Archive for the ‘Philosopher’s Corner’ category

Sparbuchführung

18. September 2012

 

Sparbuch geschrieben: Schmähmeister PS

Sparbuchdenker. „Man hätte eine Sonne werden sollen, und ist ein Sparbuch geworden“, schreibt Peter Sloterdijk in eines seiner Notizbücher, die er jüngst zu veröffentlichen für nötig hielt. Ob das „man“ eigentlich „ich“ heißen wollte, bleibt offen. Soll man in diesen Notizbüchern schmökern? Doch, doch, warum nicht? Der sympathische Zausel denkt ja wie gedruckt. Freilich, zu den üblichen hübschen Sprachspielereien, gelegentlichen Luziditäten und den unvermeidlichen hirnschwurbeligen Verstiegenheiten tritt jetzt schon ein wenig intellektuelle Altersarmut hinzu. Ich wüsste jedenfalls zum Beispiel nicht, was mir die Mitteilung eintragen sollte, dass der rastlose Fernsehphilosoph zu Hubert Burdas 70. Geburtstag ins Schloss Bellevue eingeladen war. Aber zugegeben, Sloterdijks Eitelkeiten sind immer noch hundert Mal erträglicher, als wenn Kasper David Precht im TV pantomimisch Nachdenklichkeit simulieren will, was eine so überanstrengte Vergeblichkeitsmühsal darstellt, dass einem schon beim Zuschauen der Schweiß ausbricht.

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Lustvoll. Darüber zu maulen, dass einem ständig Sachen mitgeteilt werden, die man überhaupt nicht wissen will, gehört zu den eher flauen Abgedroschenheiten feuilletonistischer Kulturmäkelei, ich weiß, aber dennoch, zuweilen schrickt selbst der abgebrühte Apokalyptiker zusammen: Auf einer frühherbstlich besonnten Fahrradtour durch die Stadt tritt mir aus einer Plakatwand eine etwa 72 Jahre (wie Hubert Burda!) alte Dame entgegen, die ein bisschen aussieht wie eine ältere Schwester der Schauspielerin Jutta Speidel, und brüllt mich in ca. 22,5cm hoch erigierten Lettern an: „Ich will’s lustvoll.“ Dazu schenkt die Dame im grauen Wollkleid mir einen Blick von einer Verschwiemeltheit, die tief blicken lassen möchte. Im Kleingedruckten befiehlt sie ferner knapp militärisch: „Mach’s. Aber mach’s mit.“ Leider besitze ich nicht die mentale Disziplin, darauf zu verzichten, darüber nachzudenken, was die Dame mit diesem dreifachen „’s“ meinen könnte und worauf ihre elliptische Andeutung letztlich hinausläuft. Immerhin gelingt es mir, mein visuelles Vorstellungsvermögen zu zügeln, bzw. zurückzupfeifen. Die Schamfreiheit mancher Mitmenschen imponiert mir. Ich würde für so eine Plakatkampagne nicht zur Verfügung stehen, weil ich mir vorstelle, wie ich an der Lidl-Kasse stehe und hinter mir tuschelt es andauernd: Hey – ist das nicht der alte Sack, der’s lustvoll will?

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Drittkleinster Satan. Ein Foto, das durch die Weltmedien ging, erheitert mich seit Tagen aufs Ungebührlichste; es stammt aus einer Kultur, in der es für Männer zu den angestammten Üblichkeiten gehört, lange Hemden und wild gesträubte Bärte zu tragen, wie angestochen mit den Armen fuchtelnd auf die Straße herum zu traben und dort lauthals, mit geschwollenen Halsadern Mord- und Hassparolen brüllend, fremder Leute Häuser anzuzünden sowie, nach Möglichkeit, Unschuldige zu massakrieren. Man muss das verstehen: Damit wollen sie legitimer Weise zum Ausdruck bringen, dass jeder, der ihre Religion dumm, hasserfüllt und gewalttätig nennt, den Tod verdient. Politiker in unserem Riesenzwergstaat äußern dafür vorsichtiges Verständnis. Aber jetzt zum Foto. Da steht einer jener Kulturträger vor der brennenden deutschen Botschaft im Sudan oder wo und versucht, mit einem Bic-Feuerzeug eine deutsche Flagge anzünden. So weit so na ja, gut. Da aber die muslimische Empörungsindustrie derzeit Lieferengpässe hat und Deutschland, nach den USA und Israel, bloß ein drittkleinster Satan ist, hat der Randalen-Vandale bloß so ein winziges schwarz-rot-goldenes Zipfelchen aufgetrieben, das in der DDR einst „Winkelement“ hieß und außerdem, wie es die deutschen Verbraucherschutz-Richtlinien wollen, auch noch äußerst schwer entflammt. Ich finde, das ist eine wundervolle Metapher, wofür darf sich jeder selbst aussuchen.

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Schmähmeister. Übrigens hat Peter Sloterdijk den Precht kürzlich als „den André Rieu der Philosophie“ bezeichnet, für den sich hauptsächlich „spätidealistische Damen über 50“ interessierten. Wo er Precht hat, hat er Recht. Vorerst bleibt der Schmähhans unser Küchenmeister!

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The long goodbye (III)

20. Juni 2012

Manche sozialen Forderungen im Geddo erschließen sich nicht von selbst.

Es ist Sommer. Sieht zwar nicht so aus, fühlt sich auch nicht so an, ist aber trotzdem so, also will ich raus in den Park, – Buch lesen. Dickes, schweres Brikett-Buch sogar. Scheiß drauf, was die Leute denken! Park im Geddo ist aber mal wieder mit stinkenden Müllbergen vollgeräumt, von Mitbürgen, die ich genau kenne, für die ich aber meine Hand nicht ins Feuer lege. Feuer legen tät ich im Viertel in Momenten des Zorns zwar schon ganz gern mal, aber das ist selbstredend ein inakzeptables Verhalten, das ich mit anmutiger Selbstverständlichkeit streng, aber gelassen verurteile, anprangere und dementsprechend auch widerstrebend unterlasse. Dennoch, multikulturelle Toleranz hin oder her, meine Stammbank im Park bleibt zugemüllt und stinkt. Die Abfall-Ratten haben vorsichtshalber ihre Anwälte mitgebracht, eine Schar im hohen Gras einherstolzierender Rabenkrähen im schwarzen Talar. C’honorarr! C’honorarr! kächzen sie gierig, alles wie immer. Keine Chance für Buch.

