Archive for the ‘Jour Fixe beim Traurigkeitslehrer’ category

Jour Fixe (10): Die Entrückung des Traurigkeitslehrers Winterseel. Detmold und das Weinen im November

24. November 2009

Satans Neffe im Griff des Advenzkranztanzes (Foto: http://www.glogster.com/media/ 2/3/24/72/3247277.jpg Das Bild ist möglicherweise urheberrechtlich geschützt.)

Im November, dem verregneten Wonne-Monat der tausend Graustufen und der untoten Gedenktagsseelen, findet sich Arnold Winterseel, mein verehrter alter Traurigkeitslehrer, gern im Stadium einer heiter-schwebenden, irgendwie fast bekifft anmutenden Morosität und höheren Subtilverzweiflung, einem illuminierten Zustand, in dem nachtschwarze Melancholie unversehens umschlägt in einen unberechenbar hakenschlagenden Übermut, eine an den Festungen der Götter rüttelnde Hybris, in deren Schwall, Mulm oder Qualm das Irrsinnigste plötzlich das hübsche Gesichtchen der Vernunft annehmen konnte, für wenige, erleuchtete Augenblicke.

In solchen raren Momenten besinnungsfrei abhebender Erhabenheit finden es Leute plötzlich eine gute Idee, sich die Füße 20 cm oberhalb des Knöchels abzusägen und sauber parallel ausgerichtet in den Schuhschrank im Flur zu stellen; sie schenken ihren greisen Müttern Gutscheine für einen VHS-Kurs in Expressivem Nackttanz oder begehren, im gebenedeiten Gnadenstand der Volltrunkenheit wohl verwahrt, völlig unvermittelt des Nächsten Weib Adelgund, in dem sie beim Nachbarn förmlich um deren Hand anhalten. Eine verrückte Zeit! Das Schicksal gähnt verlegen, hinter einem die Gespenster des Totensonntag, vor einem reißt schon das tückische Weihnachtsfest die vielfach bezahnten hundert Mäuler auf. Schweflig grinsend zündelt Bezelbub Gemütlichkeitsglühlichter und tanzt mit Behemoth, dem Neffen des Satans, den Advenzkranztanz.

Ich sehe Doktorvater Winterseel noch vor mir, die Haut gelblich-transluzide und papiernen wie jenes Maispapier der frühen, dick-schwarzen Gitanes-Zigaretten in verrauchten Pariser Existenzialisten-Bistros, wo Schönschreib-Schenie Schang-Pol Satter und Simone de Boudoir sich leidenschaftlich anqualmten und brillante Blicke in verschiedene Richtung warfen, – Winterseel also, wie er elegisch und traumverloren in sich hineinhorchend seinen geliebten Poetry-Schluchzer Renée-Marie-Louise Rilke rezitierte:

„Die Dinge sind Geigenleiber,
von murrendem Dunkel voll,
drin träumt das Weinen der Weiber,
drin rührt sich im Schlafe der Groll
ganzer Geschlechter…“,

worauf er sich, zu unsrer grenzenlos sperrangelweit mauloffenen Verblüffung Knall auf Fall verabschiedete, und zwar, wie er noch erklärte, um eine länger ins Auge gefaßte  und bei alltours angelobte Albtraumschiffkreuzwallfahrt nach Detmold anzutreten. „Ha, Detmold! Klar, Detmold!“, krähte unser Einserjurist und von-Guttemberg-Lookalike Sven Aaron Mangold, primanerhaft die Streberfinger schnipsend – er hatte wohl auch von diesen Plätzchen probiert, die Miß Cutie mit ihrer Milchschwester Soffie aus Amsterdam gebacken hatte – „Detmold! Klare Anspielung! Grabbe!“  Hilfesuchend warf ich fragende Seitenblicke auf meinen Freund Fredi Asperger, der zwar ein Autist ist, praktischerweise aber auch einer der sogenannten idiotes savantes, die als wandelnde Logarhitmentafeln, Primzahlenverzeichnisse oder Konversationslexika unterwegs sind. „Christian-Dietrich Grabbe, Schnorrer, Säufer, Nervensäge, Literaturavantgardist des 19. Jahrhunderts. Soll gesagt haben: ‚Einmal auf der Welt, und dann als Drogist in Detmold! – was man später als Frühform nihilistischer Gottesanklage gewertet hat ...“, setzte mich Freund Fredi flüsternd ins Bild.

