Posted tagged ‘Tod’

Raucher-Kino

18. Juli 2012

Ich hätte das gar nicht so gedacht, aber was in mir doch unerwartet heftige nostalgische Emotionen und verblüffende Anheimelungsempfindungen auslöst, sind alte Filme, in denen noch völlig selbstverständlich, normal, permanent und mit Nonchalance sowie konzentrierter Gewissenhaftigkeit geraucht wird, und zwar gleichermaßen von harten Jungs wie attraktiven Mädels. Herrlich! Zum Beispiel in „Haben und Nicht-Haben“ („To have and have not“), einem Schwarzweißfilm aus, ich glaube, den 50ern, mit extra viel hartem und lakonischem Hemingway-Feeling, klopft die damals zweiundzwanzigjährige, höllisch attraktive Lauren Bacall an die Tür von Humphrey Bogart, eine unangezündete Zigarette in der Hand, und als er öffnet, wedelt sie knapp und nervös damit und haucht extrem anfackelnd heiser: „Hi! Got a match?“  Klar, hat er natürlich. Männer ohne Feuer waren noch gar nicht erfunden.

Diese Szene ist von derart gänsehauterregender Tabakerotik, dass sie sich meinem Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt hat. Das wird wahrscheinlich mein Anmachspruch im Alzheim: Ich werde zu nachtschlafener Zeit im flanellenen Pyjama an die Zimmertür von Frau Frerkes klopfen, und wenn sie noch aufmacht, werde ich verschwörerisch flüstern: „Got a match?“ Sicherheitshalber, falls sie komisch guckt, werde ich hinzufügen: „Das ist ein Zitat!“ – Das mach ich bei der Gattin nämlich auch immer. Wenn ich was Schräges äußere und sie guckt mich an, als hätte ich frisch den Verstand verloren, erläutere ich immer: „Das ist ein Zitat!“ Manchmal ergänze ich: „Nämlich aus einem Bob-Dylan-Song von 1963!“ Die Gattin erwidert zumeist lakonisch: „…Aha.“ Es wären natürlich enthusiastischere Reaktionen denkbar.

* * *

Elliot Gould als Phillip Marlowe („Ah! Also mit gottverdammt schwulem ‚e’ hinten“, sagt Mafia-Boss Marty Augustin im Film) raucht in „The long Goodbye“ absolut permanent und ohne Kompromisse in ausnahmslos JEDER Szene. Ich glaube, selbst beim Schlafen hat er eine Selbstgedrehte zwischen den Lippen. Noch schärfer aber: Selbst während er im Schweinsgalopp und schweißgebadet zu Fuß einen davonbrausenden Cadillac verfolgt, klebt dabei eine qualmende Kippe in seinem Mundwinkel. Sowas von cool! Er ist praktisch der einzige Marathon-Läufer, den ich kenne, der beim Rennen rauchen kann! Gott gebe uns solche Männer zurück!

* * *

Ebenfalls in schwarz-weiß ist Jim Jarmusch’s Cineasten-Kult-Film mit dem programmatischen Titel: „Coffee und Cigarettes“. In diversen Episoden treffen sich je zwei oder drei ziemlich coole Personen in miesen Kneipen, trinken viel Kaffee und rauchen dabei nach Leibes- und Lungenkräften. Wie der Titel ja schon sagt. Dazu reden sie irgendwas. So Zeugs halt. Manchmal ist das komisch, manchmal fragt man sich: Was soll’n das? Am Anfang gibt es eine sehr lustige, absurde Szene, in der Roberto Benigni mit irgend so’nem Komiker zusammentrifft. Titel der Szene: „Strange to meet you.“ Schon mal ganz gut, oder? Am schönsten aber doch die Begegnung von Iggy Pop und Tom Waits. Zwischen ihnen liegt eine von irgend einem Gast vergessene volle Schachtel Marlboro. Sie bieten sich gegenseitig eine Zigarette an und lehnen mit der exakt gleichen Begründung ab: „No, thanks, man, i’d just quit smoking time ago.“ Sie beglückwünschen sich gegenseitig zu der Rettung vor dem Gift, dann nehmen sie jeweils irgendwann doch eine Kippe, mit der von Tom Waits erfundenen Logik: „Well, we’d quit smoking, so we can have a cigarette without danger, don’t ya think?“ Für den Rest der Szene qualmen sie wie die Schlote, was kein Problem ist, denn sie haben ja längst mit dem Rauchen aufgehört.

* * *

Den besagten Film mit Elliot Gould guckten die Gattin und ich gemeinsam, aber noch in getrennten Wohnungen, dafür wie immer telefonisch fest verbunden. „Ja, ist ja natürlich klar, warum du den Film toll findest!“ sagt die Gattin ein bisschen sarkastisch. „Dieser ganze Anti-Helden-Kram, und dann raucht der noch ständig!“„Und? Fandest du den Film denn nicht gut?“„…doch, … doch. Schon irgendwie.“ – Na, also. Seien wir ehrlich: Lieber Lauren Bacall beim Rauchen als irgend so eine anorektische Botox-Queen beim Salatblätter-Kauen.

* * *

Natürlich kann auch heute noch in Hollywood-Filmen geraucht werden, aber dann mit deutlich spürbaren Anführungsstrichen. Die Leute rauchen und vermitteln dabei pantomimisch: „Ich rauche nicht WIRKLICH! Dies ist ein historisches Zitat aus den gruseligen 60ern! Ich symbolisiere lediglich den damaligen verantwortungslosen  Zeitgeist!“ Auf diese Weise rauchen etwa die Leute in der preisgekrönten, vom Feuilleton geliebten Serie „Mad Men“. Diese Art ironisches Rauchen geht mir noch mehr auf den Zeiger als demonstrierter Diät-Wahn. Ausdrucksrauchen ist so sinnvoll wie Sport-Angeln. Das eine wie das andere: eine Beschäftigung für feige Männer, die sich vor dem Tod fürchten. Insgeheim hoffen sie, dieser würde sie aufgrund ihres gesunden Lebenswandels vielleicht übersehen. Das aber, verehrte Gemeinde, gehört zu den richtig unwahrscheinlichen Ereignissen im Leben, das dann am Ende ja doch tödlich ausgeht. Selbst wenn du aussiehst wie das sprichwörtliche „blühende Leben“. – Was ich an Humphrey Bogart gut finde: Er ist schon lange tot, aber man hat nicht den Eindruck, dass es ihm allzu viel ausmacht.

Werbung

Nachtod-Erfahrung (Unter Hirnis)

30. November 2011

Junge Leute auf der Suche nach ihrem Selbst (Foto entliehen von: http://www.yorkchristophriccius.de/)

Bekannte von mir, die religiöse Präferenzen ihr Eigen nennen, machen sich Gedanken über das Jenseits, wo sie, wie sie glauben, später mal hinkommen. Ich kann sie indes beunruhigen: Man befindet sich schon zu Lebzeiten dort! Man führt bereits eine Vielzahl von Existenzen im Jenseits  – in den Köpfen gänzlich wildfremder Menschen nämlich.

* * *

Vor Jahren, als mein schwaches Ego noch nächtlicher Kompensation bedurfte, träumte ich gleich mehrmals hintereinander, irgendwo in einem entlegenen Bergdorf im Kaukasus, vielleicht war’s Aserbeidjan, Armenien oder Tadschikistan, stünde ein überlebensgroßes Bronzedenkmal von mir, da ich unter den derben Berglern dort nämlich quasi-religiöse Verehrung genösse. Die Gründe hierfür ließ der Traum trotz intensiver Nachfrage hartnäckig im Dunklen, sodass ich wochenlang ganz klamm, bang und steifbeinig durch den Alltag schlurchte, immer in der Furcht, ich könne evtl. der in der Fremde genossenen Ehre mich unwürdig erweisen.