Dafür treffe ich, tiefer in den urbanen Regenwald vorgedrungen, den Marek. Der Marek trägt eine leuchtend orangefarbene Latzhose und ist es seines Zeichens assistierender, ansonsten weitgehend funktionsloser Begleiter des operativ leitenden Geräteführers einer körperkraftbetriebenen Ein-Sack-Abfall-Sammelmaschine der Duisburger Wirtschaftsbe-triebe. Der städtisch bevollmächtigte Chipstüten-Aufspießer  (Abteilung Klein-Abfall) heißt Horst, und Horst spricht jetzt ein Machtwort: „So. Pause!“ – Marek, ein melancholischer Mager-Pole, der zuhause in Krakau wahrscheinlich einen Doktor in Jura hat, und sich dadurch verrät, dass ihn mein Buch überhaupt nicht befremdet, erklärt mir auf Anfrage kompetent: „No, sagen wer ma so, der bekloppte Leut, wo nicht mal mindest der Zins entrichten tun fihr Sauberkeit von Stadt, der machen nebbich der meiste Dreck!“ So sehe ich das auch, selbst wenn ich es nicht so gut hätte ausdrücken können.

Erleichtert stelle ich fest, dass „Pausen“ bei den Duisburger Wirtschaftsbetrieben (vormals Stadtreinigung, noch vormaliger: Müllabfuhr) genug Muße lassen, um ganz in Ruhe zu frühstücken. Ich les derweil zwei-, dreihundert Seiten Unterhaltungs-Brikett weg. „Glennkill“, ein Bestseller, aber nicht wirklich richtig gut. Horst bietet Marek generös von seinem Formschinkenbaguette an. Der lehnt heroisch ab. Ja, wärs Pastrami gewesen. Dann trinkt man gemeinsam Fanta und meditiert. – Bester Satz im Buch übrigens: „’Es ist schön, dass wir nach Europa fahren’, sagte Cordelia nachdenklich, aber ist schade, dass wir dafür von hier wegmüssen.’ Die anderen Schafe nickten zustimmend.“ – Ich auch.

Um die Ecke werfen die Sons of Afrika ein paar Körbe gegen die Jungs vom Islam-Internat. Ahmed erklärt kurz, wie das geht mit dem Körbe-Werfen: „Erstens…“, sagt er und lässt den Zeigefinger vorschnellen, „musst dus wollen, Bruder, und zweitens…“, er zieht bedächtig am Joint und zeigt zusätzlich den Mittelfinger, „musst dus natürlich auch können.“ Doch, in etwa so könnte man das Leben im Geddo zusammenfassen. Ich bin froh, raus zu kommen – wenn man dafür bloß nicht hier weg müsste!

Elegie eines missratenen Zwerges

21. Mai 2012

Mein mutmaßlicher Vorfahr, empörend diskriminiert!

Wenn ich den emsigen Ahnenforschungen meines Vaters Glauben schenken darf, der freilich nur ein kleiner jüdischer Pedanteriewarenhändler aus Berlin-Rixdorf war, welcher sich gleichermaßen vorbeugend wie rückwirkend 1932 kurzerhand selbst arisierte, dann stamme ich von einer seinerzeit hochberühmten Dynastie von Hofzwergen und Unterhaltungskrüppeln ab; in letzter Linie geht die Sprossenleiter unserer Vorfahren vielleicht sogar auf Signore Braccio di Bartolo gen. Nano Morgante zurück, den Hofzwerg Herzog Cosimos I. von Medici, dessen (des Zwerges!) Angedenken freilich durch einen gemalten Doppelakt aus dem Pinsel des vermaledeiten Dreckskerls und Barock-Schmierfinken Giovanni Bologna einen übel despektierlichen haut goût empfing, den ich heute, mit 400 Jahren Abstand, schon noch immer als schmerzhaft diskriminierend empfinde.

Derzeit gilt ja Herkunft nur noch wenig, Zukunft allein – die Zukunft, die man sich erhofft, einmal zu haben! – ist alles. Heutige Kinder, sei es durch bloße Fahrlässigkeit, sei es durch Mutwillen in die Welt gesetzt, kranken durchweg an Indolenz und überbordendem Narzissmus, sie ehren ihre Erzeuger nicht und schon gar nicht die ehrwürdigen altvorderen Unterhaltungskrüppel!

Meine hohe Abkunft, das gestehe ich, bedrückt mich oft nicht wenig, denn ich bin ein missratener Spross: Wohl an die sechseinhalb Fuß hoch, in der Schulter anderthalb Klafter breit – und mein Korpus enthält, um ein altes Maß für Flüssigkeiten zu beleben, ca. viereinhalb Hosen Wasser, wobei die Gattin, mir beim Schreiben über die Schultern schauend, spitz einwirft, ob es bloß Wasser sei, dürfe man ja wohl mit Fug noch bezweifeln. Gleichviel, für einen ansehnlichen Zwerg ist mein Volumen beschämend, ja indiskutabel, denn von einem Zwerg mit dem Umfang des Heidelberger Weinfasses ist eine ordnungsgemäße Erfüllung der Dienstpflicht füglich nicht zu erwarten. Mein obig erwähnter – und durchaus etwas würstchenhafter –  Vater wäre im Zweifelsfalle mit seinen knapp Eins-siebzich eventuell noch als „Riesenzwerg“ (Gisela Elsner) durchgegangen, dank seiner als Arisierung getarnten Selbstverkleinerung, ich aber stehe durch meine monströse Verunstaltung dem professionellen Zwergentum nur noch als Zaungast gegenüber bzw. nicht mal gegenüber, sondern bloß so seitlich am Rande, und ich bin schlicht nicht imstande, die Familientradition fortzusetzen. Was mich tröstet (aber ist das ein Trost?): die Nachfrage nach Hofzwergen hat in der Gegenwart auf furchterregende Weise nachgelassen.

