Posted tagged ‘Kunst’

Placebo gegen Unkkultur

6. Februar 2014
Kunstunke (Wikipedia)

Kunstunke (Wikipedia)

Was auch einmal mit Herz und Leidenschaft angeprangert gehört, ist die obwaltende Unkkultur. Kein Tippfehler: Es wird zu viel geunkt! Zum Beispiel über den Verfall gutbürgerlicher Dienstfertigkeit beim Verkaufspersonal. Diesbezüglich machte ich neulich eine beglückende Erfahrung, da ich – durchaus ernsthaften – Anlass hatte, in meiner Stamm-Apotheke zu fragen: „Führen Sie auch Placebos? Ich meine – bewusst?“ Es war nämlich so, dass ich in meinem medizinphilosophischen Seminar plante, zum Einstieg an die Teilnehmer Placebos zu verteilen, als Gag, Gimmick und um mal zu gucken, wie die so wirken. Oder ob. Das vorbildliche Pharma-Fräulein fühlte sich nicht im mindestens veralbert, sondern beschied mir höflich, man führe so etwas generell zwar nicht, könne es aber ohne weiteres – mit Milchzucker – für mich herstellen, nur – sie dachte auch noch mit! – dass Problem sei ja wohl eher, an eine autoritativ aussehende Verpackung zu kommen. Cool, oder? Wahrscheinlich hätte ich fragen können, ob es Tabletten gegen zu große Damenfüße gibt, und sie hätte mich milde lächelnd auf ein Schuhgeschäft hingewiesen, da Schuhe in der richtigen Größe gesünder sind als Tabletten, die in diesem Fall eh nicht viel hülfen.

Gegen das Fernseh helfen auch keine Medikamente. In einer irgendwie aus dem Ruder gelaufenen Schnaps-und Nebelaktion fand ich mich neulich unversehens vor dem Fernseher umnachtet. Das Botox-Trio Geschwister Fürchterlich krähte frenetisch: „Komm ohne Hembd, komm ohne Hembd / Zu uns ins Duschgel-Camp / das Glitschi-Glitter-Duschgelcamp!“ und fump, fump, hatte ich den Mund voller Ohr- oder Drehwürmer. Feinkost Käfer! lieferte dazu Sumpf mit Matsche, dann Werbung für Stützstrümpfe. Angora-Omas vom QVC tanzten den Pailletten-Swing, eine Silikonikone bat dringlich Ruf! Mich! An!, worauf ein Professor stracks dem Zucker den totalen Diätkrieg erklärte, was mich in einen zuckersüßen Film der ARD-Tochter Degeto spülte. Diese Filme sind das Koks der Armen („Degeto to go“), sie spielen im Dreiländereck Irland-Schweden-Bretagne, und dann ist da meist eine blonde Frau, die hat einen Mann und es ist eitel Urlaub, es kommt zu dezenten Paarungsvergnügungen, aber wegen der noch kindlichen Zuschauer wird der Orgasmus nur vorgetäuscht. Dann kriegt der Mann einen Haschmich und ist plötzlich weg, aber die Frau will nicht an Tod und Witibtum glauben, sondern macht sich auf die Suche bzw. die Socken, reist kreuz und quer durch die strukturschwache, aber blitzadrette Region, und am Happy-Endpunkt findet sie den Mann wieder. Er hatte seine Gründe, aber Hauptsache, er lebt! („Degeto ergo sum“). Dazu fidelt André Richelieu auf der Rosshaargeige, bis man matt und weinerlich ins Bett steigt, die Geschicke der Welt beseufzend.

Von Haus aus bin ich eigentlich mehr ein Ächzer als ein Seufzer, aber dennoch, ausgiebig beseufzte ich vor Tagen einmal wieder den Zustand der Gegenwarts-Kunst. Ebenfalls nämlich im Flachbildland zeigte man mir eine aus echtem Schweizerholz geschnitzte Schweizerreportage über einen Schweizerkünstler, der nach langen verschneiten Winternächten folgende Idee ausbrütete: Er ließ eine große Holzhütte bauen (schon mal gut, odd’r?), stellte diese auf vier Skateboards (irre!), hieß seine Helfer die Hütte per Drahtseil einen schneebedeckten Hang hochziehen (wie kommt man bloß auf sowas!), um, oben angekommen, das Seil zu durchtrennen – sodass die Hütte den Hang wieder herunterrutschte. Es war … aufwühlend. Die ortsansässige Bergbauernbevölkerung, zum Kunstgenuss abkommandiert, applaudierte dazu mit der ihr eigentümlichen Schweizerbedächtigkeit.

Schau an, dachte ich, nicht ohne Rührung: Es ist doch nicht ALLES „grundsolide“, was man in der Schweiz treibt und produziert. Es blieben indes Fragen offen: Hatte ich jemals schon einmal etwas brunzdummeres, hirnloseres, geistferneres, langweiligeres, inspirations- und humorfreieres gesehen als diesen Hüttenkäse-Kunsthonig? Und wann hat dieser Scheiß eigentlich angefangen? Mit Duchamp schon? Oder war es erst der Scharlatanschamane Beuys, der die Türen weit aufgestoßen hat zum Kinderparadies offensiver Talentlosigkeit? Immerhin, diese Sache mit dem Hasen und das mit dem Schakal, das war wenigstens noch hochkomisch, wenn auch unfreiwillig, aber heute, scheint’s, hat die Beliebigkeit den Siedepunkt erreicht, wenn man das so sagen darf und Beliebigkeit überhaupt so heiß wird. Aber ich will nicht unken. Sondern lieber in einer angesehenen Galerie zu einer Performance einladen, wo ich mir mit extrem feierlichem Gesicht und bedeutungshochschwangerer Körpersprache ächzend die Schnürsenkel binde. Dann gehe ich mit dem Hut herum. Ich nehme auch Schecks.

Werbung

Diät, Tiepolo, Kleintierkleidung von KIK

30. August 2012

Unwirklichkeitsmeisterschaften im Vier-Körner-Land: Ich mache jetzt eine Diät! Ein verhungerter Landarzt aus der protestantrischen Steppe hat sie ausgetüftelt. Im Wesentlichen geht es darum, dass man zu jeder Tageszeit irgendetwas nicht essen oder trinken darf, was man sonst als normaler Mitteleuropäer zu sich nimmt. Morgens dafür nur Kohletabletten, mittags saure Milchwurst und abends einen halben Wasserballon – oder war es umgekehrt? Das spielt im Grunde genommen keine Rolle, die wissenschaftlichen Fundamente sind eh rutschig und nicht unterkellert. Es handelt sich um das gleiche Prinzip wie beim Militär oder in den Weltreligionen, die Inhalte mögen absurd sein, aber es ist halt wichtig, sich überhaupt einer Disziplin zu unterwerfen. Absurd ist sogar gut, damit man ständig im Handbuch nachschlagen muss, was man jetzt gerade darf. (Meistens darf man nicht.) Wer durchhält, bekommt das Himmelreich oder eine zwei Nummern engere Hose. Wer schlappt macht, kriegt auf den Grabstein gestempelt: „Er starb aus Disziplinlosigkeit“. Das ist herzlos, aber gerecht. Das Leben ist halt kein Supermarkt. Oder eben leider gerade doch.