Während ich über diese Mitteilung noch nachgrübelte, schwoll im Salon bestürztes Gemurmel an: Winterseel war ohne weiteres Wort* (*bzw. soll sein letztes Wort gelautet haben: „Folget mir nicht nach!“) durch die Tapetentür entwichen und entrückt, und hatte uns somit ohne weiteres Beratungsangebot oder Therapieversprechen allein gelassen. Wie nun? Und wie weiter? „Mhhmmm, vlleich eersmoah nbüschen ein’ antütern?“ schlugen Hauke und Hinnerk, die Aquavitzwillinge, schüchtern vor. Ihre verschwiemelten Gesichter, die wie Synchronschwimmer in perfekter Harmonie einen Ausdruck glühweingetränkter Zuckerwatte angenommen hatten, verrieten jedoch, daß sie bereits, und zwar ohne ersichtlichen Nutzen für uns, ziemlich stark „angetütert“ waren, sodaß ihr Vorschlag, bei manchen nicht ohne Bedauern verworfen wurde. Unerwarteterweise war es dann ausgerechnet Miß Cutie, deren Attraktivität sich nach ihrer Nasenbegradigungs-OP ins nahe zu Überirdische gesteigert hatte und bei jüngeren Mitgliedern des Jour Fixe oft genug Anfälle priapistischer Konvulsionen auslöste, Miß Cutie löste sich jedenfalls plötzlich aus der ziemlich schwüllesbischen Umarmung ihrer sinnlich-innigen Milchschwester und durchschnitt unser stickig-verstocktes Schweigen mit ihrer glockenhellen Hochfrequenzschneide-Stimme: „Leute! Hört mal! Was wir brauchen, in dieser dunklen, bedrängenden, gemütsverdüsternden Zeit, dassis… Rauschgold! Rauschgold, Leute! Mut! Courage! Allons enfants! Lasset uns ausschwärmen, um Rauschgold zu schürfen!“

Halb schon getröstet, wenn auch nicht ohne eine gewisse wattige Leere in den Köpfen stob die Versammlung auseinander, um die Parole des engelhaften Beautie-Kids zu befolgen. Allerdings, wird das Projekt, die Mission gelingen? Wir Deprimierten, wir Prokrastinierer, ADSler, Autisten und elegische Borderliner: Wo finden wir denn Rauschgold, jetzt, im Schluchzen der krass naßkalten Novemberschluchten?

Fredi Asperger und ich nahmen die U-Bahn-Linie 7, ein Umweg, aber dafür genügend Zeit, die Wange jeweilen an die Schulter des Freundes gelegt, zu weinen, viel, ausgiebig, ja sättigend zu weinen. Wir weinten, wie es nur Männer vermögen: entschlossen, rückhaltlos und offensiv. Ach, das Weinen im November!

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Winterseels Jour Fixe (9): Tragisches Gassi-Gehen

16. September 2009
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Die Tragödie geht Gassi und nimmt ihren Lauf

Die Stimmung war gut, nämlich voller Schadenfreude: Man hatte Hauke und Hinnerk, den Aquavit-Zwillingen, weisgemacht, nach dem Endspiel der Frauenfußball-EM würde im Sportfernsehen live das Trikottauschen übertragen, und unsere beiden nordfriesischen Dorftrottel hatten tatsächlich volle neunzig Minuten Stillsitzen durchgehalten, in nervöser Ruhigstellung wie Zappelphillip auf Ritalin, nur um sich dann, düpiert und betrogen, unter schallendem Gelächter des Salons mit Erdnüssen bewerfen lassen zu müssen.