„Königliche“ (Ha!) Höfe wie der in Monaco, Belgien, Tonga, England oder Dings, Dänemark, sind dermaßen verpöbelt und verbürgerlicht, dass sie heute glauben, sie könnten gänzlich ohne Zwerge auskommen! Wie dumm, denn Könige ohne kompensatorische Zwerge sind ja selber welche! – Dergestalt aber gebricht nun meine Existenz ihres Ziels: Nicht gebraucht, aber auch ohnehin nicht geeignet, zu groß, zu dick, zu ungeschlacht, ein Trumm und zoologisches Monstrum, eine Art Tumor oder ontologischer Pickel, will sagen eine nutzlose Wucherung des Seins! Dabei bin ich charakterlich doch ein wahrer Hofzwergenspross: Ich darf an dieser Stelle mich höflich durch hoch trainierte Verschlagenheit, ferner durch approbierten Unernst, unbändige Spottlust und herausragende Bosheit empfehlen, den Tugenden meines Stammes, der freilich durch den jüdisch-polnisch-italiänisch-germanisch-moriskischen Genpool zu überraschenden Mutationen bereit und übermäßig  in der Lage ist. Denjenigen Menschen, denen meine Probleme fremd bleiben, darf ich wenigstens so viel verraten: Aussterben ist keine Lebensperspektive!

Mein Leben lang erstrebte ich, ein Unikat zu werden, nur um am Ende festzustellen: Als vermeintlich splendide Singularität führt man ein einsames, unverstandenes und selten belobigtes Dasein. Ein zu groß und dick geratener Zwerg stellt keine Attraktion mehr da, er entbehrt des Sensationellen, und man glaubt ihm auch nicht: Meine Beteuerungen, ich sei im Grunde und der Abkunft nach eigentlich ein, wenn auch geistvoller, Minderwüchsiger, erntet nur Unglaube, ja, offenen Spott, Hohn und herzloses Gelächter. Ich erlaube mir huldvoll, dies als philosophische Einsicht zu präsentieren: Immer ist man, wie Alice, die dem weißen Kaninchen folgt, entweder zu klein oder zu groß. Dass man einmal so recht behaglich passt in den Zauber der Wirklichkeitstheatralik, bleibt eine dumme Sehnsucht, ein blasser Traum und, am Ende, eine törichte Narrheit des unbelehrten Begehrens. Unvergessen die Weisheit des armen Kaspar Hauser: „Ich möchte ein Reitersmann werden wie ein anderer auch!“ – Ja, das wäre ein Lebensplan! Zu spät nun, zu spät.

Wie Immanuel Kant einmal in den Krautsalat fiel

4. April 2012

Kant-Salat

Also das kam so: Der Tag hatte schon „saublöd“ (Karl Valentin) angefangen, mit einem Halbalbtraum nämlich, in dem ich auf die zweifelhafte Idee gekommen war, eine Fahrradtour nach Teheran (!) zu machen. Am Abend wollte ich zurück in Dortmund (?) sein, obwohl ich da gar nicht wohne, und dann hatte ich kein Geld, keinen Pass, sprach kein Farsi, konnte die Schilder nicht lesen und kam aus der gottverdammten Mullahmetropole nicht wieder heraus; überdies war die Stadt auf der 9x7cm großen Weltkarte in meinem Notizbuch irgendwie verrutscht und lag plötzlich am Meer, anstatt im Gebirge, was mich zwang, endlos durch den Teheraner Container-Hafen zu gondeln, kurz, es wurde Nachmittag, die Sonne stand schrägtief, die Muezzine begannen schon von den Minaretten zu quengeln und ich war noch immer nicht aus dem Weichbild der Stadt hinaus – und dann ging auch noch das Licht an meinem Fahrrad kaputt! Wahrscheinlich waren Allahs Ajatollahs mir schon auf den Fersen bzw. Felgen, meine Stimmung entsprechend beinahe weinerlich. – So fängt kein guter Tag an. Und dann als nächstes der Müllschock!

Ich hatte nämlich am Montagmorgen Müll-Dienst und musste die geleerten Tonnen in den Hof verfrachten, eine im Sechs-Wochen-Rhythmus zu absolvierende Pflicht, die ich sehr ernst nehme. Also den Albtraum notdürftig weggeduscht, rasiert, geföhnt, in den legeren Straßenanzug geschlüpft, ohne Krawatte, aber gepflegt, die Stiege herunter auf den Bürgersteig und – Schock! Ein anderer Hausbewohner hatte meine Arbeit schon getan! So etwas kann ich auf den Tod nicht ausstehen! Ich bin eine Art Autist, ich habe praktisch Asperger, ich brauche verlässliche Strukturen und werde verdammt nervös, wenn mir einer in die Ordnung pfuscht. Zitternd hockte ich eine bange Stunde in der Stube, brutal um den geplanten Tagesanfang gebracht. Eine Weile überlegte ich, ob es nicht besser wäre, die Mülltonnen wieder hinauszubefördern, um sie dann ordnungs- und turnusgemäß eigenhändig wieder einzuholen, aber das kam mir dann selbst blöd vor.

Trotzdem, der Tag drohte im Chaos zu versinken. Außerdem waren Ferien, ich hätte die Zeit gehabt, online Solitaire-Mikado zu spielen, meine Weinkorken-Sammlung zu sortieren oder mir strunzdumme Sendungen im Plapperkasten anzuschauen – stattdessen knabberte ich Fingernägel, ventilierte zaghaft halbgare Pläne und beging zahllose, hier nicht darstellbare Übersprungshandlungen, deren Folgen ich dann zu beseitigen hatte. Bloß gut, dass die Gattin nicht da ist, um Zeugin zu werden, was ich anstelle, wenn sie nicht da ist! Ich bin derzeit nämlich nervlich besonders gefährdet, weil ich Strohwitwer bin. Sagt man das eigentlich noch? Strohwitwer? Jedenfalls die Gattin hat derzeit ihre Gesundheitswochen und ist in ein Wellness-Hotel gezogen, wo sie für viel Geld nichts zu essen bekommt, stattdessen aber vietnamesische Gesichtsreflexzonenmassage, Leberwickel und Glaubersalz. Ihr kulinarischer Tageshöhepunkt besteht in der Verabreichung eines Glases Sauerkrautsaft. Mich macht das ganz krank, ehrlich, obwohl sie das freiwillig tut; ohne das gemeinsame Kochen fehlt mir aber der Lebensmittelpunkt und die Tagesstruktur.

