Archive for the ‘Charaktere … die es auch gibt’ category

Würde ist kein Konjunktiv. Heroismus im Getränkewesen

9. August 2010

Gesine hatte ersichtlich eine harte Nacht, gestern, und jetzt ist es unversehens schon wieder Abend, und sie paßt mich, wie schon fünfundzwanzig Mal davor, im Treppenhaus ab und sagt, hörbar um deutlich artiluierte Aussprache bemüht, dasselbe, was sie halt immer sagt: „Sinnse nich so’ne Art Lehrer? Könnwa unss vlleich ma underhalten?“ Wenigstens hat sie heute weder ein blaues Auge noch blutverschmierte Lippen. Ihr Alter war wohl diesmal schon zu erschöpft, seiner obzönen Brüllerei noch Taten folgen zu lassen. Wie immer bestätige ich das erstere, gebe also zu, in der Tat „eine Art Lehrer“ zu sein, nämlich im Fach Philosophie und zwar für „Erwachsene“, und wie jedes Mal verzichte ich darauf, sie daran zu erinnern, daß wir uns seit einem halben Jahr duzen, und warte ergeben auf die obligatorische Fortsetzung. Sie kommt prompt: „Unn wass’n Ihre Frau oda Freunnin, da?“

Nun, diese sei, repitiere ich stoisch (und unterdrücke ein „wie schon häufiger erzählt“), „bekanntlich Fernsehjournalistin“, worauf Gesine, auch wie bei jeder Begegnung, die Backen aufbläst, die geschwollene Augen aufreißt und nach längerem scharfen Nachdenken triumphierend hervorstößt: „Unnich bin nämich Abbo-thehggerin!“ – Ja, klar. Daß das schon ein paar ordentlich lange Jahre her ist, aus bestimmten toxikologischen Gründen, übergehen wir, schon ein eingespieltes Team, in wortloser Übereinstimmung.

Gesine trägt heute einen ungewöhnlich schicken Hosenanzug aus schwarzem Leinen und hat großzügig in teurem Parfum (ich glaube: in „Laura Biagiottti“ oder der herberen Jill-Sanders-Variante) gebadet. Wie alle, in deren Blut selbstherrlich der Taumel rauscht, versucht sie sich betont gerade und vertikal in der Senkrechte zu halten, obwohl ihr recht eigentlich nach knochenlosem Zusammensacken zumute ist, aber sie verkneift sich die letzte Kapitulation noch. Der rührende Heroismus der Untertanen von König Alkohol! Wenige Menschen besitzen mehr Noblesse als gewesene Intellektuelle, die zu verbergen suchen, wie sehr die Verzweiflung sie im Würgegriff hat. Wenige nur, die ihre Restwürde mehr hüten als ihren rot unterlaufenen, trüben Augapfel! Zu meiner Überraschung fügt sie formvollendet würdig hinzu: „Wischense, ich seh die Welt mea so unner naturwischenssaftlichen … Geschwichtspungktn!“

Gesine fixiert mich dabei halb verliebt-hoffnungsvoll, halb mißtrauisch, als sei ich der unversehens und praktisch unverdient ausgerechnet ihr erschienene Erzengel Gabriel, und macht währenddessen ständig unsicher einen Schritt auf mich zu, um dann furchtsam wieder von mir abzurücken. Vielleicht bin aber auch ich es, der auf dem Treppenabsatz einen Schritt zurückweicht. „Ich weisch genau“, konstatiert sie etwas unlogisch und in trauriger Selbsteinsicht, „dass Sie meine Fahne riechn“. Illusionslos-trocken, mit einer Spur Resignation, ergänzt sie abschließend: „Das iss heut numa so!“ – „Ach, Mensch, Gesine…“, entgegne ich mit der sanftesten Stimme, über die verfüge, „du musst doch keine Angst haben. Ich verurteile Alkoholiker doch nicht, schon weil ich selbst „so eine Art Trinker“ bin. Daß du für die Tageszeit einen Tick zuviel Wein, Bier oder billigen LIDL-Schnaps intus hast, ist für mich noch kein Grund, dich nicht als Menschen zu behandeln.“

Kurrzum, als jemand, der ja wackligerweise und ich-schwach auf Toleranz und Respekt ebenfalls dringend angewiesen ist, versuche ich ihr klar zu machen, daß ich ihre persönliche Menschenwürde durchaus respektiere (selbst wenn sie keine „Naturwischenssaftlerin“ sein sollte, sondern bloß eine verlorene, hoffnungslose Ein-Euro-Jobberin, was sie in Wahrheit ja ist, wie jeder weiß!), und daß ich sie irgendwie schon, auf distanzierte Art, auch mag, mit ihrem angstvollen Hundeblick und ihrem nutzlosen, zittrigem Rest-Stolz, an den keiner mehr glauben will – wobei ich allerdings sorgfältig vermeide, daß sie in mir womöglich noch tatsächlich ihren salvatorischen Engel sieht. Ich meine, ich bin, letztlich, zwar ganz nett, – aber halt kein Sozialarbeiter oder so.