Was das nun mit Kunst zu tun hat? Eigentlich gar nichts, aber mir ist diätbedingt irgendwie nach schroffen Überleitungen, und gestern Abend saß ich halt mit der Gattin auf der Terrasse und pflog als angemessen beschauliches Rentnerhobby der Überwachung des einheimischen Luftraumes. Am Firmament trieben kleine Wölkchen, die in der untergehenden Sonne dermaßen originell schräg von unten beleuchtet oder angestrahlt wurden, dass sie wie Zuckerwattenschaum aus Blassgold aussahen. Mich erinnerten sie an das zierliche Himmelszubehör auf spätbarocken Fresken, und so murmelte ich versonnen: „Das sind so richtige Tiepolo-Wolken…“, worauf die Gattin die Stirn runzelte und minutenlang grüblerisch in den Abendhimmel starrte, ehe sie den Kopf schüttelte und zugab: „Sehe ich nicht…“ Es lag aber nicht an ihrem mangelnden Kunstsinn, sondern daran, dass sie statt Tiepolo „Tierpullover“ verstanden hatte, nach denen man zu dieser Jahreszeit natürlich vergeblich Ausschau hält. Giovanni Battista Tiepolo hätte wahrscheinlich nicht schlecht gestaunt, wie schnell wir von seinen an die Wand gepatschten katholisch-barocken Heiligschmalzstullen zu profanen Fragen der Kleintierhaltung übergingen. Ob man abends noch Rokoko-Bilder anschauen darf, ist ohnehin fraglich, denn sie sind zumeist stark überzuckert. „Und lassen Sie den lieb gewonnenen Alkohol weg!“ befiehlt schnarrend der Landarzt. Klar, das musste ja kommen. Dabei will ich nur ein wenig abnehmen, nicht gleich implodieren.

In seinem Handbuch prahlt der Landarzt, unter seiner Diät-Fuchtel hätten bereits viertausend Menschen zusammen über dreißigtausend Kilo abgenommen. Das ist jetzt aber schon schwindelerregend, oder? Ich hab überschlägig nachgerechnet: Wenn nur die Hälfte aller Deutschen nach dieser Diät lebte, kämen wir leicht auf über 300 Mio. Kilo Fett, die wir loswerden, also zum Beispiel exportieren könnten, um verlotterten Krisenländern unter die Arme zu greifen oder die Kaiser von China zu schmieren, damit sie probehalber die Menschenrechte einführen!

In China darf man bekanntlich nur ein einziges Kind haben, was vielleicht den sog. „himmlischen Frieden“ erklärt, der im Land der Mitte herrscht und dem man in Peking sogar einen Platz gewidmet hat. Ob die Zahl der Hunde auch reglementiert ist, weiß ich nicht, fänd ich aber nicht schlecht. Hier im Viertel nimmt das nämlich überhand. Wenn die Brüsseler Bürokraten mit der Glühbirnenernte fertig sind, könnten sie doch mal kleine Hunde verbieten. In meiner Nachbarschaft leben viele ältere Damen, die, wenn es noch ohne Rollator geht, durchweg ein bis drei lächerlich kleine Trippel-Köter spazieren führen. Mit ihrem goldigen Puschelfell mögen diese (die Pinscher, nicht die Damen) ja meinetwegen aussehen wie von Tiepolo an den Himmel gepinselt, aber Rokoko-Wölkchen kläffen nicht giftig im Falsett, sind nicht hysterisch und machen auch keine Häufchen im Park. Da besteht in punkto Umweltverträglichkeit doch Regulierungsbedarf!

Andererseits will ich auch nicht zu laut nach einem Kleintierverbot schreien, denn womöglich würden dadurch Millionen chinesischer Arbeiterinnen brotlos, die derzeit in schlecht belüfteten unterirdischen Fabriken, mit blutigen Fingern und entzündeten Augen, in Zwölfstundenschichten für KIK diese putzigen kleinen Tierpullover stricken, auf die „wir reichen Westler“ ja offenbar nicht verzichten können. –  So, Mittag. Ich brat mir jetzt einen Hund. Mittags erlaubt das der Landarzt, sofern das Tier aus Magerquark und Tofu-Bollen besteht und biologisch abbaubar ist. Aber vorher Pullöverchen abschälen!

Hirnstaub

23. Juni 2012

Triumph des Willens, der Kraft, der Freude (Source: Wikipedia)

Mutter, die nunmehr wohl schon komplett hemmungslos Wahnsinnige, hatte mich mit Zwetschgen-Knödeln geknebelt. Humpf, humpf. Das Badewasser wurde kalt, die Finger schrumpelten, mein mattes Widerwort erstickte in grünblauem Badedas. Warum trug ich eine Krawatte beim Baden? Und sonst nichts und war nackig? Mutter klopfte mir sanft, aber methodisch mit einem Löffel auf den Kopf. Sie glaubte fest, ich wäre ein Ei. „Eichen, mein selig Eichen…“ summte sie versonnen und salzte mir schmunzelnd den Kopf. Dann sagte sie über mir ein Vaterunser auf, in der Absicht, darauf dann in Andacht und Dankbarkeit mein Eigelb-Hirn zu verspeisen. Ich verschwiemelte glanzlos, und meine verdrehten Augen wurden blau vom Schaum, ich rutschte, fiel, fiel und hatte den Himmel schon weit unter mir. Was sollte mir noch Sinn? noch Zweck? Mit letzter Kraft zog ich Mutter gemein an den dünnen Haaren. Sie, die Entfesselte, schrie schrill auf und holte Gott aus der Kittelschürze, um mich mit seiner Hilfe zu kujonieren. In der Gegenwart des HErrn beschlug jedoch ihre Brille.

Ich nutzte das aus, sprang aus der Wanne und stieß dabei gegen den dicken, hölzernen Vater, der ohne Nutzen in der Badezimmertür stand und fassungslos durch seine 60er-Jahre-Hornbrille glotzte. Ich fühlte mich wie in einem Film von Ingmar Bergmann! – Was für Wirrnis begegnete mir? War dies meine Kindheit? So ein widriger Blödsinn? Aber nein! Das war bloß Traum, Alb, schleimiger Nachtschrecken. In Wahrheit,  und dies zu betonen bin ich der Mutter schuldig, wurde ich nie gezwungen, nackt und mit Krawatte zu baden, sie knebelte mich auch nicht mit Knödeln, und das einzige, was einigermaßen stimmt, ist das mit Gott und dem Vaterunser. Den Rest hab ich geträumt, was freilich keine wirkliche Beruhigung darstellt, weil, bitte, warum träume ich denn heute noch so etwas?