Aus Solidarität beschloss ich, wenigstens vegetarisch zu leben und bereitete mir nach Anweisungen aus dem Internet einen Krautsalat mit Tofu-Würstchen zu, um mal zu sehen, wie das ist, wenn man nichts Gescheites isst. Strohwitwerschaftssbedingt schon etwas verwahrlost übernahm ich mich indessen; ich wollte mangels menschlichem Gegenüber an meinem High-Tec-Schreibtisch speisen, guckte also dabei, linker Bildschirn, Fernsehen, beobachtete (rechter Bildschirm) das Internet, strich mit der einen Hand Senf auf die Tofu-Kringel, wollte aber zugleich was nachschauen und hielt deshalb in der Linken zusätzlich noch ein Büchlein von Immanuel Kant. Als aber dann auch noch das Telefon klingelte, begann ich unkontrolliert zu zittern, unvermutet trat Zerebralkrampf ein, die Motorik verschmorte und … Kant fiel in den Salat. – Es handelte sich übrigens um die „Kritik der praktischen Vernunft“.

Nachtod-Erfahrung (Unter Hirnis)

30. November 2011

Junge Leute auf der Suche nach ihrem Selbst (Foto entliehen von: http://www.yorkchristophriccius.de/)

Bekannte von mir, die religiöse Präferenzen ihr Eigen nennen, machen sich Gedanken über das Jenseits, wo sie, wie sie glauben, später mal hinkommen. Ich kann sie indes beunruhigen: Man befindet sich schon zu Lebzeiten dort! Man führt bereits eine Vielzahl von Existenzen im Jenseits  – in den Köpfen gänzlich wildfremder Menschen nämlich.

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Vor Jahren, als mein schwaches Ego noch nächtlicher Kompensation bedurfte, träumte ich gleich mehrmals hintereinander, irgendwo in einem entlegenen Bergdorf im Kaukasus, vielleicht war’s Aserbeidjan, Armenien oder Tadschikistan, stünde ein überlebensgroßes Bronzedenkmal von mir, da ich unter den derben Berglern dort nämlich quasi-religiöse Verehrung genösse. Die Gründe hierfür ließ der Traum trotz intensiver Nachfrage hartnäckig im Dunklen, sodass ich wochenlang ganz klamm, bang und steifbeinig durch den Alltag schlurchte, immer in der Furcht, ich könne evtl. der in der Fremde genossenen Ehre mich unwürdig erweisen.

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In Wilhem Genazinos wunderlicher Angestellten-Romantrilogie „Abschaffel“ gibt es eine Szene, die sich mir seit Ende der 70er unauslöschlich in die Seele einbrannte: Protagonist Abschaffel wird auf dem Frankfurter Römer von einer japanischen Reisegruppe gebeten, sie zu fotografieren. Nachdem er diesen Dienst freundlich erwiesen, wird er von den Japanern zum Dank ebenfalls geknipst – worauf er in eine träumerische, aber auch metaphysisch-abgründige Meditation darüber verfällt, wie nun demnächst sein Bildnis durch japanische Wohnzimmer zirkulieren und fremdartigen Kommentaren ausgesetzt sein würde, die Abschaffel sich hilfsweise mit einem ad hoc erfundenen Phantasiejapanisch anschaulich macht.

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Kürzlich stieß ich durch Zufall im Netz auf diverse Kommentare, die man unter Zitate von mir geschmiert  gepostet hatte.  Ein meinungsfreudiger Jungspund wusste, unbekannterweise („ich kenne den nicht“) über mich, ich sei „ein unfassbarer Depp“, überdies „ein Vorzeige-Antideutscher“ und „ohne Witz“. Ein anderer Krakeeler Diskussionsteilnehmer, der m. E. für den nächsten Zivilcourage-Bambi nominiert werden sollte, äußerte folgende freie Meinung: „So viel sinnentleerten Müll auf einem Haufen habe ich noch nie zu Gesicht bekommen (ich habe mir 6 Beiträge des sog. Magister Kraska ‘angetan’ um mir ein Urteil bilden zu können und es grenzte an Körperverletzung! ).“ Worauf er, der schwer Körperverletzte, einen heroischen Entschluss fasste: „…wenn ich Schwachsinn erkenne, nehme ich mir die Freiheit, als freier Bürger eines freien Landes meine Meinung dazu frei heraus zu äußern.“ Die Freiheit nimmt er sich! Trotz aller Repressalien, die er als anonymer Pöbelhannes von mir zu gewärtigen hat! Ganz schön mutig!

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Im Ernst: Ich finde solche Freiheiten legitim und billige sie. Es ist ein Vorrecht der Jugend, kurios Opa-Obsoletes wie Höflichkeit für eine negliable Überschätzheit zu halten. Im übrigen ist mir der Verdacht, eventuell ein „unfassbarer Depp“ zu sein, auch schon öfter gekommen, wobei freilich anzumerken wäre, dass ich mich zumindest aus intimem Umgang persönlich ganz gut kenne und sogar fast alle meiner Beiträge selber gelesen habe.

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Mir geht es hier mitnichten darum, Präpotenz, Impertinenz und Ignoranz junger Menschen zu geißeln – so etwas geißelt man doch nicht! Da schmunzelt man gütigst verzeihend – , sondern um die mit so etwas verbundene Nachtod-Erfahrung. Denn Todsein, ich glaube, Jean-Paul Sartre hat das mal ausgeknobelt, heißt, sich nicht mehr wehren können. Man führt ein gespenstisches Eigenleben in den Köpfen von fremden Hirnis, Köpfen, die nicht notwendig zu den aufgeräumtesten gehören, Köpfen von geistigen Hooligan-Pyromanen etwa, kaukasischen Bergbauern oder japanischen Deutschlandtouristen, oder in den Köpfen von jungen Menschen, von denen man hoffen darf, dass sie dereinst sich vor die Stirn schlagen und ausrufen: „Was war ich früher für ein unfassbarer Depp!“

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Diese Köpfe bilden das Jenseits. Dort spukt man in bizarren Gestalten herum und kann absolut nichts machen. Ich persönlich denke, so ist das Bedürfnis nach einem allwissenden Gott entstanden: Man möchte doch wenigstens EINEN Kumpel haben, dem man sagen kann: „Hey, du weißt es, Alter! Du kannst das bezeugen: Ich bin ganz anders!“

 

Subserwies: Gebäudereinigung als Kunstkritik

22. November 2011

Der Großkünstler Joseph Beuys wird gerade zu heiß gebadet (Fotoquelle unklar, möglichwerweise urheberrechtlich geschützt; Rechteinhaber dürfen sich melden!)