* * *

In Wilhem Genazinos wunderlicher Angestellten-Romantrilogie „Abschaffel“ gibt es eine Szene, die sich mir seit Ende der 70er unauslöschlich in die Seele einbrannte: Protagonist Abschaffel wird auf dem Frankfurter Römer von einer japanischen Reisegruppe gebeten, sie zu fotografieren. Nachdem er diesen Dienst freundlich erwiesen, wird er von den Japanern zum Dank ebenfalls geknipst – worauf er in eine träumerische, aber auch metaphysisch-abgründige Meditation darüber verfällt, wie nun demnächst sein Bildnis durch japanische Wohnzimmer zirkulieren und fremdartigen Kommentaren ausgesetzt sein würde, die Abschaffel sich hilfsweise mit einem ad hoc erfundenen Phantasiejapanisch anschaulich macht.

* * *

Kürzlich stieß ich durch Zufall im Netz auf diverse Kommentare, die man unter Zitate von mir geschmiert  gepostet hatte.  Ein meinungsfreudiger Jungspund wusste, unbekannterweise („ich kenne den nicht“) über mich, ich sei „ein unfassbarer Depp“, überdies „ein Vorzeige-Antideutscher“ und „ohne Witz“. Ein anderer Krakeeler Diskussionsteilnehmer, der m. E. für den nächsten Zivilcourage-Bambi nominiert werden sollte, äußerte folgende freie Meinung: „So viel sinnentleerten Müll auf einem Haufen habe ich noch nie zu Gesicht bekommen (ich habe mir 6 Beiträge des sog. Magister Kraska ‘angetan’ um mir ein Urteil bilden zu können und es grenzte an Körperverletzung! ).“ Worauf er, der schwer Körperverletzte, einen heroischen Entschluss fasste: „…wenn ich Schwachsinn erkenne, nehme ich mir die Freiheit, als freier Bürger eines freien Landes meine Meinung dazu frei heraus zu äußern.“ Die Freiheit nimmt er sich! Trotz aller Repressalien, die er als anonymer Pöbelhannes von mir zu gewärtigen hat! Ganz schön mutig!

* * *

Im Ernst: Ich finde solche Freiheiten legitim und billige sie. Es ist ein Vorrecht der Jugend, kurios Opa-Obsoletes wie Höflichkeit für eine negliable Überschätzheit zu halten. Im übrigen ist mir der Verdacht, eventuell ein „unfassbarer Depp“ zu sein, auch schon öfter gekommen, wobei freilich anzumerken wäre, dass ich mich zumindest aus intimem Umgang persönlich ganz gut kenne und sogar fast alle meiner Beiträge selber gelesen habe.

* * *

Mir geht es hier mitnichten darum, Präpotenz, Impertinenz und Ignoranz junger Menschen zu geißeln – so etwas geißelt man doch nicht! Da schmunzelt man gütigst verzeihend – , sondern um die mit so etwas verbundene Nachtod-Erfahrung. Denn Todsein, ich glaube, Jean-Paul Sartre hat das mal ausgeknobelt, heißt, sich nicht mehr wehren können. Man führt ein gespenstisches Eigenleben in den Köpfen von fremden Hirnis, Köpfen, die nicht notwendig zu den aufgeräumtesten gehören, Köpfen von geistigen Hooligan-Pyromanen etwa, kaukasischen Bergbauern oder japanischen Deutschlandtouristen, oder in den Köpfen von jungen Menschen, von denen man hoffen darf, dass sie dereinst sich vor die Stirn schlagen und ausrufen: „Was war ich früher für ein unfassbarer Depp!“

* * *

Diese Köpfe bilden das Jenseits. Dort spukt man in bizarren Gestalten herum und kann absolut nichts machen. Ich persönlich denke, so ist das Bedürfnis nach einem allwissenden Gott entstanden: Man möchte doch wenigstens EINEN Kumpel haben, dem man sagen kann: „Hey, du weißt es, Alter! Du kannst das bezeugen: Ich bin ganz anders!“

 

Elefantenbeerdigung. Schweigen oder Schreien?

25. Juli 2011

Musik: Gustav Mahler

Ist dies ein retrograder, die Vergangenheit verklärender Wunschtraum, oder gab es das in meiner Kindheit tatsächlich einmal? Dass das Radio – Fernsehen spielte noch kaum eine Rolle –, bei wirklich erschütternden Welt-Ereignissen, stundenlang bloß getragene Musik spielte? Knapp und beherrscht, sozusagen mit schwarzer Krawatte in der Stimme, wurden die Nachrichten verlesen, dann gab es Chopin und Brahms zum Nachdenken und In-Ruhe-Traurigsein. Wer nicht traurig war oder keine Lust auf Nachdenken hatte, schaltete das Radio halt aus oder er konnte Radio Moskau einstellen, wo eine Dame mittleren Alters jeden Abend gleichmütig kryptische Zahlenkolonnen in den Äther murmelte, welche von Spionen draußen an den Weltempfängern beflissen mit unsichtbarer Geheimtinte auf spezielle Spickzettel notiert wurden.

Als älteres und etwas verschrobenes Kind pflegte ich meine Weltverzweiflung – Gothic, Grunge und TripHop gab es ja noch nicht – gern z. B. mit dem Trauermarsch aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie in cis-moll zu untermalen bzw. zu bestätigen. Freilich, dieses Sahnestück trauermusikalischer Monumentalsymphonik ist so pastos-pompös und Pathos-gesättigt, dass ich mich beim Anhören immer unwillkürlich auf einer Elefanten-Beerdigung wähnte, auf der endlose Reihen solcher imposanten Rüsseltiere in traumverloren retardiertem, tonnenschweren Trampeltrott zu Paukenwirbeln, wienerischem Geigen-Weinen und gelegentlichen, herzzerreißend dissonanten Posaunenstößen aus ihren anklagend hoch geschlenzten Rüsseln zum Friedhof walzten, und dann musste ich fast schon wieder ein bisschen lächeln.

Die tägliche Medienmahlzeit war noch frugal und der Seelenhaushalt dementsprechend schlank und beweglich. Heute wird von Print, TV und Internet auch jede noch so winzige Denkpause mit einem übel riechenden, klebrigen, hirnzersetzenden Geschwätz vollgekübelt. Voll aufgedreht sind die Phrasophone und Trivialtrompeten und ergießen routiniert und gnadenlos ihre Plapperkaskaden, in Livetickern und Leid-Artikeln, ihren würgenden Brei aus Tränensülze und zähem Worthülsenstroh, der nichts offenbart als die sinistre Geistesferne, Gemütskälte und Herzensleere eines sich um sich selbst drehenden  Apparates. Getrieben von der Logik des Sensationellen und ausgepumpt von der Inflation der Superlative, ist alles, vom Tsunami über das Loveparde-Desaster bis zum Massaker in Norwegen selbstredend eine „unfassbare Tragödie“ und eine „unermessliche Katastrophe“, nach der „das Land sich verändern wird“ und, natürlich, dumpfes Orakel, vor allem „nichts mehr so sein wird wie zuvor“.

Die Redundanz dieser Phraseologie entspringt nicht so sehr – wenn auch im Einzelfall evtl. schon –  der lähmenden Denkfaulheit von Redakteuren, Leitartiklern und Reden-Schreibern, sie ist dem System der Massenmedien inhärent wie ein unausrottbarer Herpes-Virus. Dessen Grundfluch liegt in dem Zwang, keine Minute innehalten zu dürfen; selbst während mühsam aufgebrachter Schweigeminuten läuten wenigstens die Kirchenglocken oder werden notfalls Bilder von Schweigenden gezeigt, vielleicht, damit man sich daran erinnert, was es eigentlich noch mal hieß, die Klappe zu halten. Neben dem horror vacui, aus dem heraus gegen das erschütterte Schweigen, gegen die Angst vor dem Sterben und das Vordringen des Nichts angelabert wird, hat das Elend mit der Armut der Sprache zu tun. Es gibt ein Entsetzen oder eine Erschütterung, dessen Gewalt sich nicht in Worten ausdrücken lässt. Dafür brauchte man ein Saxofon, eine E-Gitarre, einen Schrei, so unartikuliert und seelengepeinigt, dass alles Gerede daneben verstummt.