***

SPARGELonline ist mal wieder alarmiert: Die Lillipertulaner sind süchtig nach Quiz! – A, B, C oder D? Das ist die Welt-Frage, die Kleinwüchsige umtreibt, quält und beschäftigt! Das Leben ist ja ein multiple choice, ohne Aussetzen oder Publikumsfrage. Kein Telefon-Joker weit und breit. Unerbittlich fordert das Schicksal Entscheidungen und, blöd genug, sie sind immer, wirklich immer falsch. Soll ich in High-Heels sterben? Im Trainingsanzug? Ein Star in Gesang oder Tanz werden? Meine eigene Frau heiraten (vgl. Inzest)? Die Ukraine bokottieren? Oder gar einfach still in fader Bedeutungslosigkeit untergehen? Der Möglichkeiten sind bestürzend viele. Eine gute Muslima reüssiert wegen Kopftuchbehinderung nicht beim table dance, eine bayrische oder gar genuin Paderborner katholische Bauernmagd nicht im lukrativen Pornogeschäft und nie je, traun, wurde ein Zwerg Toptorhüter der Nationalmannschaft: Meine Möglichkeiten sind also begrenzt. Früher, als ich ein blutjunger, rotwangiger Punkrocker war, grölte ich mit Inbrunst: „No future!“ – Heute, wo ich tatsächlich keine Zukunft mehr habe, verstehe ich nicht mehr, was ich daran mal so toll fand.

Ansonsten ist natürlich alles ein Triumph des Willens, der Kraft, der Freude. Lebe deinen Traum! Du kannst Bundesbanker werden, Violin-Virtuose oder Golf-Magier, Hauptsache, du fängst mit drei Jahren an zu üben und sparst auf der Sonnenbank. Wer nur „schlafen, sterben, vielleicht träumen“ möchte wie Hamlet, fällt, padauz, durch den Rost. Karriere zum Knicken. Oooch, schade, aber unvermeidlich. Zum Glück gibt es guten Lebensersatz: Fußball, Olympia, Fürstenhochzeiten, Eurorettung, Rosé-Wein aus Spanien. Vor Fistel und fisten steht im Lexikon: Fiskalpakt. – Pain in my ass!

***

Neuerdings habe ich einen Organspende-Ausweis, das ist meine Form von Optimismus bzw. Humor. Wer meine Organe kriegt, dem wünsche ich ja viel Vergnügen damit, aber das soll meine Sache nicht sein. Nach meinem Ableben lege ich keinen Wert mehr auf mich. Meinetwegen können sie auf meinen Knochen Marimba spielen. Akzeptabel fände ich es, wenn mein Schädel als Requisit in der Hamlet-Aufführung eines Behinderten-Theaters Verwendung fände.

***

Francis Bacon hat gesagt, er hasse Bilder, die sich reimen, und gute Kunst sei alles, woran man sich hinterher nicht mehr genau erinnern kann. Das kann man so stehen lassen. Texte, die grooven, sind solche, wo man nie weiß, was im nächsten Satz kommt. Manchmal ist es bloß das plötzliche

Aus

Weniger Wein? Romananfangstraumfragment

5. Dezember 2011

Weniger Wein ist keine Lösung!

„Er sei, sagte Joliasse, mit Ganja-Pitter und einem der beiden Wolles, wahrscheinlich Wolle-Egkbert, jedenfalls eher wohl nicht Wolle-Dickkopf, später, als ich schon gegangen war, noch ‚um die Häuser gezogen’, bei welcher Gelegenheit man, seiner vagen, von Filmrissen durchzogenen Erinnerung zufolge, zunächst ‚formidabel geschmaust’, dann aber zunehmend und zugegebenermaßen ‚schwer gezecht’ habe, vor allem und im einzelnen Wodka-Redbull, Marguerita und Tequila-Sunrise durcheinander;  jedenfalls, so Joliasse, der sich noch immer ein penibel gebügeltes Stoff-Taschentuch an die blutende Stirnwunde presste, sei es im Verlauf der Trinkerei zu einem Disput über ‚Fragen der Gravitation’ gekommen, zu einem Disput, in dem in Sonderheit Ganja-Pitter, so wenigstens Joliasse, ‚geradezu hanebüchene Theorien’ geäußert habe und er wiederum, Joliasse, der Künstler und Selbstdenker, deswegen den aufkommenden Streit ‚experimentell-empirisch’ habe entscheiden wollen, in dem er sich anheischig gemacht hätte, mit bloßer Mannes- bzw. Muskelkraft eine volle Bierdose („Guinness“) in den Orbit zu schießen, was sich als Idee noch blendend ausnahm, in der Praxis sich auch zunächst ganz gut anließ, dann aber zu Enttäuschungen, ja Verletzungen einigen Anlass gab, weil besagte Bierdose, so der ambulante Patient weiter und in einigermaßen wehleidigem Tone, nach ca. drei Metern lichten Höhengewinns ‚offenbar der Mut verließ’, dergestalt, dass sie ‚säumte, ihren Aufstieg fortzusetzen’ und sie, am gravitationsmäßigem Optimismus offenbar urplötzlich irre geworden, ihre Flugbahn komplett mutverlassen änderte und feige zur Erde zurückkehrte, und zwar – Joliasse deutete wehmütig auf seine Platzwunde – wohl exakt an den per GPS georteten Platz, an dem sich zu diesem Zeitpunkt seine hohe Stirn befunden habe, die sich als denkbar – er sagte wirklich: ‚denkbar’! – schlechter Landeplatz erwiesen habe, nämlich auf den unerwarteten Sturzlandeflug mit Hautläsionen und hämorrhagischen Reaktionen Antwort und Bescheid gegeben hätte, was ihn, so Joliasse, nicht ohne feierliches Versprechungspathos, dazu bewöge, ‚inskünftig mit solchen Experimenten mehr sich  zurückhalten’ zu wollen sich anheim stellen lasse…“ –

Morgens zwischen vier und sieben Uhr: Der prä-senile Insomniker kennt und fürchtet diese Tageszeit: Entweder bekommt man viszerale Depressionen würgenster Art oder man träumt total bescheuerten Scheiß, wie ich heute Morgen, ich schwör, diesen bizarren Romananfang, den ich hiermit der geneigten Öffentlichkeit mitzuteilen wage. Abgesehen davon, dass der Traum mir gewisslich mitteilen wollte, dass ich mich in letzter Zeit zuviel mit Heinrich von Kleist beschäftigte und Stil wohl dann doch irgendwo ansteckend sei, – hätte ich ja nun doch gern gewusst, wie es weiter ging, aber, typisch für solche Morgenträume, er verweigerte die Antwort und trat stattdessen matt, müd und marod komplett auf der Stelle.