Brühwarm erlebt und erzählt: Heute (!) im Seminar. Es herrschte reichlich kregle Stimmung (Die elitären Philo-Seminare vom alten Magister gehören zu den ganz wenigen Belegen für die sonst schwer haltbare These, dass man „auch ohne Alkohol lustig“ sein kann). Grundsätzlich ging es um den Versuch, zwischen Heidegger und Baudrillard ein dünnes Seil zu spannen, auf dem eine Philosophie des Mobiliars zu entwickeln wäre. Möbel sind in der klassischen Philosophie nämlich ein total unterschätztes Thema. Lange Zeit wurde verschwiegen, wie handgreiflich und übergriffig Möbel auf Körper und Seele ihres Besitzers einwirken. Wir hatten jedenfalls gerade über die psychoanalytischen Aspekte des Resopals diskutiert, das im Deutschland der frühen 50er Jahre zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, indem es die Sehnsucht nach Abwaschbarkeit in eins mit dem Wunsch nach geschichtlichem Gedächtnisverlust stillte, also nationalen Waschzwang mit Sühneverweigerung kombinierte, da gerieten wir irgendwie auf abwegigere Fragen, ausgelöst durch einen Versprecher von Klaus.

Klaus hatte dabei das Phänomen „dieser Kunstputzfrauen“ ins Gespräch gebracht, jener teils offensiv ignoranten, teils fundamentalistischen Reinigungskräfte, die andauernd sauteure Kunstwerke ruinieren, indem sie hartköpfig die Dekontextualisierung des Gebrauchsgegenstandes und seine museale Rekontextualisierung als Kunstwerk missachten, und dem Beuys oder dem Kippenberger seinen künstlerisch applizierten Dreck weg machten, um das jeweilig zu Kunstzwecken missbrauchte Gebrauchsdings wieder seiner vermeintlich ordnungsgemäßen Bestimmung zuzuführen.

Ich warf, verschärft scharfsinnig, dazu die Frage ins Geviert, ob es sich dabei nicht vielleicht möglicherweise um eine subversiv-kritische Kunstputzfrauen-Bewegung handeln könnte, die klandestin daran arbeite, postmoderne Überspanntheiten im Kunstbetrieb der Lächerlichkeit preiszugeben. Ich meine, wenn Banksy in Museen einbricht, nicht um Bilder zu stehlen, sondern um Bilder hinzuzufügen, warum sollte dann nicht eine Kunstputzbrigade für frischen Wind sorgen, indem sie den aufgeblasenem Kunstfurz Einhalt gebietet? Ihre Maxime wäre der bekannte Ausspruch: „Ist das noch Kunst, oder kann das schon weg?“ – Die Gattin nennt solche immerhin denkbaren Aktionen, ebenfalls aus einem Versprecher geboren, sinnig: subservice (sprich: subserwies), was eine Mischung aus Untergrund und Dienstleistung beschreibt. Gebäudereinigung als Kunstkritik!

Die ganze ontologische Verwirrung der Dingwelt hatte ja mit Marcel Duchamp begonnen, der ein Urinal und eine Schneeschaufel aus dem Baumarkt dadurch adelte, dass er das Zeug signierte und ins Museum stellte. Big deal damals, und mit einigermaßen verheerenden Auswirkungen auf die Kunstwelt und das Können an sich! – Und wenn man jetzt diesen Scheiß satt hätte und wäre der Geste überdrüssig, was hinderte einen, den hochintellektuellen Kunst- und Überfliegern ein wenig Flugangst beizubringen? Subversion kennt kein Ausruhen. „Nichts, das entsteht, ist wert, dass es nicht zu Grunde geht“ befand schon Goethes Mephisto in einem hellen Moment vulgo einem momentanen Anfall nihilistischer Grundstimmung.

Mein Lieblingssubserwies-Service begab sich einst in einer dem Kunstschamanen und Mental-Illusionisten Joseph Beuys gewidmeten Ausstellung, in der u. a. die Kinderbadewanne gezeigt wurde, in der Beuys als Kind gebadet wurde. „In dieser Wanne wurde Joseph Beuys als Kind gebadet“ beschied die angebrachte Legende feierlich ergriffen, und dann hatte jemand mit Kuli darunter gekritzelt: „Offenbar zu heiß!“ – Ich muss gestehen, dass mich, wahrscheinlich aus einer weltanschaulich fundierten Grundalbernheit heraus, solche Gemeinheiten resp. kynischen Spöttereien mehr erheitern als alle postmodernen Kunstexperimente sonst.

Ausnahmsweise ließ der Seminar-Leiter mal die Zügel streifen (vor allem die eigenen) und regte im Anschluss an eine Bemerkung von Erika an, darüber nachzudenken, ob man der Duchampschen Schneeschaufel ein, zwei oder drei weitere, freilich unsignierte, zur Seite stellen könnte, ohne dass es fad würde oder der Museums-Hausmeister dieselben in den Geräteschuppen verbrächte. „Anführungsstriche kann man nicht sehen!“ krähte ich, um zu einem Exkurs über Ironie anzusetzen. Leider ließ ich zwischendurch den Satz fallen: „Aber lassen wir das für heute“, worauf alle sofort aufsprangen, hektisch ihre Tasche packten und vor Schluss fluchtartig den Seminarraum verließen. Ich fürchte, meine Seminare ähneln sich mehr und mehr dem „Jour fixe“ des Traurigkeitslehrers Arnold Winterseel an (vgl. „Kategorien“ in diesem Blog!): Man hasst es, man fürchtet es, aber man geht trotzdem immer wieder hin.

Sieben Jahre Bratherrschaft (Korpulenz-Initiative)

30. August 2011

Klar, JETZT, wo es arbeiten SOLL, schläft es natürlich, das Plapper-Hirn!