So einen Schrei oder so ein Schweigen für ein paar Stunden zu übertragen wird sich gewiss kein Redakteur überreden lassen, schon klar. Das Innehalten ist unwiederbringlich dahin. Wie eine palavernde Affenherde müssen wir alles bis zum Überdruss beschwatzen, solange, bis wir knöchelhoch in leeren Worthülsen waten, bis uns das Geröll, der Müll, das Gerede bis zum Hals steht.

Die alten Griechen, unter denen ich, gymnasial bedingt, aufgewachsen bin, führten einmal im Jahr, zum Dionysos-Fest, Tragödien auf. Sie waren zwar wuchtig und aufwühlend, aber durchaus nicht „unfassbar“, sondern dienten im Gegensatz gerade dazu, das Grauen und die Tragik des Existierens fassbar zu machen. Tragödie, das heißt wörtlich „Bocksgesang“ und war der Beschwörung des doppelgesichtigen (und bocksgestaltigen) Fruchtbarkeits- und Todes-Gottes Dionysos gewidmet, dem fremden Gott aus dem Osten, der zügellos zeugte und zertrat, was sich ihm in den Weg stellte. Ich stelle mir vor, die Zuschauer im Theatron haben dabei geweint, geschrieen und Sonnenblumenkerne gegessen, deren Schalen sie zwischen die Sitzreihen spuckten. „πολλ τ δειν κοδν νθρώπου δεινότερον„, sang der Chor die Worte des Sophokles: „Ungeheuer ist vieles, doch nichts ungeheurer als der Mensch“. Die Athener nickten ergriffen, seufzten vier Tage lang, dann wandten sie sich wieder ihrem Tagwerk zu – der Beraubung, Plünderung, Schändung und Ermordung ihrer Nachbarn.

– Und jetzt Musik.


Müll & Metempsychose (Materie am falschen Ort)

9. Juli 2011

Materie am falschen Ort: Wiedergeboren als Müll

Metempsychose ist ja gar nicht, wie ich früher geglaubt habe, eine Geisteskrankheit – es bedeutet bloß Seelenwanderung! Pythagoras, der bekannte Erfinder der Dreiecksbeziehung, so erfuhr ich jüngst, glaubte zum Beispiel, man werde fünf Mal geboren, als Mensch, als Tier, als Pflanze, als Ding und als noch irgendwas (nachschlagen!) Vielleicht als Müll? Nein, das kann nicht sein, denn Müll ist ja gar nicht „etwas“. Müll ist vielmehr, wie der Alltags-Semiotiker im kulturanthropologischen Seminar gelernt hat, ähnlich wie „Schmutz“ eine rein relationale Kategorie und bedeutet bloß: Materie am falschen Ort. Über Müll und Metempsychose nachzusinnen, ergibt sich im Geddo reichlich Gelegenheit:

Auf Fahrradpatrouille im Viertel, in lauer Sommernacht, einer sanft entdämmernden schon, in der geheimnisvollen, sehnsuchtsgeschwängert parfümierten blauen Stunde vager Verheißung und unerwarteter Begegnungen, sah ich mich kürzlich am Eck vor dem aufgelassenen Orientcafé unversehens konfrontiert mit einer kapitalen, überaus wohlgenährten und äußerst selbstbewussten … Ratte. Beide wie gebannt wechselten wir, kurz geschockt, wie ertappt, einen langen Blick gegenseitiger Aversion. Dann drehte sie, die Ratte, mir, immerhin der verbrieften Krone der Schöpfung, betont langsam, geradezu pampig arrogant, das fette Hinterteil zu und hoppelte aufreizend träge, in diesem typischen hüftsteifen Humpelgang ihrer Gattung, davon, um sich in ihren komfortabel geräumigen Müllhaufen (zwei Etagen, mit Terrasse, Gäste-WC und Boulevardblick) zurückzuziehen…

Normalerweise erweise ich der sublunaren Tierwelt ein von Sympathie und Neugier, gelegentlich von biedermeierlicher Rührung grundiertes Interesse und nehme schmunzelnd zur Kenntnis, dass nicht jede Spezies in Gottes Schöpfung mit Niedlichkeit ausgestattet ist und zu Streicheleinheiten einlädt, was indes natürlich dennoch schade ist und ein Desiderat bleibt, weil, so haben Forscher herausgefunden, das Streicheln gerade niedlicher Tiere (u. a. auch Menschen-Babies!) im Menschen das Hormon Oxytocin freisetzt, was nicht nur Geburten erleichtert und den Milchfluss der weiblichen Brust befördert, sondern auch ganz allgemein soziale Interaktionen begünstigt, da es, das Hormon, freundlich und kommunikativ stimmt.

Wiewohl im Herzen Punk, bin ich persönlich allerdings nie auf die Idee gekommen, eine Ratte zu streicheln, zumal dies bei mir, aus einem archaischen, vielleicht sogar epigenetisch verankerten Reflex wohl lediglich Adrenalin und nackte Mordlust freisetzen würde, denn der Ratte bin ich unerklärlich abhold, ich perhorresziere dieses Tier, ich lehne es ab, ich will, dass es weggeht, weil es mich an Mittelalter, Pest und Schwarzen Tod, an Nosferatu und Albert Camus erinnert! Aus Gründen, die Professor Freuds Schüler aus meinen Neurosen oder archetypischen Ängsten herausdröseln mögen, gilt mir sowohl die gemeine Haus- wie die schlankere Wanderratte als Metapher metaphysischen Unheils, vielleicht nur noch mit der fett schillernden, dicken Schmeißfliege vergleichbar, die mich taktlos umschwirrt und indezent gierig auf meinen Tod wartet, um mir, kaum habe ich meine Seele Gott oder dem Nichts befohlen, ihre scheißblöden Eier in meine gerade erst blicklos gewordenen, noch tränenfeuchten Augenhöhlen zu legen.

Eine Ratte aber ist, emblematisch und übercodiert, der Inbegriff drohender Daseinsverdüsterung!  Einmal, früher, als mein Lebenslauf bedrohlich ins Stocken & Kleben geraten war, lag, schwer wie eine Metapher von Günter Grass, eine tote Ratte vor meinem Fenster auf dem Flachdach. Weder konnte ich sie da wegmachen, da ich mich enorm ekelte, noch konnte ich sie dort liegen lassen, weil sie nachhaltig, durch ihre bloße Präsenz, mein Gemüt bleiern beschwerte. Drei Tage haderte ich, bis es mir gelang, den Kadaver zu entsorgen, zitternd vor Abscheu. Aber siehe: Danach ging es in meinem Erdendasein wieder vorwärts, ich lernte eine unerschrockene Frau kennen, die ich heiraten durfte, und alles wurde gut! Das Leben setzte die Segel!

Gewisse Spezies, wenn sie uns auf die Pelle rücken, Wanzen, Läuse und Ratten etwa, geben uns den diskreten Hinweis, dass es bei uns mit der Hygiene nicht zum Besten bestellt ist. Massives Auftreten dieser Gattungen im urbanen Raum indiziert kulturellen Niedergang. Wir werden an den durch Rainer Werner Fassbender thematisierten Dreiklang erinnert: der Müll, die Stadt, der Tod, die drei apokalyptischen Reiter, die allabendlich durch mein Geddo traben. Niemand würde Ratten verübeln, irgendwo in stadtfernen regionalen Feuchtgebieten herumzuwuseln und sich in Gottes Schöpfungsplan irgendwie nützlich zu machen; hier, im urbanen Raum unseres Viertels mit internationalem Flair, wo allerhand Kinder sich verzweifelt bemühen, wenigstens aufzuwachsen, erscheinen sie, die Ratten, mir exorbitant fehl am Platz.