Dafür war er, der Traum, bereit, mir mitzuteilen, Joliasse (was für ein beknackter Name!) sei ein aufstrebender Künstler, der das Genre des Flipclips ersonnen habe. Dabei handelt es sich um visuelle Werke, die für ein Bild zu lang, für einen Videoclip aber zu kurz seien. Es handele sich, so immer weiter der ambitionierte Traum, um Bildwerke, die ca. 2- max. 5 Sekunden lang einen Film zeigten; bekannt geworden sei beispielsweise das in der venezianischen Galerie „Bei Andreotti“  gezeigte Opus „Amphibisches Nirvana 2.0“: das Bild von einem abspringenden Frosch, der plötzlich dann nirgends mehr zu sehen ist. – Da ich im Träume-Notieren nicht geübt bin, kann ich die anderen Werke von Joliasse, und davon gab es eine üppige Menge, nicht mehr referieren; sie waren aber, soweit ich mich erinnere, sonder Zahl und verblüffend facettenreich.

Träume ist also das Stichwort. Freud, der alte Scharlatan, lag mutmaßlich völlig daneben, aber ich frage mich doch: Versagt die wissenschaftliche Traum-Theorie noch immer – oder ist Demenz viel vergnüglicher, bunter und interessanter als angenommen? Offenbart einem der miese Morgentraum ein schlummerndes Genie oder will er bloß sagen: „Das nächste Mal bitte, halten zu Gnaden, abends weniger Wein!“

Noch nicht gänzlich verworfene Projekte

5. Juni 2011

Keine Panik – ich bin es bloß, der Magister K.

Einen Tag lang in einem überdimensionalen, mindestens 1,90m großen Hühner-Kostüm (an Helfer für den Kopf denken!) durch die Stadt laufen, hyperaktiv mit den Flügeln schlagen und helle, heillose Aufgeregtheit demonstrieren. Passanten über den Sinn der Sache spekulieren lassen (Atom? Gurke? Die da oben, die Banker, die Euro-Spekulanten, das Schweinesystem? Aus Solidarität mit Japan, Spanien, Is- oder Griechenland?), – ansonsten Engagement durch permanentes Gackern unter Beweis stellen. Falls technisch machbar, Mitbürgern gelegentlich sanft auf den Kopf picken.

Die Ausweitung der Grauzone erforschen, medialen Debatten-Krieg gegen das Entweder-Oder anzetteln (FAZ und ZEIT anrufen!). Pamphlet „Für mehr dazwischen!“ gegen die diktatorische Bi-Polarität von Yin und Yang, Amok und Koma, Mann und Weib, AC/DC, brutto und netto usw. entwerfen. Natürlich geht „ein bisschen schwanger“ sehr wohl – halb tot oder fast wahnsinnig geht ja auch! Mit dieser These durch Talkshows tingeln. Auf die Frage, ob das ernst gemeint sei, bedächtig den Kopf wiegen. Vermeiden, Fragen mit Ja oder nein zu beantworten.

Einen aufblasbaren Schwimmgürtel (evtl. rosa Krokodil oder sehr gelbe Ente) kaufen (klären, ob es das in XXXL gibt!), über den eh schon dicken Bauch stülpen, die Straßenbahn besteigen. Empörten Fahrgästen erklären, meine Religion beföhle mir solches, andererseits trüge ich den Gürtel aber auch aus freiem Willen, weil ich mich sonst nicht komplett angezogen fühlte. Zeter und Mordio schreien, falls jemand (Rechtsradikale!) mir die Luft aus der Ente lassen wollte. Flammende Anklage gegen die tägliche Diskriminierung von Dementen und Altersstarrsinnigen formulieren. Ggf. Verband gründen.

Einen Doku-Spielfilm über die ersten 21050 Tage meines Lebens drehen (unbedingt Mäzene finden!), Arbeitstitel: „Trauer, Tragik und Trostlosigkeit des Ego – Die Kirche der Angst vor dem Knall im Kopf“, bei der Biennale in Venedig einreichen. Plagiatsvorwürfe energisch dementieren. Mein Ableben bekannt geben. Nachrufe ausschneiden, sammeln und abheften (delegieren!). Als Buch/Video/DVD herausgeben. Mein Ableben dementieren. Als Untoter durch die Talkshows tingeln, evtl. Interview mit der ZEIT (Giovanni di Lorenzo).

Schon mal geeignete Heime besichtigen. Fragen, ob ich Hühnerkostüm bzw. Schwimmgürtel mitbringen darf. Einen Film (Werner Herzog anfragen!) über meine Zeit im Heim: „Alter und Tod eines Enfant terrible“. Alterswerk planen. Interview in der FAZ (unbedingt Schirrmacher, nicht Bahners!). Mein gesamtes Geld verschenken (BILD: „Sind wir alle dement?“), neues Pamphlet: „Warum ich den Schwimmgürtel trage“.  Im Hühner-Kostüm durch die Talkshows tingeln. Kapitalismus anprangern. „Kirche des wollüstigen Alkoholismus“ gründen. Vielfältige mediale Aktivitäten: CD mit Trinkliedern; Vertrieb von GPS-Spezial-Geräten für Menschen, die aus der Kneipe nicht mehr nach Hause finden; gemeinsame Auftritte mit Joopi Heesters. Eine Oper über Hitler schreiben (für Drehbuch Guido Knopp gewinnen).

Nach der Weltherrschaft greifen. Erste Maßnahmen: den Kapitalismus, Afrika, Dreiviertel-Hosen und deutsche Volksmusik verbieten; übergewichtigen Männern über 60 das Tragen von Schwimmgürteln verordnen; das aufgeregte Huhn ins deutsche Staatswappen aufnehmen (weg mit dem arroganten Adler!), sonst so milde wie möglich regieren.

Endlich mal nachschauen, wohin ich meine Medikamente verbaselt habe.

Kirche, Kunst, Wurst

22. Oktober 2010

Protzblitz: der Dom!