Traurigkeitslehrer Arnold Winterseel, mein verehrter Mentor, warf, wie immer leise und melancholisch in sich hineinhorchend, aber doch perfekt artikulierend, eine Frage in den Raum, die uns alle stutzen machte: Ob der Missverstand der Aquavit-Zwillinge denn nun „tragisch“ zu nennen wäre? Hm. Mehrheitlich drehte man den Kopf nach Sven Aaron Mangold, unserem Einserjuristen und Bescheidwisser, der auch sofort aufstand und, als stünde er vor Jörg Pilawa und würde gleich Millionär, herunterschnarrte:

 „Das Tragische ruht daher ebenso wie das Komische auf einem Kontrast desjenigen, was geschieht (des Ungerechten im Tragischen), mit dem, was eigentlich geschehen sollte. Der wesentliche Unterschied zwischen Tragik und Komik ist, dass das, was geschieht, im Tragischen ein Leiden, im Komischen dagegen nur eine Torheit ist. Da nun – nach der Theorie des Aristoteles – Tragik im wesentlichen durch die Einsicht in diesen Kontrast entsteht, so muss ein gemischter Eindruck entstehen. Das unverdiente Leiden und der Untergang der tragischen Person, der Sieg des Geschicks (oder der „neidischen“ Götter), ist ein Triumph der Ungerechtigkeit und bringt als solcher das Gefühl menschlicher Ohnmacht dem „großen, gigantischen Schicksal“ gegenüber hervor.

Die Kategorie des unheilbar Doofen hat Aristoteles leider nicht untersucht. Unmöglich hätte er, so ließ sich Winterseel vernehmen, voraussehen können, daß der Begriff des Tragischen (ebenso wie übrigens etwa der Begriff „Ikone“) im 21. Jahrhundert endgültig unter die analphabetischen Press-Quatschkindsköpfe gefallen und dort inflationär der völligen semantischen Verwahrlosung anheimgefallen sei bzw. wäre, je nachdem. Jeder Unfall nämlich, jedes tödlich endende Mißgeschick, und sei es noch so lachhaft, albern oder bescheuert, so Winterseel, werde heute „tragisch“ genannt. Heute würde man mit Sicherheit selbst den Tod von „Mama Cass“, der dicken Sängerin der 60er-Jahre-Singsang-Gruppe „Mamas & Papas“ („California Dreamin’“), die im Suff an einem Schinkenbrötchen erstickte, „tragisch“ nennen! Wenn einem Menschen heutzutage versehentlich das Sterben unterläuft, gleichviel, auf welche bestürzend triviale Weidse, muß das ja einfach „tragisch“ sein. „Dumm gelaufen“, „idiotisch“, „unnötig“, „selbst schuld!“ – das sind alles Bezeichnungen, die man da nach sterbepolitischen Korrektheitsmaßgaben keinesfalls verwenden darf.

 Obwohl es Dr. Winterseel in der Regel verschmäht, seine apodiktischen Behauptungen zu belegen, raschelte er diesesmal vernehmlich mit seiner online-Zeitung. Hier, bitte, sprach er und rezitierte eine dpa-Meldung:

 „Tod beim Gassi gehen

 Dogge zieht Frauchen vor heranfahrendes Auto

Im luxemburgischen Esch ist eine Hundehalterin auf tragische Weise ums Leben gekommen. Die 54-Jährige führte ihre Dogge aus, als diese plötzlich mit Macht an der Leine zerrte und die Frau direkt vor ein herannahendes Auto riss.