Gesine urteilt über ihren gewalttätigen ehelichen Trinkeridioten, von dem sie leider nicht loskommt, und der unten, in der Wohnung, verwaschen, aber unüberhör vor sich hin randaliert, mitleidlos: „Pah, der! Der hat sich donnich im Griff, ma wieder!“ Mit selbstkritischer Skepsis und ohne wirkliche Hoffnung prüft sie dabei routinemäßig, ob ich ihr ihre mühsam vorgespielte Kontrolliertheit vielleicht, wider Erwarten, doch abkaufe, kriegt das Ergebnis ihres Grübelns aber, ja, genau, ebenfalls wie immer, nicht mitgeschnittten, weil sie nämlich ein kleines bißchen unter Konzentrationsproblemen leidet.

Ohrenzeuge der redundanten, einseitigen Unterhaltung ist, freilich zu 95 % schwerhörig, unser Pitti, der ehemalige Hausbesorger, der gerade mit seinem klapperndem, klirrenden Leergutklingelbeutel unterwegs ist, und zwar „nache Trinkhalle, weisse?“. Sein täglich zwiefach zu absolvierender Gang, frisches Nachschub-Pils von der Bude zu holen und hinten im Fahrradschuppen zu bunkern, strukturiert ihm den Tag. – Hotte (70) wiederum, der schrebergartenbraun gebrannte, Gewichte stemmende Sportrentner von gegenüber, findet, der Pitti vertue sinnlos seinen ereignislosen Lebensabend. „Ich“, triumphiert Hotte würdevoll, „hab da ja wenigstens meine Kreuzworträtsel!“

Der Sportrentner und Kreuzwortzügler wohnt, wie gesagt, bei mir gegenüber, aber im vierten Stock, was bedeutet, er genießt, wenn ich des Abends mein Fenster offen stehen lasse, quer über die Straße hinweg einen privilegierten Überblick über das Interieur meines Arbeitszimmers. Er guckt mir zuweilen ganz gern sozusagen über die Schulter. „„Sachma“, inquiriert er deshalb messerscharf und listenreich, „bisse eintlich compudersüchtich? Ich seh dich die ganze Nacht immer an deine komischen Bildschirme hängen?“ Wenn er das fünfundzwanzigste Bier nicht gut vertragen hat, wird er gelegentlich auch noch etwas kess und fragt mich schon mal so Sachen wie, ob ich eventuell „v’lleich schwul“ sei? Von einer whiskey-bedingten, eigenartig indolenten, kühlen Melancholie umflort, konterte ich knapp: „Wieso? Hättest du Interesse? Ich dachte, ich wär dir zu jung?“ – Seither sind Macho-Hotte und ich dicke Freunde, was ich dadurch noch besiegelte, daß ich ihn beim Armdrücken gewinnen ließ. Hotte hält sich nämlich für unsterblich, und ich möchte ihm das – in seinem Alter! – nicht nehmen.

Gesine ruft mir derweil, ganz Intellektuelle und fürsorglicher Familienmensch, im Treppenhaus hinterher: „Wenn Se Philosoph sinn: — Camille!“. Sie schenkt mir dazu ein wattiges, verschwiemelt einverständnisheischendes Lächeln, scheitert aber hartnäckig beim Versuch, meinen Gegen-Blick zu fokussieren. – „Wie jetzt?“, frage ich, schon etwas genervt, zurück, „was ist mit, äh … Camille?“ Ich dachte nämlich, sie meinte vielleicht Albert Camus, aber nein, – _„dassis nämich so’ne Figur, die ich für meinen kleinen Neffen erfunnen hab! Könntennse da event-tuell ma eine Geschichte drüber erzählen, über den? Für mein’n Neffen? Und wir treffen uns denn irrntwo, und Sie erzählen etwas drüber, meinem Neffen da? Kriegn Se dat hin?“„Klar, Gesine“, höre ich mich sagen, „das machen wir! Das schaff ich!“

Wenig später treffen wir, der stocktaube Ex-Hausbesorger Pitti, Gesine, die verirrte „Apothekerin“, der unsterbliche Sportrentner Hotte und ich, der mysteriöse Melancholiemagister, uns an der „Trinkhalle 2003“ in der Walzenstraße wieder. Achtung: Die mobile Haus-Mischpoke auss’m Geddo kommt für Erfrischungsgetränke! Genau, wie der Vorsitzende Mao es empfohlen hat: „Getrennt marschieren, vereint zuschlagen!“ – Guerilla-Drinking.