Bedenkenswert ist, dass der längst verblichene reaktionäre Krawallpolitiker Franz Josef Strauß gerade uns, die vorlauten, irgendwie jüdisch-zersetzenden Intellektuellen, dereinst als „Ratten und Schmeißfliegen“ titulierte. Ich wäre weder das eine noch das andere gerne, würde ich seelenwandernd (psychic walking) wiedergeboren. Und was wäre ich gern als Ding? Ein frivoler Vibrator? Ein bescheiden dienstfertiger Schuhlöffel? Ein mysteriöses Fässchen Amontillado? Angesichts meines Lebenswandels fürchte ich, als Müllhaufen wiedergeboren zu werden. Immerhin wäre die Kontinuität gewahrt: halt Materie am falschen Ort.

Here’s to the last working heroes

13. Januar 2011

Als ich vor zwei Jahren ins Geddo emigrierte, war das Hausbesorger-Ehepaar Elly und Pitti L* (*Name geändert). mein erster Kontakt. Nicht, dass wir uns spontan mochten. Die letzten autochthonen Deutschen im Viertel  hatten Schwierigkeiten, den spröde-mysteriösen Magister einzuordnen, der aus einer fremden Welt in die ihre geschneit war, ohne einen nachvollziehbaren Grund – und ich, na ja, mochte gewisse Blockwart-Allüren nicht so. Ich schätze es nicht, wenn man im Altpapier meine Post filzt, gerade weil es sich nur um Mahnungen handelt.

Allmählich lernte ich ihre grunddeutsche Wachsamkeit und nie erlahmende Neugier aber doch zu schätzen: Manchmal ließ ich (mitten im Geddo!) mein Fahrrad versehentlich über Stunden unverschlossen vor der Tür – doch kein Problem: Elly und Pitty hatten ein Auge drauf. Sie wussten, wann ich das Haus verließ, wohin ich ging, und Pitti hatte irgendwann auch keine Bedenken mehr, mich regelmäßig zu fragen, wann ich denn wiederkäme. Wie Mutti!

Pitti ist ein Goldstück in unserer Sekte der USA (Unspezifischer Alkoholiker). Seitdem er, nach 45 Jahren im Job, das LKW-Fahren drangegeben hat, strukturiert er seinen Tag durch drei Gänge zur Trinkhalle. Zwischendurch verkasematuckelt er seine Pilschen, still, sanft, ohne Randale, zumeist schweigsam im Hausflur am Fenster sitzend, auch im Dunklen, in melancholische Meditation versunken. Jedesmal, wenn ich abends zur Arbeit aufbreche, höre ich seine Grabestimme, die aus dem finstren Treppenhaus flüstert: „Erschrick Dich nicht!“ – „Nö, Pitti„, antwortete ich dann regelmäßig, „ich erschreck’ mich höchstens, wenn du mal nicht mehr hier sitzt!“

In letzter Zeit saß er aber schon immer seltener im Flur. Elly, seine hyper-vitale, energie-sprudelnde, ein bisschen furchteinflößende  Frau mit Mutterwitz und Haaren auf den Zähnen, die wieselig fleissige ehemalige Schuhverkäuferin wurde irgendwie krank und bettlägerig. Wenn ich sie, alle paar Wochen, mal im Hausflur traf, schnürte es mir das Herz ab. Sie sah aus wie ein verhungerter KZ-Häftling. Nur ihre Augen glühten noch, aus tiefen Höhlen. – Pitti ist kein Bescheidwisser; er gehört zu den Leuten, denen nie jemand etwas sagt, erklärt oder klarmacht. Dass seine Frau immer weniger wurde, am Ende nur noch 38 Kilo wog, registrierte er mit bekümmerter Ratlosigkeit. Treu und ergeben chauffierte er seine Gattin alle zwei Tage „nach’m Arzt“. Was genau „Chemo“ ist, hat er nie kapiert.

Dafür hat er bei mir den understatement-award 2011 gewonnen. Letzten Sonntag unterhielten wir uns abends im Treppenhaus ausgedenht über häusliche Müll-Angelegenheiten. Ich hatte nämlich Mülldienst, und Pitti ist der Obermüllwart unseres Hauses. Nachdem wir alle Details besprochen und erörtert hatten und ich mich verabschieden und schon abwenden wollte, sagte Pitti mit zittrig- wackliger Stimme nachdenklich: „Reinhard, Hömma! Die Frau geht das nich so gut...“ – „Klar, weiß ich doch…“ wollte ich entgegnen, da fügte Pitti noch etwas leiser und resignierter hinzu: „Wir warten gezz, datt’se einschläft“.

Drei Stunden später, um Mitternacht, so höre ich, war sie dann tot, nach 42 Jahren harter Arbeit und zwei Jahren Rente. Meine Serben-Freunde sagen, sie hätten Pitti gestern auf der Straße gesehen, abgemagert, schlohweiß geworden, und er weinte, oder, wie Milan, der Bosnier sagte: „Er wainte, wainte und wainte…“.

Aach, Leute…

In Muttis Nippeshimmel

24. September 2010

Im "Geddo" noch präsent: der Nippes-Himmel

Ohne existentiell düstere Laune verbreiten zu wollen – ich beneide ja die hinterbliebenen Leute nicht, wenn ich mal plötzlich unerwartet und todsicher „auf tragische Weise“ zu früh tot, pardauz und zuschanden ginge. Wie ich mich kenne, kommt Gevatter Tod zu mir nämlich irgendwann so überhastet, dass ich „vorher“ nicht mehr zum Aufräumen gekommen bin! – So, nun stehen besagte Erben, von meinem Hinscheiden eh schon genervt und in ihrem Alltagstrott gestört, fassungslos in meinem halb-klandestinen Wohnschlafbüro im „Geddo“ („Gott! Was trieb der denn hier bloß!“), lassen den Blick über hochstapelnde Bücherberge, undurchsichtig heterogene Papierhalden (Pizza-Bestell-Service-Flyer, Nietzsche-Auszüge, Einkaufszettel, inhaltsleere Verpackungen, Schopenhauer-Porträts und Gebrauchsanweisungen etc.), ferner längst ausgelöffelte Ölsardinen-Büchsen und vor langer Zeit schon ausgetrunkenes, noch nicht eingelöstes Leergut schweifen (so weit dass auf 55qm geht) und murmeln unisono: „Ach du Scheiße!“ – Es gibt, wie ich vom Hinscheiden meiner verehrten Frau Mutter weiß, kaum etwas Deprimierenderes, als den versammelten Lebensschrott eines mehr oder minder ja doch geliebten „Nächsten“ entsorgen zu müssen. Weil aufheben kann den Müll doch keiner!

Wer in meinem Nachlaß zu wühlen hätte, tut mir jetzt schon leid! Der einzige Vorteil am Dasein eines veritabel berühmten Schriftstellers ist, daß man seinen aufgehäuften Schatz resp. Schrott noch zu Lebzeiten dem Marburger Literatur-Archiv vermachen und dafür sogar auch noch Kohle abgreifen könnte. Als hingegen lebenslang vollkommene Unberühmtheit genießender privater Kleinkunstgärtner besitze ich indes leider keinen Nachlaß, auf den sich begierig Germanisten-im-Hauptstudium stürzen würden, um angemessen ergriffen über meine hinterlassenen Einkaufszettel zu promovieren: Angewidert müsste man sich vielmehr durch Berge wirren Geschreibsels, kompromittierender Fotos und abstoßend schweinischer Videos („nur zu Studienzwecken!“) kämpfen; man verletzte sich an unbekannten, aber durchaus tödlichen japanischen Waffen, überflöge Papierfetzen mit obskurer Zen-Lyrik, entzifferte kryptische Philosopheme („Der Übermensch wäre letztlich auch bloß ein Arschloch!“) und durchstöberte Konvolute von auf Haftnotizzetteln gekritzelter Selbstermahnungen („Ab Morgen unbedingt weniger trinken!“, „Idiot! Auf Droge schreibst du auch nicht besser!“, „Mal endlich Müll runterbringen!“, „Morgen kommt die Putzfrau! Saubermachen!“), so daß man es bald satt hätte und den kompletten Schamott herzlos in einen Container schaufeln würde. Sic transit gloria mundi!