Abgesichert durch Geistesmagistertum und Hochkulturjob leiste ich mir gelegentlich entspannungshalber und stimmungsabhängig Anfälle braatzbrutalen Banausentums. An solchen Tagen gönne ich mir die Exzentrizität, megalomanisch bombastischen Kirchenprotz, selbst wenn er steinalt und kunsthandwerklich erste Sahne zu sein scheint, dennoch hässlich und gemein, zumindest undelikat und indezent zu finden. So ist für mich beispielsweise unsere Duisburger Moschee (die größte in Deutschland), von der die harmoniesüchtige Integrationspresse behauptet, „der Volksmund“ (ha!) nenne sie „das Wunder von Marxloh“ (in Wahrheit bloß eine dieser bescheuerten, ekelhaften Medienfatzke-Quatsch-Erfindungen), architektonisch nichts als eine brunzdoofe altosmanische Herrentorte – einfallslos, rückwärtsgewandt und ein Relikt aus der Durchschnarchzeit von Sultan Selim dem Unseligen, auch wenn oder gerade weil sie jüngst neu gebaut wurde. Ein „Wunder“ ist lediglich, dass deutsche Baubehörden so etwas genehmigen! Aber keine Angst, mein Amok-Lauf macht vor dem christlichen Abendland nicht halt.

Der Erfurter Dom zum Beispiel. Mann, Mann, Mann. So eine hybride, offen geistesverwahrloste, beschämend demutvergessene und satanisch hoffärtige Aberglaubensfestung! Todsünde der superbia. Ein ärgerlich motzmördermonströses Monumentalgebirge aus Stein und Bein vulgo eine gigantomanische, petrifizierte Weihrauchvergiftung! Sturblöde, dummdreist auftrumpfende Einschüchterungsarchitektur von Bischof Kinderschreck, patzig und erzkatholisch anmaßend auf den Hügel geklotzt und präpotent selbstverknallt in den mitteldeutschen Himmel geschraubt, menschenfeindlich und gottbesoffen, selbstherrlich, herrisch und hochmögend wie sonst nur der Turm zu Babel oder der Dom zu Köln! Das ist donnich schön! So wohnt nicht Gott, sondern der Anti-Christ. Feige ducken sich die Stadthäuschen unter dem dräuenden, absurd lächerlichen Albtraumschiff. Thüringer und Touristen ziehen bänglich die Kopf zwischen die Schultern, wenn sie zum finstren Mons Trumm hochgucken: „Manno, det Ding lässt sich janichma in eim Stück knipsen, Mensch!

Der Mensch, die Laus. Damit er sich noch kleiner, erbärmlicher und insektenhafter fühle, haben die Erfurter vor dem kathedralen Fossil-Dinosaurier einen weiten, leeren Platz gelassen, so riesig, dass es für ganze Kirchen- oder Reichsparteitage reichte! Man muss sich das mal vorstellen! Ausgerechnet Erfurt, die zipfelmützig verschnarchte „Landeshaupt“-Stadt unmodern beengter Gassen, treudeutscher Touristen-Tristesse und verwinkelter, windschief und haltlos sich aneinander klammernder Fachwerkbutzen klotzt mit einem innerstädtischen Freigelände, auf dem sich sämtliche erzabbauenden Zwerge des Erzgebirges versammeln könnten, um „Hosiannah“ zu schreien.  („Hosiannah“ ist übrigens aramäisch und heißt so viel wie „Herr, hilf bitte!“) Der Herr kommt und hilft aber nicht, ist ihm hier viel zu zugig und ungemütlich. Ich wundere mich aber nun nicht mehr, dass Luther ungefähr hierorts erstmals den Plan fasste, die aufgeblähte Mutter Kirche mal wieder auf den Teppich der menschlichen Realitäten herunter zu holen. Jedenfalls mich, den gewisse spät-byzanthinisch-frühromanische Basiliken (wie auf Torcello in der Laguna della Venezia) schon zu Tränen der Ergriffenheit rührten und an den Rand der Konversion brachten, ließ die monströse Monstranz spirituell kalt wie eine heidnische Hundeschnauze.

Gute Wurst, gutes Karma

Indes: Ganz unten links auf dem frommen Aufmarschgelände unter dem Dom steht in vorbildlich demütiger, wahrhaft christlicher Bescheidenheit eine andere, wesentlich menschenwürdigere Kathedrale thüringischen Kulturschaffens: Ein alter Mann, eng umhüllt von einer dünnen, niedrigen, schief gewachsenen Blechröhre, aus der heraus er ehrliche, ungemein preiswerte Rostbratwürste verkauft, der Region bescheidenen Beitrag zum Weltkulturerbe. Diese Bratwürste sollen ja in ganz Thüringen weltberühmt sein! Also reihten wir uns, von der mühseligen Dom-Besichtigung (diese Freitreppe allein! Eine Bußfertigkeits-Turnübung!) noch flauen Magens, geflissentlich in die Käufermenge ein. (In Erfurt steht man halt Schlange, nicht weil man müsste, sondern weil man es von früher her so gewohnt ist.)

„Und? und?“ beben die Leser vor Ungeduld, „wie ist die denn nun so, diese berühmte  Weltkulturerbewurst?“ – Hm, nun, eigentlich … gar nicht schlecht. Schmackhaft, doch. Leicht und unfettig, die Haut, der Darm, zart wie unschuldige Jungfrauenhaut, das fluffige Brät ohne Phosphat und anderen teuflischen Scheiß- und Schwefeldreck. Eine gottesfürchtige Wurst, wie sie in der Bibel steht: „Dein Wort sei ja, ja, nein, nein.“ Bzw. „Ich hätte – ja, ja! – gern noch so eine!“ Experten, die sich auch gern Glaubenskriege über die einzig wahre Curry-Wurst oder andere Trivialitäten liefern, werden mir sagen können, ob die auf dem Dom-Platz dargereichte Bratwurst auch zu Thüringens Ehre gereicht und „authentisch“ ist.

Als ketzerischer Häretiker, Renegat und Eklektiker, der sich aus jeder Religion nur das beste nimmt, halte ich es hier mit dem Hinduismus: Anderen Leuten was Leckeres zu essen zu geben, macht gutes Karma. Der Dom hingegen machte mir schlechte Laune. Gut, die Orgel war soundmäßig eine Bombe, und es hingen viele so komische halbrunde Bilder an den Säulen, vom finsteren Mittelalter schon ganz eingedunkelt. Sie zeigten im Wesentlichen, dass die Leute früher noch nicht so gut malen konnten. Der düster überschnörkelte Hauptaltar, unter der Last seines frühbarocken Deko-Schmonzes fast zusammenbrechend, offenbarte, dass die gemeinsame Basis aller Glaubenssysteme eine hysterische, überkandidelte  und hirnvernebelnde Art von selfmade-Voodoo ist. Singen, Tanzen, Hühnerschlachten, Bauen – alles der gleiche Wahn.

Im Vergleich also: 1:0 für Thüringer Wurstigkeit!