Item: Me and my brain. – Mein Gehirn und ich, wir sind schon ein verrücktes Paar! Zwei glorreiche Halunken! Die rechte und die linke Hand des Teufels! Jedenfalls weiß die rechte nie, was die linke tut und vice versa. – Der Zwist beginnt immer am späten Abend zur Kuschelzeit: Ernie, der Körper, ein hinfälliger alter Sack, will ruhen und träumt von „der Langen Nacht des Schlafens“ (titanic); Bert, das hyperaktive Hirn, will aber unbedingt plappern. Hört einfach nicht auf, hat Plauderlaune, Quackelwasser getrunken, rappelt und sabbelt vor sich hin, in einem fort. „Gib Ruhe jetzt, Hirn!“ fordert der gesetzte Herr Körper. „Ja, ja, gleich, warte, nur eines noch will ich loswerden…“ antwortet die interne Wörtermühle. Irgendwann duselt Körper-Ernie mal weg, wacht aber in der Gespensterstunde wieder auf und lauscht: Da quatscht doch wer! – Bert, das Hirni, labert fröhlich vor sich hin! Es ist drei Uhr, Mensch! Hirni indes kennt keine Ruhezeit.

Tagsüber ist es ins Joch gespannt, pflügt noch immer durch Hegels „Wissenschaft der Logik“, studiert Wahrheitstabellen oder müht sich, Luhmanns System der Systeme zu begreifen, des nachts aber hat es sozusagen sturmfrei und klatscht, klabautert und kaspert fröhlich im Leerlauf. Der verständige Körper bemüht sich, beim Aufwachen ganz leise zu sein, um zu horchen, was Hirn-Bert so treibt. Und? – Er redet jetzt schieren Unfug vor sich hin! „Sieben Jahre Bratherrschaft sind genug – geht ihr mal ruhig jetzt tanzen!“ frohlockt es da, oder grölt sinnlose Parolen wie „Durch das Land muss eine Korpulenz-Initiative gehen!“ bzw. summt zur hirnrissigen Operettenmelodie ein saudummes Liedchen in endloser Wiederholung: „Keiner ist ja richtig gut / und besser erst / viel später...“

Das Körper, ermattet von Tagwerk, Wein und Alterszwicken, schlummert wieder ein, schreckt aber im Morgengrauen auf – das werte Gehirn hat noch immer Logorrhöe, bzw. noch schlimmer, denn inzwischen wird es frech und (das ist die gefürchtete seniorale Morgendepression!) richtig gemein: „Du mieser Versager!“ krakeelt es Schuldbewusstsein einflößend, „du kannst doch nichts, du bringst es nicht, du elender Prokrastinierer und Alles-Versäumer! Ich zähl dir mal auf, was du alles nicht gebacken kriegst…“ – Menno, muss man sich denn vom eigenen Gehirn derart unflätig beschimpfen lassen?

Ist erst sechs Uhr, aber trotzdem, was hilfts, ich stehe auf und gucke mir verschwiemelt selber beim Kaffee-Kochen zu, setz mich im Frottee-Morgenmantel an den Streitschrift-Schreibtisch, wo allerhand Arbeit ruft. Und wer hört mal wieder nicht? Genau! Hirn ist jetzt endlich eingeschlafen und nimmt den Hörer nicht ab. Nobody at home! Mein Gehirn und ich, wir ziehen einfach nicht am gleichen Strang. Wir streiten sogar darüber, wer von uns ich ist.

Forsch geforscht

28. August 2011

Ziemlich gescheit ohne Forschungsauftrag: Alter Mann (Euripides, 485/84-406 v. Chr.)

Meine Lieblings-Provinz-Postille, die liberal-katholische „Rheinische Post“, schätze ich für den in ihren Texten gelegentlich aufblitzenden staubtrockenen Humor. Beispiel? „Die klassische Entscheidungstheorie“, wird aus der Welt der Wissenschaften reportiert, „geht bislang davon aus, dass der Mensch ein höchst rationales Wesen ist – ein Zustand, der in der Realität so nicht nachgewiesen werden konnte.“ Ob wohl ich nur selten Berührung mit der Realität habe, ist mir der Verdacht auch schon gekommen, dass Rationalität etwas überschätzt wird. Ganz genau wissen kann mans freilich nicht, also untersuchen wir das sicherheitshalber mal wissenschaftlich. Gottlob haben wir eine „Arbeitsstelle Rationalität im Licht der experimentellen Wirtschaftsforschung“. Die untersucht in einem auf zehn Jahre (!) angelegten Projekt (Gesamtkosten 2,7 Mio.!), ob es eventuell sein könnte, dass Menschen nur „eingeschränkt rational“ handeln. Bis 2016 will man das herausgefunden haben.

Obschon, eigentlich weiß das der Altsprachlich-Humanistisch-Gebildete schon seit rund 2500 Jahren, wie die kürzlich bereits angeführten Euripides-Worte zeigen: „Einsicht fehlt /
den meisten nicht, ganz anders liegt der Grund:
/ Was recht ist, sehen wir und wissen wir
/ und tun es doch nicht, seis aus Lässigkeit,
/ seis weil die Lust des Augenblicks / das Werk
verdrängt, und mancherlei Verlockung gibt’s …“ Nicht wahr? Vernunft, das ist ein hohes Gut, nur fragt sich, wer besitzt davon genug? Na, ich jedenfalls nicht. Ich selber trinke, lese, esse, liebe, enthusiasmiere & bewundere mehr, als mir gut tut. Ich lebe praktisch ständig wider besseres Wissen! Das könnte auf meinem Grabstein stehen: „Er lebte wider die Einsicht“. Was ich mich sehr beschämt und mich meine Eitelkeit gewahr werden lässt: Ich habe nicht zu der unnachahmlichen Noblesse und Zurückhaltung von Loriot gefunden, dem einhellig zum ewigen Bundespräsidenten deutsch-humorigen Selbstverständnisses gekorenen großen verstorbenen Mannes, der, auf die Frage, was auf seinem Grabstein stehen solle, geantwortet hat:„Nun, es wäre wahrscheinlich zweckdienlich, wenn mein Name darauf stünde.“