Während meine präsumtiven Hinterlassenschaften den schon zu Lebzeiten umgehenden Zweifel an meinem Charakter bestärkten, bestätigte dereinst die Besichtigung der Wohnung meiner verstorbenen Mutter (Ihr Gott habe sie selig!) unsere Ahnung, daß unsere bereits früh verwitwete, deshalb um so langlebigere Mama im Alter einer einzigen, zwar lässlichen, aber doch auch verschärft lästigen Leidenschaft frönte: der sorgfältigen, zuletzt aber auch manischen Akkumulation von Nippes. Und zwar, konkreter: Nippes, Nippes, Nippes! Sowie das ganze zum Quadrat!

Von einer ziemlich irren metaphysischen Panik getrieben, ertrug sie keinen Quadratzentimeter leerer Wand: Niedlichkeitsvortäuschende, neckische Setzkästlein mit dekorativen Miniatur-Dingelchen, verstaubte Strohblumenkränze, stumpf gewordene Zinnteller, Porzellan-Harlekine, herzige Engelsköpfe, semi-künstlerische Schmuckkacheln, dito Aquarelle, profane Paris-Reise-Souveniers, privat-familiäres Andenkenzeug, unerfindliche Memorabilien, Duft-Kerzchen, Schmuck-Väschen, Deko-Flakons, Duftbeutelchen, Kinderfotos, Kalenderspruchkalender, Kruzifixe (die karge, immer an Barlach erinnernde protestantische Art), Pinnwände mit Halskettchen und Ringelchen, Mokka-Sammeltassen, Ansichtskarten, gestickte Kopien von Dürers betenden Händen oder Hasen, in Kunststoffholz gerahmte fromme Sprüche, Kochrezepte und Geburtstagsgrüße etc. etc.  verwandelten ihre Witwen-Klause in ein stickiges Dickicht bzw. Horrorkabinett eminent überbordender Vollgestopftheit.

Auch wir pietätvollen Kinder  nahmen am Ende erschöpft Zuflucht zum Container-Dienst. Es war einfach zuviel des desaströs kitschigen, wertlosen Deko-Geraffels! Wer hält solche Ding-Flut denn aus! Auch nicht gerade aufbauend ist es übrigens, bei dieser Gelegenheit mit Kram konfrontiert zu werden, den man noch aus der Kindheit kannte, aber mittlerweile für die Ausgeburt ödipaler Alpträume gehalten hatte: Genau DIE beknackten Zuckerdöschen, Kuchengabeln, Cocktail-Spieße, Portwein-Schalen und Zierlöffel, die den verzweifelt undurchsichtigen, psychoanalytisch hochinteressanten Horror der Kindheit möblierten, existieren immer noch, und zwar ganz real, materiell und jeder Vergänglichkeit trotzend! Muttis hats aufgehoben! –  Weg damit jetzt, endlich!

Vor diesem Hintergrund wird es zum nahezu psychedelischen, quasi-traumatischen Erlebnis, einen Laden zu betreten oder, in meinem Fall, als Elefant im Porzellanladen, mich zaghaft hinein zu winden, der zentner- oder auch tonnenweise EXAKT DAS auf augentränend üppiger Halde feilbietet, was wir kürzlich erst mit schier übermenschlicher Mühe losgeworden sind:  Hier ist stolz der gesammelte Sammeltassen-Sammelsuriums-Salat der 40er, 50er, 60er und teilweise 70er Jahre aufgehäuft: als Muttis Traum vom Nippes-Himmel! Püppchen, Porzellan-Pudel, Parade-Paravents, Persil-Reklame-Tafeln, Fächel-Fächer, verschrobene Schraubenzieher, Nagelfeilen, Nähmaschinen-Reparatur-Sets, Patentkochtöpfe, Zigaretten-Etuis, Kämme, Armbänder, Abfluß-Siphons, Wasser-Hähne, Taschenbücher von Bertelsmann,  Army-Jacken, Clowns-Masken und Freddy-Quinn-Vinylschallplatten-Singles; wer Photo-Kameras aus den 30ern braucht, süßliche Terrakotta-Engel oder Kerzenständer aus lackiertem Messingholz, Pantoffel-Puschen im Orientdesign, mit Rosenplüsch bestickte Warmhalte-Kaffeekannen-Mützen oder gehäkelte Eier-Wärmer – alavotte! „Sehen Sie sich gerne um! Was SUCHEN Sie denn?“.

Ich suchte… – vorerst das Weite. Und dennoch, ohne daß ich einen Grund dafür benennen könnte: Daß es solche verborgenen, sich in der Tiefe eines unübersichtlichen, funzlig-duster beleuchteten  Raumes erstreckenden, wirren Trödel-Bazare überhaupt noch gibt, erfüllte mich mit Befriedigung, ja, gedämpfter Begeisterung. Wer dort in zwanzig Jahren versehentlich auf Kraskas Nachlaß stößt, darf ihn behalten! Komplett alles zusammen, inkl. der Fotos, für fünf Euro!

Sudden death / over and out

26. Juli 2010

The day after – Aufräumen in der Todesfalle (Foto: apn)

Ganz plötzlich, als wollte das Wetter auch noch seinen Kommentar abgeben, ist es grau und kühl geworden in der Stadt, die sich, wie ein Kind, das man beim verbotenen Spiel ertappt hat, eilends wieder abgeschminkt. Die Stimmungskanonen schweigen, die Spass-Schlacht ist vorbei, das Wort hat die Staatsanwaltschaft. Ein müder, gleichgültiger Regen spült die Spuren des Horrors davon. Wenige versprengte TV-Journalisten stehen noch pflichtgemäß „vor Ort“ herum und stochern lustlos im Geröll ihrer leeren Worthülsen. Daß es nichts zu sagen gibt, ist natürlich keine echte Nachricht. Das Leben tut derweil, was es notgedrungen immer macht, es geht weiter und wälzt seine Lawine aus Dummheit, Schmerz, Trivialität und dem üblichen Ereignisschrott vor sich her. „Man kann nicht weitermachen…“, sagt Samuel Becket, „… man muß weitermachen. Man kann nicht weitermachen.“

Der übliche, von Selbstgerechtigkeit nie freie Volkszorn gegen „die da oben“ tobt sich, nachdem er gestern noch gegen OB Sauerland, der am Unglücksort Blumen niederlegte, tätlich wurde, nunmehr vorwiegend im Netz aus. Es herrscht, sei es aus Ohnmacht, sei es auch aus abgründiger Lust auf Rache, ein bisschen brenzlige Lynch-Stimmung. Man will Köpfe rollen sehen, rituelle Bußgesten, Rücktritte. Würden allerdings alle zurücktreten, die das eigentlich müssten, gäbe es nach hinten heraus schon wieder Stau und Massenpanik. – Ich spüre die dumpfe Wut auch in mir selbst, obwohl ich gut weiß, dass „rollende Köpfe“ lediglich eine theatralische Beschwichtungsmaßnahme fürs vergessliche Publikum darstellen. Solche Bußgesten sind nicht weniger hohl und albern als das hilflos-mechanische Gerede von „Tragik“ und „Tragödie“.

Die Toten von Duisburg sind das Resultat eines Systems, eines unüberschaubar komplexen strukturellen Geflechts von Instanzen, Behörden, Parteien, Medien, Unternehmen, von ökonomischen und Marketing-Interessen, von kommunaler Geldnot und opportunistischer Durchstecherei, überprofessionalisiertem Expertentum und demokratiebedingten Dilettantismus, von Bürokratismus, systemimmanentem Erfolgszwang, politischer Strategie und korruptem Kompromißlertum. Ein System, in dem die meisten Akteure Mittäter und zugleich auch Opfer sind – Opfer politischen Drucks, ökonomischer Erfolgspflicht und, gewiß, auch persönlicher Geltungssucht und narzisstischer Selbstüberschätzung. Die bockigen, verängstigten Funktionärs-Individuen, die man jetzt widerstrebend ins Blitzlicht der Pressekonferenzen zerrt, wissen nicht recht, wie ihnen geschieht: Sie haben doch nur ihren Job gemacht! Und vermutlich stimmt das sogar.