 

Hier die podcast-Version, vom Autor gesprochen, unter Verwendung eines Loops vom Esbjön Svensson Trio („Behind the yashmark“)

erfurt



 

KRASKA ERKLÄRT KNAPP UND ARROGANT EIN KUNSTWERK

27. April 2010

Nee, die sind nicht weg! Wo sollen sie denn auch hin? Ausgestorben, wie ich mal dachte, sind sie jedenfalls nie nicht: Die unverbesserlichen Querulanten, Volkssturmpfleger, Kunstspießer, Nörgelproleten, kommunalen Kommissgünstler, die eckensteherischen Bescheidwisser und notorischen Leserbriefschreiber, die Moppelkotzmotzer, Emil-Tipper und Klischee-Klistierer mit ihren unvergänglich ewigem Gemaule: „Datt is donnich schööön!“, „Dafür hamse nu Geld!“, „Stattse earsma’n Kindergarten bauen!“ (Sekundant: „Odern Hallenbad!“) Wie der Pavlovsche Hund beginnen sie unvermeidlich zu geifern, wenn wo mal ausnahmsweise Kunst klingelt. „So’ne Kunst könn wa auch!“ – Volkes Stimme ist nach wie vor zum Verlieben. Schön, daß man sich auf etwas verlassen kann, und wenn es die beherzte Strunzdoofheit der Masse ist.

Sozial engagiert, wie ich bin, fertige ich zuerst die intellektuellen Kassenpatienten, die sog. „einfachen Leute“ ab. Erstens: Nein, die Stadt hat keinen Cent bezahlt; das haben Sponsoren gemacht; zweitens: Jahaa, das ist in der Tat Kunst, und wenn ihrs nicht begreift, was ja keine Schande ist, – dann fragt halt, bevor ihr hier ’rumbölkt! Drittens: Nein, seit ungefähr hundert Jahren oder etwa drei Generationen muß Kunst nicht mehr „schöön“ sein, Ihr Punks, im Gegenteil, daß was Ihr „schön“ findet, ist leider grad KEINE Kunst, sondern Kitsch; viertens, was „die da“ können, könntet Ihr eben genau nicht „genauso gut“, weil, wenn Ihr dazu in der Lage wäret, würdet Ihr echte Kohle verdienen und nicht am Büdchen Euer Hartz IV-Bier süffeln müssen, Ihr stammelnden Stamm-Tischler! Zack! Rumms! Autsch. Das saß! – Zugegeben, recht herzlos harte, aber doch nichtsdestoweniger ehrliche, ja,  notwendige Worte.

Das coole Volk der Durchschnittsurbanisten eilt am rosa Trumm vorbei und zuckt die Achseln: „Na ja…“ Junge Frauen bewitzeln kennerisch frivol die relative Bescheidenheit des Gemächts; anderen erscheinen die Proportionen nicht recht realistisch; ältere, aber dennoch coole Menschen fühlen sich von der puddinghaften, fleischfarbenen Nackigkeit zwar genervt, aber dezent genervt. Nur grad eben so nadelstreifengenervt.

Bleiben die Handvoll Wissbegierigen. Sie wenden sich an den Magister, der hat Zeit, der weiß Rat, der hat ein gutes Wort für sie. Klar, sagt er, Kunst ist das schon. Die Skulptur, eine ziemlich originalgetreue Reproduktion des „David“ (1501/1504) von Michelangelo stammt vom international bekannten Künstler Hans-Peter Feldmann (1941). Wie sein Florentiner Renaissance-Vorbild ist die David-Skulptur von Feldmann über fünf Meter hoch (mit Sockel sogar 9m), und wie Michelangelos Werk ist der biblische Heros etwas unrealistisch proportioniert, weil die Skulptur ursprünglich mal dazu bestimmt war, aus extremer Untersicht bestaunt zu werden, in welchem Falle die Harmonie wieder stimmen würde.

Feldmann hat aber was dazu getan. Seine Plastik ist ein ziemlich pop-krasser Remix des Originals, das, wie der Toskana-Tourist und Bildbandbesitzer wohl weiß, aus edlem schneeweißen Carrara-Marmor besteht, während Feldmann mit Marzipan und Vanillesauce arbeitet. Nee, war’n Scherz, aber es sieht zumindest so aus. Seine David-Replik ist schweinchenrosa angepinselt, die Haare diabetesgelb, das Aug blitzt hellhyanzinthenblau. Was ist daran der Witz?

Nun, die Renaissance heißt so, weil man sich um eine Widergeburt des „antiken“ griechischen „Geistes“ bemühte. Die überkommenen Statuen der hellenischen Bildhauer  schienen einen edlen Geschmack zu transportieren: Schneeweiß, abstrakt, fast transparent. Das wollte man in der Renaissance wiederbeleben, und noch im 18. Jahrhundert schwärmte unser deutscher Chef-Archäologe Winckelmann von „stiller Einfalt und edler Größe“, welche die griechische Plastik angeblich verkörpere. Aber Pustekuchen, Leute! Was man schon länger vermutete, aber erst kürzlich wissenschaftlich beweisen konnte: Die Griechen, recht kindliche Gemüter wohl, pflegten ihre heeren Götterstatuen knatschquietschebunt anzumalen, grell disneyfarben und „geschmacklos“ wie die Hölle. Ihre Aphrodite war ’ne Barbie! Und unser Antiken-Bild ein frommer Wunsch.

Feldmann zeigt uns nicht mehr, leider, aber auch nicht weniger als dies: Kunstwahrnehmung ist historisch wandelbar. Was wir heute am Kantpark eher als kitschige Zumutung empfinden, ist sozusagen das hellenische Original; Michelangelos schneeweißer Meister Propper hingegen eine retrograde Illusion. So kanns gehen, zeigt uns der Künstler. Und was „schön“ gefunden ist, unterliegt, wie auch sonst, dem Wandel der Zeiten. Unser Geschmack hat sich an Vorbildern gebildet, die es so nie gegeben hat. Und das gibt, wem es recht ist, zu denken!

Freilich, als Denkanstoß ist der Fleischklops ziemlich monumental. Aber auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!

Unnützes unverzichtbar (sonst: Godzilla!)

25. Januar 2010

UNNÜTZES UNVERZICHTBAR

Wahrlich aber, ich sage euch: Bald werden alle Städte im Zentrum aussehen wie Bitterfeld, Wladiwostok oder Detmold. Überall werden die Innenstädte durch identische Shoppingmalls ersetzt, die so viel Charme haben wie eine feucht gewordene Fototapete von Las Vegas (im Morgengrauen). Die vulgärpompösen Plexiglaskomplexe sind schon bei der Eröffnung Ruinen, nur sieht das keiner, weil der Geldschein so blendet. Hier hält der nackte Kaiser Modenschau. Kettenladenketten, Franchise-Scheiß, Systemgastronomie: Gäähn! Man möchte konvertieren und den Großen Godzilla anbeten: Oh möge das Häuserzerstampfmonster kommen und alles zu Brei stampfen!