Wenn ich in hohem Lebensalter noch einen Wunsch hätte, dann wäre es wohl der, ein solcher zu werden, wie der Herr von Bülow einer war: Geistvoll, bescheiden, nobel bis vornehm, unschlagbar in seinem göttlichen Understatement und unnachahmlich in seiner hoch-eleganten Selbstironie! Ich schaffe es nicht. Ich bin zwar auch preußischer Herkunft, aber eher pommersch-plebeisch-proletenmäßig, peinlich pöbelhaft um meine Reputation bedacht. Um jede Peinlichkeit, vor allem die der Eitelkeit zu vermeiden, muss man es wahrscheinlich genetisch-gebürtig „nicht nötig haben“. Im Zeitalter egozentrisch-selbstbewusster Ich-Ich-Brüllerei gebe ich gern zu: Ich wäre gern ein anderer. Für mediale Karrieren ist das schlecht. Jungen rational handelnden Menschen rate ich daher unbedingt, sich selber absolut und zweifelsdicht „echt toll“ zu finden. Das hilft! Sich selber peinlich und aller Zweifel wert zu finden, ist echt keine gute Voraussetzung, um öffentliche Aufstiegschancen zu befeuern!

 Übrigens, gegen die eigene vernünftige Einsicht Mist zu bauen – was man eigentlich für unmöglich hielt! – nannte man in der Antike akrasia.  Vielleicht lag es daran, dass man damals leckere Zigarettchen nicht kannte. Sokrates zum Beispiel hätte sonst nicht verstanden, wie man trotz der Vernunfteinsicht, dass Rauchen schädlich ist, trotzdem seine Kippen durchzieht. Der Großphilosoph Platon und seine literarische Marionette Sokrates waren allen Ernstes der Meinung, wer auf dem Athener Markt 400 Drachmen für ein Stück Räucheraal ausgab, könne nur nicht ganz richtig im Kopf, vulgo von übellaunigen Göttern missleitet sein. Nobel gedacht, wenn auch unrealistisch

Ab 2016, wenn man dann wieder Kapazitäten frei hat, möchte ich anregen, könnte man ja mal experimentell erforschen, ob der Kapitalismus vielleicht gar nicht nur auf das soziale Wohl aus ist, sondern ein bissl auch auf Habgier beruht. Könnte ja doch sein!

Unerhebliches durch die Puppenblume (Doppel-„pf“)

23. August 2011
 
„Schon oft bedachte ich in langer Nacht,


was unser Menschendasein so verdirbt,


und ich erkannte: nicht der Unverstand

ist Wurzel allen Übels – Einsicht fehlt


den meisten nicht, ganz anders liegt der Grund:


Was recht ist, sehen wir und wissen wir


und tun es doch nicht, seis aus Lässigkeit,


seis weil die Lust des Augenblicks das Werk


verdrängt, und mancherlei Verlockung gibts (…)“

 

Euripides, „Der bekränzte Hippolytos“

 

 

Warnhinweis: Der folgende Text enthält, nach dem starken Anfang, nur noch Puppengedanken. Die Lektüre ist Zeitverschwendung! –  Aus der taz, die es wiederum aus der FAZ hat, habe ich folgendes Zitat des Yanomami-Häutlings Davi Kopenawa: „ Ich denke, dass es sehr traurig ist, dass die Weißen ihre Wälder kaputtmachen und sich dann solche kleinen Puppenpflanzen (Topfpflanzen) in die Häuser holen, um damit zu spielen…“ Das gefällt mir, auch wenn ich hier angeprangert werde, als marodierender weißer Wälderkaputtmacher und Puppenblumen-Besitzer. Ich bekenne: Ich besitze einen Ficus benjamina, und ich spiele mit ihm, gieße, besprühe und dünge ihn, schau ihm beim Wachsen zu, putze seine Blätter und kommuniziere mit ihm, allerlei vegetativ non-verbale Ermunterungen aussendend. Bislang wähnte ich mich damit noch nicht auf der Straße der Verworfenheit. Schließlich gibt es böse weiße Männer, die sich zum Spielen sogar  kleine Puppenfrauen in die Häuser holen, dicke Puppenpitbulls oder Puppenwagen von Daimler, was dem Regenwald der Yanomami-Indianer bestimmt mehr an die Nieren geht als meine überwiegend digital-minimale Büro-Existenz.

Andererseits weiß man nie, auf welche Weise man, seis aus Lässigkeit, seis weil die Lust des Augenblicks einen packt, unfreiwillig in Gottes eigentlich vorbildlich ausgefinkelter Natur herumsaut. Zu meinem Wissensschatz, den ich teils Wikipedia, teils dem Fernsehen (flache Puppenstube!) verdanke, gehört seit kurzem der Fakt, dass zur Herstellung eines einzigen T-Shirts angeblich 4000 Liter Wasser verbraucht werden. Zwar weiß ich nicht, wie das genau zugeht, aber es frappiert mich. Statistiken können bei mir existentielle Ängste auslösen! Als Besitzer von ca. 80 identischen schwarzen T-Shirts (da hat man keine Last mit Wäschesortieren oder morgendlicher Kleiderwahlqual) hab ich die weltweiten Wasserreserven schon mal recht ordentlich dezimiert! Ob es im Regenwald überhaupt noch regnet? Hinfahren und nachschauen möchte ich nicht, weil das schon wieder 80%  der Energiereserven verzehrte, die z. B. ein armer Indianer braucht, um der FAZ Interviews zu geben.

Man sollte viel mehr über solche Erheblichkeiten nachdenken, aber stattdessen ertappe ich mich bei einer nichtigen Grübelei darüber, ob „Topfpflanze“ eigentlich das einzige deutsche Wort mit Doppel-„pf“ ist. Auch wenn mich das Wort zunehmend hypnotisiert, ist das natürlich ein Puppengedanke von monströser, ja, menschenverachtender Irrelevanz! Da drängeln sich die Weltprobleme, dass die Lifeticker durchdrehen, und mein doofes Hirn betreibt fruchtlose Nasbohrereien! Zum Glück blühe resp. blogge ich im Verborgenen, aber dennoch, wenn ich zusammenrechne, wie viel Lebenszeit ich meinem elitären Leserkreis allein durch diesen Text gestohlen habe – davon könnte eine erschöpfte Yanomami-Mami einen ganzen Nachmittag ressourcenschonend in der Hängematte liegen. Oder Puppenblumen für den Export züchten. – Trotzdem, mal ehrlich, je länger man das Wort anguckt oder je öfter man es rasch hintereinander ausspricht, um so merkwürdiger wird es, oder? Topfpflanze, Topfpflanze, Topfpflanze…

Elefantenbeerdigung. Schweigen oder Schreien?