Oberbürgermeister Adolf Sauerland ist ein jovialer, weicher, empfindsamer Mann aus der Region. Die natürliche Arroganz eines intellektuellen Überfliegers geht ihm genauso ab wie wohl auch der von Berufspolitikern entwickelte undurchdringliche Panzer aus Zynismus und Abgebrühtheit. Er spricht mit zittriger, brüchiger Stimme, hörbar gequält, mühsam nach Worten suchend. Er ist ein gebrochener Mann. Sein Rücktritt wird eine Frage der Zeit sein. Wird damit irgendetwas gewonnen werden? Altkatholische Bußrituale („mea culpa, mea maxima culpa“) ändern nichts an den Strukturen, und nichts am angeblich unverzichtbaren Motor unserer Gesellschaft – der Profitgier; im Gegenteil, die Rituale gehören zum  System dazu.

Mir persönlich, aber das mag am Alter liegen, war, von der Musik mal ganz abgesehen, die obsessive Megalomanie, der narzisstische Körperkult und die aufgesetzte Party-Orgiastik der Loveparade immer etwas unheimlich – aber zweifellos ist sie, gerade in ihrer Kommerzialisierung, ihrer karnevalesken Ekstatik und ihrer drogengestützten Exaltiertheit ein stimmiger Ausdruck unserer Zeit. Zu den ganz wenigen Privilegien älterer Jugendlicher (Ü50) gehört, diese Zeit nicht mögen zu müssen.

Der Tod ist nie tragisch – oder er ist es immer und zu jeder Zeit. Wir entgehen ihm nicht, so laut wir die Musik auch aufdrehen, so viel wir auch tanzen, trinken und gegen ihn angrölen. Irgendwann muß jeder von uns die Party verlassen. Daß das Ende für elf junge Frauen und acht Männer so brutal früh und so plötzlich kam, zerreißt uns das Herz.  Wir trauern dabei auch über uns selbst: Die Zerbrechlichkeit und Hinfälligkeit unseres Lebens wurde uns einmal wieder drastisch vor Augen geführt. Die Loveparade, so konnte man an ihrer Inszenierung in den Medien (EinsLive) fasziniert beobachten, lebte vom frenetischen Jubel über sich selbst, die eigene Jugend, Schönheit, sexuelle Potenz und subjektive Unsterblichkeit. Orgiastische Party-Exzesse gehören zu unseren kulturstiftenden Ventilen: Wir hielten es sonst wohl nicht aus. – Ich glaube nicht, dass solche Veranstaltungen künftig nicht mehr stattfinden. Ich glaube auch nicht, dass wir etwas lernen. „Man kann nicht weitermachen. Man muß weitermachen…“

The party goes on („selber schuld“)

24. Juli 2010

Das Ende der Party - der Ort des Todes (Foto: SPIEGEL online)

Duisburg am 24. Juli, 19.00 Uhr: Immer wieder knattern Helikopter im Tiefflug, landen im 15-Minutentakt; Sirenen durchschneiden die Abendluft. Blaulicht zuckt. Rettungssanitäter, Feuerwehrzüge, Bundesspolizei, Streifenwagen. Unverständliche Lautsprecherdurchsagen. Bereitschaftspolizei in Kampfmontur ist aufgezogen. Die Stadt ist faktisch von der Außenwelt abgeschnitten, die Autobahn gesperrt, der Zugverkehr eingestellt, das Handy-Netz zusammengebrochen. Stromausfall im WDR-Studio. Die Notaufnahmen der Kliniken haben Hochbetrieb

Es herrscht Chaos und Fassungslosigkeit. Vor dem Bahnhof drängen sich Menschen, teilweise alkoholisiert, unter Drogen und aggressiv – sie wissen nicht, wohin. Wohl neunzehn Menschen sind gerade im Gedränge zu Tode getrampelt worden oder von einer schmalen Beton-Treppe in den Tod gestürzt, achtzig Schwer-, ungezählte Leichtverletzte. Währenddessen geht, unfassbar, die Techno-Party unentwegt weiter, die Bässe donnern, als solle der brüllende Lärm die Katastrophe übertönen – angeblich hat man Angst, Massenhysterien auszulösen, wenn man den Rummel abbricht. Die Gefahr von Ausschreitungen ist noch nicht gebannt. Die stillgelegte Stadtautobahn füllt sich mit Sanitätszelten.

Per Webcam und Video-Stream verfolge ich „live“ und fassungslos das Desaster, eine Katastrophe, in welche die Verantwortlichen nahezu wissentlich und sehenden Auges hineinsteuerten. Eine groteske, nahezu unbegreifliche Kombination von Unfähigkeit, Fehlplanung, Verantwortungslosigkeit, Schlamperei und Dummheit. Seit Tagen habe ich mich, Zeitung lesend, gefragt, was den Loveparade-Veranstaltern, der Bundespolizei, der Deutschen Bahn und der Stadt denn eigentlich als Lösung vorschwebte, wenn die offiziell erwarteten (!) anderthalb Millionen Party-Besucher durch einen einzigen (!) Eingang auf einen abgesperrten Platz drängen, der für gerade 500.000 Menschen ausgelegt ist. Wie um Himmels Willen hatte man sich das gedacht? Was hatte man geplant, wenn Hunderttausende frustrierter, überhitzter, alkoholisierter, mit Drogen aufgeputschter, erschöpfter, enttäuschter junger Leute nach stundenlanger, strapaziöser Anreise auf das bereits überfüllte Party-Gelände drängen würden und dann zwischen den Gittern und Absperrungen nicht mehr ein noch aus, bzw. nicht mehr vor- und nicht mehr zurück wüßten? Wie soll man das anders nennen als ein programmiertes Chaos? Eine willentlich in Kauf genommene Katastrophe?

Kann man das irgendwie erklären? Vielleicht durch besinnungslose Profit-Gier, Kommerz-Verblödung, Geltungssucht, allgemeine voluntaristische Schönrednerei im Vorfeld, durch kollektive Borniertheit und verantwortungslosen Leichtsinn, durch die banale Selbstbeweihräucherungssucht der sog. Event-Manager oder den Dilettantismus inkompetenter „Stadtväter“? Durch die selbstzufriedene Sturheit einer völlig überforderten Polizei? Hat man gedacht, es würde schon, gegen alle Prognosen, irgendwie gutgehen? Wie hat man das allen Ernstes glauben können?

Es gab viele Stimmen, die Zweifel daran äußerten, dass eine arme, unterorganisierte, schlecht ausgerüstete, logistisch überforderte und überdies in solchen Veranstaltungen unerfahrene Halbmillionenstadt wie Duisburg ein Ereignis mit 1,5 Mio. Menschen organisieren und sichern könnten. Sie wurden als Miesmacher und Stimmungskiller zum Schweigen gebracht. Die Kritiker und Skeptiker störten die Selbstbesoffenheit der Kulturhauptstadt-„Macher“. Ein junger Mann, der der tödlichen Massenpanik um ein Haar entging, hatte die Polizei schon vor dem Desaster dringlichst gewarnt. Die Antwort der Polizei: „Willst DU das hier organisieren, oder was?“

20.30 Uhr. Die medialen Gebetsmühlen sind angeworfen, die offiziösen Krokodilstränenwerfer arbeiten voll Rohr. Mechanisch wird wieder von „Tragödie“ und „Tragik“ gelabert. Aber „tragisch“ nennt man unausweichliche Unglücksfälle. Das Desaster von Duisburg war keineswegs unausweichlich. Es war, wie gesagt, mehr als voraussehbar. Die Krokodilstränen werden bald wieder trocknen. Noch immer wummert die Parade der Floats aus 300.000 Watt-Anlagen.