Dort in der Bude drinnen sitzt, von 6.00 Uhr morgens bis 23.00 Uhr abends, sieben Tage in der Woche, sieben Tage Urlaub im Jahr, einsam, schweigend, in schier unmenschlich tiefe Meditation versunken, ein bärtiger und zweifellos komplett erleuchteter Buddha etwa meines Alters, der noch nicht mal Kreuzworträtsel löst, aber jederzeit bereit ist, blitzschnell aus seiner Versenkung zu erwachen, um uns Frisch-Bier und Ersatz-Bourbon zu verkaufen. Ihm fühle ich mich seelenverwandt: Er verzieht nie, niemals und in keiner Situation, eine Miene, was heißt: Er wertet und urteilt grundsätzlich nicht über Mitmenschen. Er macht keine Unterschiede. Der Mensch ist, was er ist. Oder trinkt. Sein Geschäft ist die ordnungsgemäße Gewährleistung des Alkoholnachschubs, nicht Moral oder charakterologische Menscheneinteilung. Ob er eine Meinung zu der Frage hat, wie man sein Leben sinnvoll verbringt oder eher vertut, ist nicht auszumachen. Sein in sich ruhender Baßbariton singt ohne Gemütsbewegung „Gudnaahmd“, „Macht Neunfuffzich“ und „Tschüs“. Nie mehr, nie weniger. Warum soll er sich auch echaufieren? Er weiß, wir kommen alle wieder, der Piiti (zweimal), die Gesine, Hotte und ich. Schon morgen vielleicht, oder wann das ist.

Gesine übrigens erkennt mich, zehn Minuten nach unserer letzten Begegnung, irgendwie doch wieder. „Tschulligung“, spricht sie mich schüchtern an, „„sinnse nich so’ne Art Lehrer…?“

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Unter Geiern

2. September 2009
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Denkt über seinen Job, was ihr wollt, aber er ist ein cooler Hund: Wolfgang Wiebold, König des Katastrophen-Journalismus im Revier!

Ich kenne ihn nicht persönlich, verfolge seine Arbeit aber schon seit mehr als fünfzehn Jahren. Er ist eine pittoreske Figur und für mich eine Art zwielichtiger postmoderner, neo-romantischer Ruhrpott-Held. Indirekt profitiere ich von Wolfgangs Unermüdlichkeit: Er, „der Mann, der niemals schläft“, hält mir sozusagen den Rücken frei. Seine Firmentätigkeit („Schwerpunkte“) gibt er an mit: „Unfälle, Brände, Feuer, Katastrophen, Anschläge, Explosionen, Mord, Totschlag, Sturm, Unwetter“! Und so etwas ist bei euch im Ruhrgebiet legal, fragt ihr? Nein, nein, Wolfgang Wiebold ist weder Brandstifter, Terrorist, noch Auftragskiller, und er macht nie viel Wind, geschweige denn Sturm! Wiebold ist schweigsam wie Clint Eastwood und leise wie Nick Cave.  Aber wenn im Ruhrgebiet irgendwo gerade die Wirklichkeit verblutet, abbrennt, zusammenbricht oder explodiert, ist WW auf eine fast mysthische Weise immer schon zur Stelle und hält alles mit der Kamera fest, um es an TV-Sender zu verkaufen. Seit dreissig Jahren ist er im Geschäft der Katastrophen-Geier, und er ist immer noch unangefochten der schnellste und hartgesotttenste Bilder-Jäger des Reviers. Selten, daß eine Leiche schon kalt ist, wenn er sie filmt, oder das Blut im Straßengraben schon getrocknet. Emotionen, Pietät, Diskretion kennt Wiebold nicht, ebenso wenig Angst, Sentiment oder gemütvolles Mitgefühl, so etwas kann er sich gar nicht leisten. Er ist ein stoischer Jäger, er muß dran sein, bevor die Sender ihre Teams schicken, d. h. notfalls Absperrungen überwinden, Polizisten ablenken, Flatterband überspringen, und dann: Draufhalten!

Wie Wolfgang das macht, daß er immer der Königsgeier ist, der als erster über der Katastrophe kreist? Diesem Geheimnis haben schon zig Reportagen, vom ZEIT-magazin bis zur ZDF-Doku, versucht, auf den Grund zu gehen. Gibt es ihn mehrmals? Hat er Mittelsmänner, Freunde in Polizeikreisen, einen Exklusiv-Draht zur Feuerwehr? Schwer zu sagen. Zu schlafen scheint er tatsächlich nicht, oder höchstens mal eine halbe Stunde am Ende des Monats, falls grad mal nichts los ist. Vielleicht ist das gut so, weil der Betrachter von Wolfgang Wiebolds Träumen möchte ich ja nicht sein! Ich meine: Was geht in der Psyche eines Mannes vor, der seit 30 Jahren tags und nachts ausschließlich Verkehrsunfälle, Massenmorde, Explosionen und Brände filmt? Das irre ist übrigens, daß Wiebold seine filmischen Brand- und Blutblasen keineswegs nur an die übelsten Privatsender verkauft: das von seinem Bildungsauftrag weitgehend unbeeindruckte Öffentlich-Rechtliche Fernseh, also ARD und ZDF, gehören zu seinen guten Kunden!