Spätestens unsere Enkel werden vergeblich in ihren E-Book-Lexika blättern und den Begriff „Unikat“ nachschlagen. So was werden sie nicht mehr kennen, die armen Nachgeborenen. Das haben wir ihnen versaut! Dinge, die es nur ein einziges, unverwechselbares Mal gibt, wird man nicht mehr finden, und wenn man sich den Arm aus-googelt. Die Serie wird regieren, die Wiederholung, die pur-doofe Redundanz. Kinder, die nicht aussehen wie Heidi Klump oder Karl Lagerhut, werden eingeschläfert, alles hat massenkompatibel konforme Normform und man kaut allenthalben gelangweilt eklig-banale Retortentorten. Um es mit dem Futurindianer und Schwarzseh-Häuptling Dunkle Wolke zu sagen: Spätestens, wenn der letzte kleine Laden, der noch Witz, Charme und Individualität barg, seine Pforten schließt, werdet ihr merken, daß man Langeweile nicht essen kann. – „Der Müll, die Stadt und der Tod“ (Rainer W. Fassbender), diese drei werden dann wohl Synonyme sein, und das wäre gewiß, um wiederum an George Orwells „1984“ zu erinnern, „doppelplusungut“!

Wenn man dann dereinst unzufrieden, genervt und deprimiert durch diese bargeldlose Weltautomatenwelt schnürt, wird man sich fragen: Was ist es nur, was hier fehlt? Was macht denn die Urbanität einer Stadt aus, gleichviel ob Mediokritätsmetropole oder marodes Mittelaltermuseum? Nun, was schmerzlich vermisst werden wird, sind jene kleinen, geheimnisvollen, schrägen, ja, geradezu unwahrscheinlichen und unter betriebswirtschaftlichen Aspekten völlig aberwitzigen Geschäfte, als deren Seele ein wirklicher Mensch wirkt, der seinen sehr persönlichen Träumen nachhängt. Unnütze Abgelegenheitsgeschäfte, heroische Umsatzzwerge, wunderbar taugenichts-tagediebische Phantasmen-Handlungen, in denen man, wie im Traum, nur Dinge bekommt, die noch keinen Namen haben. Ein solches Geschäft, und es gibt es tatsächlich noch, ist beispielsweise das „Chamäleon“: Ein Kontor für „Klamotten, Klunker, Kitsch und Kunst“

Das „Chamäleon“ ist, bei allem Respekt, ein veritabler Kramladen, aber auf hohem Niveau und, bei allem bunten, wüsten, funkelnden Durcheinander, streng durchstrukturiert: Hier gibt es kein einziges Ding, das sich dem Diktat trivialer Nützlichkeit unterwirft. Buddhas aus Messing, Keramik, Holz oder Katzengold, thailändische Puppen, kambodschanische Schrumpfschopfmöpse, indonesische Zaubernussknacker, prahlerisch prächtige Prunkpiratenperlen, schneewitzige Spiegeleien, ornamental-orientalische Ohrgehänge, marionette Nettigkeiten, Funkelzeug und französische Glanzfransen, fiktive Figurinen und Nippon-Nippes, dazu Sektflöten und Süßweinglasharfen, Feuerzeugsalamandersammlungen, schimmernde Dingsbumsgirlanden, archivarische Folianten, kurz, eine ganze hochgestapelte, tief gestaffelte, übervollgestopfte Wunderwelt magisch-kuriosen Krimskrams – wie bei Pipi Langstrumpfs Oma auf dem Dachboden! In dieser kleinen Traumanstalt regiert nicht die Ökonomie oder der Pragmatismus, sondern die schamanische Logik des Hosentascheninhalts achtjähriger Knaben: Bunte Steine, Bindfädenknäuel, Stiftestummel, Fadenkreuze, Froschmumien und perlmutterne Kindsknöpfe klumpen sich in talismanischer Manie zusammen, um auf frei-eigenwillige Weise ihre Unverzichtbarkeit zu behaupten.

Als Herrscherin dieser Zauberhöhle präsidiert eine etwas unwirklich wirkende Grand Dame, Frau Doris Eberlein, eine weißhaarige Glamourettendiva  und gewesene Schönheitskönigin, der man eine nicht unerhebliche Vergangenheit zutraut, als artistische Ausdruckstdiseuse vielleicht, als mondäne Millionärsherzensbrecherin, mütterliche Musikermuse, Mätzchen-Mäzenatin und Salon-Dompteurin. Frau Eberlein, eine gelernte Traumtänzerin, glaub ich, ist eine Legende, die allmählich in Vergessenheit gerät. Wer kennt noch ihren bewundernswert bizarren, in einem aufgelassenen Sarglager eingerichteten Kleinkunst-Salon, in dem sich Schauspieler, Lebenskünstler und entlaufene Philosophen zum  Gedankenaustauschumtrunk trafen? Er ging, zehn Jahre ist das her, in Flammen auf. Zurück blieben Erinnerungen, die nur noch wenige teilen.

Auch wer gerade nichts Unbrauchbares benötigt, sollte das „Chamäleon“ und seine Kramkönigin aufsuchen, denn beides. Laden und Lady, sind Unikate, Originale, Persönlichkeiten, also das, was es bald im Stadtbild nicht mehr geben wird. Ein Phänomen, das an den ursprünglichen Sinn von Kultur erinnert: Überschüssig Unnützes, das unverzichtbar bleibt.

Jour Fixe bei Winterseel (8): Kunstdouble im Blutbusiness

21. Juni 2009
burgtheater_500

Enver Konopke (r) in seiner Paraderolle als Hermann Nitsch

KONOPKES JOB

für jou

Die Nachricht schlug im Salon ein wie eine im Gottesdienst geworfene Wasserbombe: Enver Konopke, unser selbsternannter Paradiesvogel, der einmal einen mehrtägigen Schluckauf bei Altlyriker Anatol Blankenvers ausgelöst hatte, indem und weil er sich selbst als „metaphysisch unbehost“ bezeichnet hatte, Konopke also, der unverbesserliche Schnorrer und durch langjährigen Alkoholmissbrauch stark verwirrte (Konopke: „Wieso’n jezz ditte? Missbrauch is höhssens, wennssu dich damit die Füße einreibst!“) Sohn eines preußisch-protestantischen Pedanteriewarenhändlers aus Rixdorf, hatte neuerdings, so mussten wir trotz aller ungläubigen Verblüffung realisieren, einen Job! Einen veritablen Arbeitsplatz! Und zwar, wie er kryptisch per unfrankierter Postkarte mitgeteilt hatte, „im Auslandseinsatz, höheren Orts in der allerobersten Welt-Kunstszene“! Erregt bestürmten wir Frau Geisträtin Mag. Isolde Kobloch-Gumpertting, Winterseels alte Integrierte-Gestalttherapeuttin, Psychoanalytikerin und Holographologin aus Wien, die uns die gute Botschaft mit verschmitztem Lächeln erläuterte: In der Tat sei Konopke, der religiös so hoffnungsfern Verwahrloste, bei einem mehrtätigen Casting auf Schloß Prinzendings als einer von mehreren Doppelgängern eines berühmten, nichtgenanntwerdenwollenden Wiener Malers und para-mystischen Aktionskünstlers engagiert worden!