20.45 Uhr: Die Schuldfrage ist schon geklärt. Die Verantwortlichen haben nicht die Verantwortung. Der frischgebackene (bislang in Duisburg wirkende) NRW-Innenminister Jäger findet in einem ersten Interview, die „Polizei“ habe „gute Arbeit gemacht“. Die Pressekonferenz der Stadt Duisburg findet, sie, die Stadt, die Behörden und die Planer  trügen keine Schuld; schuld seien vielmehr eindeutig die Opfer selbst, die sich nämlich „nicht an die Spielregeln gehalten“ hätten.

22.10 Uhr: Der Duisburger „Krisenstab„, namentlich der ganz offenbar Hauptverantwortliche, „Sicherheitsdezernent“ Wolfgang Rabe, schießt sich darauf ein, auf übelst demagogische Tour übrigens und mit steinern-zynischer Fresse, den jungen Todes-Opfern selbst die Schuld zu geben. Die hätten sich nämlich „irrational verhalten“. – Als hätte man nicht GENAU DAS zuvor einkalkulieren müssen! Als wäre es nicht die eindeutige Aufgabe der Sicherheitsbehörden, solch irrationales Massenverhalten – was bei Loveparade-Veranstaltungen ja vorkommen soll – eben vorauszusehen und im vorhinein (!) unmöglich zu machen! Was für eine ungeheuerliche Dreistigkeit den Opfern und ihren Familien gegenüber! Nebenbei: Immerhin sitzt in Duisburg z. B. das weltweit anerkannte und renommierte Fraunhofer Institut, das mit seinen Forschungen und Konzepten zur Steuerung und Sicherheit von Menschenmassen-Ansammlungen, bereits geholfen hat, etwa in Mekka die berüchtigten und gefürchteten Massenpaniken unter Pilgern fortan zu verhindern. Dort wird man das Wort „Risikoanalyse“ ja wohl eigentlich kennen. – Hat der Herr „Sicherheitsdezernent“  da nicht mal nachgefragt,vorher? Hatte er das nicht nötig, weil Massen ja bekanntlich immer  „den Spielregeln folgen“? *

(Nachtrag 26. 07. 2010: Inzwischen ist bekannt, daß der Professor für Physik des Transports, Prof. Michael Schreckenberg, sehr wohl in den Planungsstab „eingebunden“ war – was immer das konkret heißen mag. Seine nachträglichen Einlassungen wirken merkwürdig fahrig und unkonkret. Die spätere Todesfalle hatte er zumindest „im Vorfeld“ nie gesehen oder betreten. Welche Rolle die „Experten“ gespielt haben, ob man auf ihre Expertisen oder gar Warnungen gehört oder sie in den Wind geschlagen hat, wird erst noch zu klären sein. Immerhin war Prof. Schreckenberger der m. W. EINZIGE, der sich „von Schuld nicht freisprechen“ wollte…)

22.50 Uhr: Noch immer kreisen Kampfhubschrauber der Bundespolizei über Duisburg. Im Fernsehen verbreiten die unmittelbar oder politisch Verantwortlichen – schier unfaßbar kaltschnäuzig und arrogant der Herr Ex-WDR-Indentant und Kulturhauptstadt-Chef Fritz Pleitgen – geradezu haarsträubende Lügen bzw. Halbwahrheiten, um jede Verantwortung von sich zu wälzen Es ist wirklich unsagbar widerlich.  Ich glaube, ich war von dieser Politiker-Kaste schon lange nicht mehr derart angewidert und abgestoßen. Ein wahrhaft unsägliches, erbärmliches Schauspiel. Zum Speien.

23.03 Uhr: Plötzlich und noch immer ohne jede Erklärung (!) stoppt in der Party-Zone nun endlich, endlich, fünf Stunden nach dem Horror-Desaster, das Gewummer. Man spielt nun Meeresrauschen (!) ein und schickt die Leute sang- und klanglos nach Hause. Bis zu Stunde wissen noch immer Zigtausende junger Party-Gänger nicht, was überhaupt geschehen ist. So will es das sich selbst ohne Scham so nennende „Krisenmanagement„. Ich wußte gar nicht, daß die Richter-Skala des Zynismus nach oben dermaßen offen ist.

Für neunzehn junge Frauen und Männer ist die Party jedenfalls vorbei. Für immer.  – Selbst schuld, ja?

PS: Krododilstränenwerfer und erste kritsche Fragen hier:

http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/Das-toedliche-Unglueck-wirft-Fragen-auf-id3279049.html

Hier noch eine Zuschrift aus Maidenhead, London, UK:

Chris Irwin schreibt auf facebook

„It’s not over until the fat bastard(s) owns up.

By strange coincidence on Saturday evening, I was sat at the PC bellowing with laughter at a blog posting made by good mate, philosophy lecturer and scribe extraordinaire: Duisburg resident Reinhard Haneld (aka 6kraska6). A while later, I was prompted from my semi-slumbers during the evening TV news upon hearing the word ‚Duisburg‘ and began to see initial reports of this appalling state of affairs.
Knowing from his blog that he is not shy of attending the occasional odd venue/locale in the eternal pursuit of satisfying his curiosity and that of his ardent readers, I hasten computerwards to establish contact. I was relieved to learn pretty quickly that at least all is well in his household. His daughter set out to attend the party, but could not get in. His wife – a TV reporter – is out there at ground zero covering the carnage.
The following morning, I receive further news and see that he has posted a report listing the events and posing some very heavy questions about responsibility.
The report is available in German on the link (I might translate it later). It seems that person or persons hitherto unknown fucked up big time. The whys and wherefores will doubtless/possibly emerge eventually, not that this will be any consolation to those who are mourning young loved ones.“

Nachruf

24. Mai 2009
12621-alfaline-hna-gesamt-ku-rudnik_onlineBild

Farewell, Lovely... Barbara Rudnik (1959-2009)

NACHRUF

Scheiß Tod immer! (Manno!)


 

 

 

Tao des schönen Sterbens

23. April 2009
christoph-schlingensief21

Christoph Schlingensief, öffentlich krank

ES MAG VERSTÄNDICH SEIN, ABER IST ES AUCH … SCHÖN?

Heikles Thema heute! Vorab: Ich mag Christoph Schlingensief. Der sympathische Wirrkopf mit dem adrett verwuschelten Schopf und den blanken, lebensvollen Augen, der seine Karriere als Aufnahmeleiter bei der „Lindenstraße“ begann, hatte immer eine so charmante Art, einem auf dem Senkel zu gehen! Auch für den größten Quatsch („Deutsches Kettensägen Massaker“, „Tötet Helmut Kohl“) konnte man ihm nicht böse sein, weil sein ganzes vorlautes theatralisches Getue, Gewürge und Gefrickel immer mal wieder auch überraschend Sinn machte. Außerdem ist er Oberhausener, also praktisch ein Junge aus der Nachbarschaft. Katholisch zwar, aber auf angemessen verquälte, verschwurbelte und mit Gott hadernde Art.  Theater-Leute haben ja oft Sinn fürs Katholische, wg. der visuellen Unterhaltungswerte. [Es mag ein reichlich schlechtes Licht auf mich selbst werfen, wenn ich bekenne: Ich persönlich fands auch gut an ihm, daß ein unangepaßter, schräger Intellektuellenvogel ausnahmsweise mal nicht schwul war…] Außerdem hat er eine unsentimentale, denkwürdige Theater-Arbeit mit Behinderten und Kranken gemacht, ohne diese für seine eigene Reputation auszubeuten. Also weder Zyniker noch affiger Gutmensch: Gar nicht so einfach, sich da hindurchzulavieren! Kurzum: Nervig manchmal, okay, aber unterm Strich für mich sicher einer von den Guten!