25. Juli 2011

Musik: Gustav Mahler

Ist dies ein retrograder, die Vergangenheit verklärender Wunschtraum, oder gab es das in meiner Kindheit tatsächlich einmal? Dass das Radio – Fernsehen spielte noch kaum eine Rolle –, bei wirklich erschütternden Welt-Ereignissen, stundenlang bloß getragene Musik spielte? Knapp und beherrscht, sozusagen mit schwarzer Krawatte in der Stimme, wurden die Nachrichten verlesen, dann gab es Chopin und Brahms zum Nachdenken und In-Ruhe-Traurigsein. Wer nicht traurig war oder keine Lust auf Nachdenken hatte, schaltete das Radio halt aus oder er konnte Radio Moskau einstellen, wo eine Dame mittleren Alters jeden Abend gleichmütig kryptische Zahlenkolonnen in den Äther murmelte, welche von Spionen draußen an den Weltempfängern beflissen mit unsichtbarer Geheimtinte auf spezielle Spickzettel notiert wurden.

Als älteres und etwas verschrobenes Kind pflegte ich meine Weltverzweiflung – Gothic, Grunge und TripHop gab es ja noch nicht – gern z. B. mit dem Trauermarsch aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie in cis-moll zu untermalen bzw. zu bestätigen. Freilich, dieses Sahnestück trauermusikalischer Monumentalsymphonik ist so pastos-pompös und Pathos-gesättigt, dass ich mich beim Anhören immer unwillkürlich auf einer Elefanten-Beerdigung wähnte, auf der endlose Reihen solcher imposanten Rüsseltiere in traumverloren retardiertem, tonnenschweren Trampeltrott zu Paukenwirbeln, wienerischem Geigen-Weinen und gelegentlichen, herzzerreißend dissonanten Posaunenstößen aus ihren anklagend hoch geschlenzten Rüsseln zum Friedhof walzten, und dann musste ich fast schon wieder ein bisschen lächeln.

Die tägliche Medienmahlzeit war noch frugal und der Seelenhaushalt dementsprechend schlank und beweglich. Heute wird von Print, TV und Internet auch jede noch so winzige Denkpause mit einem übel riechenden, klebrigen, hirnzersetzenden Geschwätz vollgekübelt. Voll aufgedreht sind die Phrasophone und Trivialtrompeten und ergießen routiniert und gnadenlos ihre Plapperkaskaden, in Livetickern und Leid-Artikeln, ihren würgenden Brei aus Tränensülze und zähem Worthülsenstroh, der nichts offenbart als die sinistre Geistesferne, Gemütskälte und Herzensleere eines sich um sich selbst drehenden  Apparates. Getrieben von der Logik des Sensationellen und ausgepumpt von der Inflation der Superlative, ist alles, vom Tsunami über das Loveparde-Desaster bis zum Massaker in Norwegen selbstredend eine „unfassbare Tragödie“ und eine „unermessliche Katastrophe“, nach der „das Land sich verändern wird“ und, natürlich, dumpfes Orakel, vor allem „nichts mehr so sein wird wie zuvor“.

Die Redundanz dieser Phraseologie entspringt nicht so sehr – wenn auch im Einzelfall evtl. schon –  der lähmenden Denkfaulheit von Redakteuren, Leitartiklern und Reden-Schreibern, sie ist dem System der Massenmedien inhärent wie ein unausrottbarer Herpes-Virus. Dessen Grundfluch liegt in dem Zwang, keine Minute innehalten zu dürfen; selbst während mühsam aufgebrachter Schweigeminuten läuten wenigstens die Kirchenglocken oder werden notfalls Bilder von Schweigenden gezeigt, vielleicht, damit man sich daran erinnert, was es eigentlich noch mal hieß, die Klappe zu halten. Neben dem horror vacui, aus dem heraus gegen das erschütterte Schweigen, gegen die Angst vor dem Sterben und das Vordringen des Nichts angelabert wird, hat das Elend mit der Armut der Sprache zu tun. Es gibt ein Entsetzen oder eine Erschütterung, dessen Gewalt sich nicht in Worten ausdrücken lässt. Dafür brauchte man ein Saxofon, eine E-Gitarre, einen Schrei, so unartikuliert und seelengepeinigt, dass alles Gerede daneben verstummt.

So einen Schrei oder so ein Schweigen für ein paar Stunden zu übertragen wird sich gewiss kein Redakteur überreden lassen, schon klar. Das Innehalten ist unwiederbringlich dahin. Wie eine palavernde Affenherde müssen wir alles bis zum Überdruss beschwatzen, solange, bis wir knöchelhoch in leeren Worthülsen waten, bis uns das Geröll, der Müll, das Gerede bis zum Hals steht.

Die alten Griechen, unter denen ich, gymnasial bedingt, aufgewachsen bin, führten einmal im Jahr, zum Dionysos-Fest, Tragödien auf. Sie waren zwar wuchtig und aufwühlend, aber durchaus nicht „unfassbar“, sondern dienten im Gegensatz gerade dazu, das Grauen und die Tragik des Existierens fassbar zu machen. Tragödie, das heißt wörtlich „Bocksgesang“ und war der Beschwörung des doppelgesichtigen (und bocksgestaltigen) Fruchtbarkeits- und Todes-Gottes Dionysos gewidmet, dem fremden Gott aus dem Osten, der zügellos zeugte und zertrat, was sich ihm in den Weg stellte. Ich stelle mir vor, die Zuschauer im Theatron haben dabei geweint, geschrieen und Sonnenblumenkerne gegessen, deren Schalen sie zwischen die Sitzreihen spuckten. „πολλ τ δειν κοδν νθρώπου δεινότερον„, sang der Chor die Worte des Sophokles: „Ungeheuer ist vieles, doch nichts ungeheurer als der Mensch“. Die Athener nickten ergriffen, seufzten vier Tage lang, dann wandten sie sich wieder ihrem Tagwerk zu – der Beraubung, Plünderung, Schändung und Ermordung ihrer Nachbarn.

– Und jetzt Musik.