Ein paar Augenblicksmysterien lang senkte sich eine Stille über den Salon, daß man das räuspernde Knospen, Knispeln und Knobeln von Milliarden Synapsen hören zu können meinte. „Neiiin!“ kreischte es dann, Sven Aaron Mangold, der Einserjurist, war wieder mal der Fixeste, „neiiin! Vom Nitsch? Doch nicht vom Nitsch, oder? Vom Blut-und-Hoden-Nitsch?! Konopke und … Nitsch??!“ Die Wiener Seelenprofessorin schmunzelte mit jenem unnachahmlich unergründlichen Analytiker-Gesichtsausdruck, den sie, dem Ondit nach, noch von Sigmund Freud selbst in mehrjähriger Lehranalyse übertragen bekommen hatte, und schwieg zur beredten Antwort ihr aufmunternd-vorurteilsfreies Ich-höre-Ihnen-zu-Schweigen.

„Wie? Wie’n Wien? Wassn? Wer issnn-ndieser Nnüscht?“ fragte Miss Cutie aufgeregt in die Runde. Sie schnupfnäselte noch, nach ihrer in einer Schönheitsnase mündenden Beauty-OP. Ironischerweise waren es ausgerechnet die Aquavit-Zwillinge, die schon mal einem „Orgien-Mysterien-Theater“-Spiel des berühmten Aktionskaspers Hermann Nitsch beigewohnt hatten. Verstanden hätten sie damals Nitsch nicht, nix, nüschte,  aber es sei sehr sinnenaufpeitschend, mystisch, mythologisch, liturgisch und para-ekklesiastisch, eklektizistisch und sogar auch etwas bemüht pseudo-dionysisch-orgiastisch zugegangen. Oder, um es mehr in der genuinen Ausdrucksweise der Aquavit-Zwillinge zu formulieren: Es war wohl in jeder Hinsicht „eine ziemliche Sauerei“ gewesen, bei dem mit dem Blut und Gedärm einer geschlachteten Sau herumgeschmiert worden wäre und, so Hauke, „so’ne s-plitterfasernackte Christussi hatten sie doa an so’n SM-Kruzifick-Kreuz angebunnen, und die mußte denn so’n ganzen Humpen Schweineblut runnerschlucken…“ – „Bah! Näh, was fürn Schweinkram!“ krakeelte Oma Hager im Brustton tiefsten Angewiedertseins dazwischen. Hinnerk ergänzte noch, man hätte zu dem Spektakel noch „so nebelartige Waber-Klang-Musik-Mansche“ gespielt, „so elektronische Softporno-Musik wie bei ‚Schulmädchenreport’“. (Hauke korrigierte: „Du meinz Emmanuelle Teil III!“)

„Und was hat nun unser Kamerad, der olle bekloppte Konopke, mit diesem Schweinkrämer zu tun?“ brachte Blankenvers die Diskussion wieder auf den Punkt. Nun, dies war rasch erklärt. Originalkünstler Hermann Nitsch sei es seit seinem 70. Geburtstag unendlich leid, überall den impertinent-beleidigenden, unverschämt-anmaßenden, nichtganzvondieserweltseienden Kunst-Naturburschen und Hundsbua zu geben. Das unentwegte Leute-Beleidigen, Kapriziösitäten-Vorgaukeln und Assistenten-Herumschubsen sei ihm in seinem Alter nicht mehr allein zuzumuten! Daraufhin sei die Entourage des Meisterswingers und Profi-Orgiasten auf die Idee verfallen, nach kleinen, drummeligen Opas mit grauem Bart und irrem Blick zu suchen, die evtl. nicht ganz richtig im Kopf, emotional instabil und metaphysisch beschlagen genug seien, um Nitsch an drei Abenden der Festspielwoche überzeugend zu doubeln und zu vertreten. Ende vom Lied: Enver Konopke hatten sie vom Fleck weg genommen und eingestellt! Mit Vertrag, Sozialversicherung und Ausfallgarantie!

Traurigkeitslehrer Arnold Winterseel, wie immer bemitleidenswert fröstelnd in sein schwarzes Samt-Sakko gewickelt, war gerade zur Tapetentür eingetreten, als aus dem Hintergrund eine straffe Sportsdame, die – wenn Fredi Asperger, der mir diese Information steckte, das denn mal richtig verstanden hatte –, als Modezarin firmierte und ihre Abstammung auf etwas undurchsichtige Weise vom finnischen Weihnachtsmann (?!) ableitete, mit einer Frage den verqualmten Luftraum durchschnitt: „Ist denn dieser Herr Konopke, wenn er von der Kunstwelt als Kunst-Nitsch akzeptiert wird, somit denn nun selbst auch als Künstler zu betrachten? Oder ist das vom Nitsch-Double Konopke vergossene Schweineblut weniger dionysisch-mysterien-orgiastisch als das vom Original-Nitsch verschmierte?“

Dr. Wintersell räusperte sich, um zu einem Vortrag über Ontologie, Semiologie und Phänomenologie des Orginalkunstwerks, der Kopie, der Fälschung und des Selbstplagiats anzusetzen, als die Amazone einfach weiter schwadronierte: „Weil, nämlich, ich kenn da einen angeblichen Star-Künstler, Cy Twombly, den gibt es in Wirklichkeit gar nicht, den hat man bloß erfunden, um mal zu testen, was fürn doofes uninspiriertes Gekritzel man den Leuten noch als Kunst verkaufen kann!“  Abermals stieg – wie „weißer Nebel wunderbar“ – Stille empor zwischen den Sitzgruppen. Diesesmal handelte es sich jedoch nicht um eine Schwingung des sprichwörtlichen Engelsflügels, sondern um frostig peinliche Betroffenheit. Alles starrte gebannt auf Winterseel, der, wie jeder sonst wusste, enger Freund und autorisierter strukturalistischer Exeget Twomblys gewesen war, und an dessen Stirn jetzt eine Vene deutlich pochend hervortrat. – Der fällige Vulkanausbruch blieb jedoch aus.

Winterseel seufzte nur milde und murmelte: „Gewiß, liebes Kind, der Meinungen sind viele, in Sonderheit der irrigen, aberwitzigen oder sonst der Häresie, Blasphemie oder Hebephrenie verdächtigen…! – Still, einer jeder in sich gekehrt, gingen wir an diesem Abend heim, allerlei Denkwürdigkeiten wägend.