Und deswegen wiederum muß ich ihm ja auch dankbar sein! Nachdem die Gattin  mal wochenlang im Katastrophengebiet von Enschede verschwand, jobhalber, hat sich meine Wirklichkeitswahrnehmung etwas in Richtung Zynismus verschoben. Hör ich von einer aktuellen Katastrophe, denk ich leider nicht als erstes an die Opfer, sondern frag die Gattin in der Nacht schlaftrunken: „Mußt du da jetzt etwa hin?“ – Zu meinem Glück winkt die Gattin in 95% der Fälle ab und murmelt: „Nee, der Wolfgang war schon da. Die nehmen das Wiebold-Material als NIF (= unkommentierte „Nachricht im Film“)!“ – Danke, Wolfgang! Dein Job ist ein bißchen eklig, aber … einer muß ihn ja machen, oder?

Charaktere … die es auch gibt

22. Februar 2009
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Kraska mit peinlicher Verwandtschaft

Heute: Der Fremdschämer

Warum nur? Warum treibt es einem die Schamröte ins Gesicht, wenn ein anderer, möglicherweise sogar gänzlich  fremder, aber erkennbar unseliger Zeitgenosse Unsägliches, Unerträgliches oder gar vollrohr Brunzdoofes von sich gibt, zeigt oder tut? Warum ruft es das deutlich unbehagliche Gefühl dringlicher Peinlichkeit hervor, wenn wir, sagen wir jetzt mal: Thomas Gottschalk, Elke Heidenreich, Guido Westerwelle oder einer minder prominenten Nervgranate ansichtig werden? Des Fremdschämers Schamschwelle läßt sich leicht überschreiten: Moppel Merkels Monster-Dekolletée neulich, das altersgreise Papst-Wort, dementer Politikerquatsch, ein knallblöder Deppenapostroph, ein beknacktes Werbefritzen-Wortspiel („Weniger ist leer“), hochfahrende Kellnerinnen-Scheucher am Restaurant-Nebentisch, Deutsche mit Sandalen und weißen Socken im Ausland, debile ‚Deutschland sucht das Suppenhuhn‘-Juroren: Dem Fremdschämer verursacht das alles Pein. Errötend senkt er den Blick und steigert die Weltschamproduktion. 

Bei schweren Fällen kann der Fremdschämer schon mal aufschäumen – dann packt ihn der Hlg. Zorn Gottes (Altes Testament), und er würde herzensgerne mal rundum dreinschlagen, gründlich niedermähen oder eine komplette Sintflut schicken. In der Regel nimmt der Fremdschämer aber von Gewaltsamerem als der geballten Faust in der Tasche Abstand, denn er leidet an Sensibilitätshypertrophie. Meist hatte er schon als Kind eine Hundenase und Fledermausohren und ging Leuten aus dem weg, für die Robert Walser den Ausdruck „pomadisierte Gorrillas“ prägte.

Im Kern erwächst die Neigung zur Fremdscham übrigens nicht aus Misanthropie, sondern aus Eigenscham. Das ganze Herumlärmen, Platz-weg-Nehmen, Müll-Hinterlassen, Schlechtriechen, Schwitzen, die Pickel, das die Mitwelt-Nerven, Herumkrakeelen und Aufmerksamkeitsheischen oder Hilfebeanspruchen, das mit dem Menschsein als solchem verbunden ist, findet er peinlich genug schon an sich selber! Dafür hat er keine Fremden nötig! Der Mensch selbst ist das peinlichste Lebewesen nach dem Nacktmull! Es gibt viel zu viele, sie hören schlechte Musik, bestellen matschige Pizza, wollen immer mehr haben und wundern sich dann über Wirtschaftskrisen! Ist das vielleicht Schönheit? Anmut? Kosmische Zierlichkeit? Das ist doch Gottes Ebenbild nicht! Das lungert herum, kaut Drogen und trägt unelegante Klammotten, weiße Stiefel zum Beispiel, lila Strähnchen, goldene Handtäschchen und Acrylfingernägel! Das da nennt seinen Proll-Gören Finn-Luca und die kleine Prollette Claire-Jennifer-Chantal, das blöde Pack! Ist das nicht ekelhaft? Beschämend ist das! – So empfindelt der Fremdschämer. Er kann nicht anders, sowie einem leidtun.