Aber nun zum Aber. Schlingensief (47) ist krank, todkrank. Lungenkrebs. Ein Lungenflügel wurde schon entfernt, im anderen gibts Metastasen. Gut möglich, daß Christoph Schlingensief bald stirbt. Nach schwerer OP und Chemo sieht er schon ziemlich scheiße aus, er ist bleich, hat tiefliegende brennende Augen und er weint viel – und zwar häufig und gern vor laufenden Kameras. Der habituelle Selbst-Inszenierer hat es für gut befunden, seine höchst privaten Schmerzen, seine Ängste, seine Verzweiflung und sein Elend vollrohr öffentlich auf alle erreichbaren Bühnen (TV, Print-Medien, Buch) zu kotzen. Schonungslos, ungefiltert, nicht ohne Larmoyanz und Peinlichkeit. Was mich ärgert: Meine Neugier ist noch immer größer als meine Geschmackserziehung zuläßt: Ich habe Christoph Schlingensiefs gestern erschienenes Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein“ gekauft und gelesen – und ich bin unangenehm berührt.

Natürlich möchte ich niemandem vorschreiben, noch nicht einmal bewerten, wie sich jemand zu Krankheit und Tod stellt, wenn er selbst davon betroffen ist. Nach meinem Eindruck machen es die meisten Menschen mehr oder weniger still ab, mit sich, der Familie, ein paar Freunden, wenns hochkommt. Man zieht sich zurück aus dem Trubel und leckt seine Wunden stilvoll, wie ein kranker Wolf oder ein alter Indianer. Kaum einer, den ich je kannte, rannte, als er erkrankte, laut schreiend durch die Straßen auf den Marktplatz, um dort eine Bühne zu erklimmen, sich in der Raserei hiobsmäßiger Verzweiflung die Haare zu raufen, das Hemd zu zerreißen und mit blutiger Brust hinauf zum Himmel zu schreien: „Gott! Warum nur! Warum ich? Warum jetzt schon?“ Da ich, obwohl ein alter zauseliger Emo, der auf Beerdigungen immer als erster losflennt, dennoch ein etwas herzloses Verhältnis zum Tod habe, ist es mal gut, daß ich nicht Gott bin, – ich würde dem Schreihals und kleinen Häwwelmann nämlich kühl antworten: „Ja – was? Warum nicht du? Und wann, wenn nicht jetzt? Wann wäre es denn genehm?“

Mein Problem mit Schlingensiefs Selbstentblößungen betrifft nicht so sehr die „Tyrannei der Intimität“, also die Tatsache, daß er dem Zeitgeist entsprechend offensiv, ja brutal mit dem herumtratscht, was besser privat bliebe (ich führe auch nicht gern Wartezimmergespräche mit Senioren, die ihre mehr oder weniger fiesen Krankheiten zum Lebensinhalt machen – ich find mich selbst schon eklig genug!), – sondern daß er es offenbar für extrem ungerecht hält, daß er todkrank ist – wo er doch noch so viel vorhatte! Er will, er will, er will! doch noch so viel: Pizza essen gehen, heiraten, Kinder zeugen, im Fiebersumpf von Kamerun ein Opernhaus bauen (echt! im Ernst! Ein Schlingensief muß doch „Spuren hinterlassen“!), nachdenken, herausfinden, wer er ist, und weiß der Teufel noch, was alles. – Ja und? Wessen Problem ist das? Ohne wen hat er denn da seine Rechnungen und Pläne gemacht? Wenn Orientalen muselmanischer Richtung persönliche Zukunftspläne, und sei es nur ein Wirtshausbesuch am nächsten Tag, verabreden, flechten sie immer ein: Inşallah! Was so viel heißt wie: Falls mir nicht Gottes Hand dazwischen funkt und mich arme Eintagsfliege vorher auf die Tischplattte klatscht. Damit ist, Gottesglaube hin oder her, nämlich allezeit und immer zu rechnen, da wir, und zwar wir alle, eben ausnahmslos sterblich sind. Und ziemlich empfindlich. Wir gehen halt leicht kaputt. Auch wir ganz besonderen Menschen, wir Künstler, Gelehrte, Schönheiten und Daseins-Adlige, auch wir Ausnahmebegabungen, Genies und Unverzichtbare … selbst wir, ohne die die Welt kaum noch Grund hat, sich weiterzudrehen, werden sterben, und zwar, wie man so sagt: früher oder später.

Der Tod ist in unserer Geselschaft nahezu das einzige, was gerecht verteilt ist: Er ereilt jeden, und die meisten zur Unzeit. Aber was heißt das, Unzeit? Wer will das beurteilen? Wann ist es genug? Schließlich gibt es auch Menschen, die die Zeit zum Sterben versäumten: Nietzsche, der stolze Verherrlicher der Gesundheit und Souveränität, starb nach elenden, demütigenden Jahren als dementer Pflegefall. Walter Jens, der einst so brilliante, intellektuelle Rhetoriker ist jetzt das, was er auf keinen Fall werden wollte: ein in Windeln liegender, hilfloser greiser Alzheimer-Patient ohne Verstand. 

Die alten Griechen priesen diejenigen glücklich, die im Vollbesitz ihrer Kräfte, in Schönheit und mitten im Kampf aus dem Leben gerissen wurden. So dumm war das nicht. Weder Dummheit noch Fanatismus kann man auch den stillen Betrachtungen nachsagen, die der ehrwürdige Mönch Yoshida Kenkô dem Thema widmete:

„Wie die Ameisen scharen sie sich zusammen, eilen nach Ost und West, laufen nach Nord und Süd. Menschen von hohem und niederen Stande, Alte und Junge haben ein Ziel und haben ein Haus, in das sie heimkehren; abends gehen sie schlafen, und am Morgen stehen sie auf. Aber was treiben sie denn? Sie sehnen sich nach einem langen Leben, und sie streben unaufhörlich nach Gewinn. Welches Glück erwarten sie denn, während sie sich so plagen? Nichts als Alter und Tod stehen ihnen bevor, und sie kommen schnell, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern. Worüber freuen sie sich etwa, während sie auf Alter und Tod warten? (…) Dumme Leute jammern über Alter und Tod. Sie möchten, daß alles ewig währe, und sie wissen nichts von dem Gesetz der Hinfälligkeit alles Irdischen.“ [Yoshida Kenkô, „Betrachtungen aus der Stille„]

Man kann etwas lernen – ohne sich moralisch über andere erheben zu wollen. Ich tadele Schlingensief nicht. Wir überaus Mitteilungsbedürftige und Ausdruckssüchtige sind alle ein klein wenig narzißtisch gestört. Schlingensief, seit 25 Jahren daran gewöhnt, um sich und seine diversen Drolligkeiten maximalen Medien-Wind zu machen, Provokationen zu säen und öffentiche Aufmerksamkeit zu ernten, mit extra viel Theaterdonner irgendwelches Gekasper und post-Beuys’sches Sozialgemache anzuzetteln; gewöhnt auch daran, 24 Stunden am Tag auf erleuchteten Bühnen, vor laufenden Kameras und offenen Mikrophonen zu leben; begierig danach, den eigenen Namen täglich landauf landab, von Burma bis Bayreuth genannt zu hören; gesalbt, geölt und zu heiß gebadet in den Wassern massenmedialer Aufmerksamkeit – kann wohl gar nicht anders. Er will, wie Jean-Baptiste Molière, unbedingt auf offener Bühne, vor Publikum sterben. Seinen privaten Tod als Schaustück inszenieren. – Mein Gottt, soll er. Wir werden ihm den Applaus nicht verweigern, nur …

… das Tao des guten, bescheidenen Abschieds geht anders. Stiller Rückzug will rechtzeitig geübt werden. Für die Anhänger des Tao im japanischen Mittelalter war das nicht nur eine ethische, vielmehr noch eine ästhetische Frage.

img5

Zen-Garten: Die Welt ist auch schön, wenn wir weg sind!