Esch/Alzette – Eine 54-Jährige ist in Esch in Luxemburg von einem Auto überfahren worden, weil ihr angeleinter Hund sie plötzlich auf die Straße gezogen hatte. Das teilte die Polizei mit. Die Dogge hatte einen Hund angebellt, der auf der anderen Straßenseite lief, und war dann losgestürmt. Die Frau konnte das große Tier nicht zurückhalten und wurde mitgerissen. Ein heranfahrendes Auto konnte nicht mehr bremsen. Die 54-Jährige starb noch an der Unfallstelle. Der Hund überlebte, sagte ein Polizeisprecher.“

Ja, eine Tragödie, oder? Eine dumme Kuh, zu schmächtig, einen Pinscher zu halten, kauft sich eine Dogge und wundert sich jetzt, daß sie tot ist! Besonders tragisch, daß der Hund überlebt hat und nicht die dusselige Kuh! Und schade, daß Aischylos, Euripides, Sophokles & Co. diesen Plot nicht gekannt haben! Was hätten sie für erschütternde und unsterbliche  Tragödien daraus gehäkelt oder gestrickt!

Fredi, also mein schweigsamer Autisten-Freund Fred Asperger, und ich sind nachher mit den Aquavit-Zwillingen noch einen trinken gegangen, um sie wieder aufzumuntern. „Aber bloß EINEN Eierlikör!“, hatte Hinnerk sich erst geziert. Na, es wurden denn doch eine ganze Menge Jubiläums-Aquavit. Wir haben schön gequatscht und viel gelacht. Nur – tragischerweise haben wir dadurch dann die letzte S-Bahn verpasst…

Jour Fixe bei Winterseel (8): Kunstdouble im Blutbusiness

21. Juni 2009
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Enver Konopke (r) in seiner Paraderolle als Hermann Nitsch

KONOPKES JOB

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Die Nachricht schlug im Salon ein wie eine im Gottesdienst geworfene Wasserbombe: Enver Konopke, unser selbsternannter Paradiesvogel, der einmal einen mehrtägigen Schluckauf bei Altlyriker Anatol Blankenvers ausgelöst hatte, indem und weil er sich selbst als „metaphysisch unbehost“ bezeichnet hatte, Konopke also, der unverbesserliche Schnorrer und durch langjährigen Alkoholmissbrauch stark verwirrte (Konopke: „Wieso’n jezz ditte? Missbrauch is höhssens, wennssu dich damit die Füße einreibst!“) Sohn eines preußisch-protestantischen Pedanteriewarenhändlers aus Rixdorf, hatte neuerdings, so mussten wir trotz aller ungläubigen Verblüffung realisieren, einen Job! Einen veritablen Arbeitsplatz! Und zwar, wie er kryptisch per unfrankierter Postkarte mitgeteilt hatte, „im Auslandseinsatz, höheren Orts in der allerobersten Welt-Kunstszene“! Erregt bestürmten wir Frau Geisträtin Mag. Isolde Kobloch-Gumpertting, Winterseels alte Integrierte-Gestalttherapeuttin, Psychoanalytikerin und Holographologin aus Wien, die uns die gute Botschaft mit verschmitztem Lächeln erläuterte: In der Tat sei Konopke, der religiös so hoffnungsfern Verwahrloste, bei einem mehrtätigen Casting auf Schloß Prinzendings als einer von mehreren Doppelgängern eines berühmten, nichtgenanntwerdenwollenden Wiener Malers und para-mystischen Aktionskünstlers engagiert worden!

Ein paar Augenblicksmysterien lang senkte sich eine Stille über den Salon, daß man das räuspernde Knospen, Knispeln und Knobeln von Milliarden Synapsen hören zu können meinte. „Neiiin!“ kreischte es dann, Sven Aaron Mangold, der Einserjurist, war wieder mal der Fixeste, „neiiin! Vom Nitsch? Doch nicht vom Nitsch, oder? Vom Blut-und-Hoden-Nitsch?! Konopke und … Nitsch??!“ Die Wiener Seelenprofessorin schmunzelte mit jenem unnachahmlich unergründlichen Analytiker-Gesichtsausdruck, den sie, dem Ondit nach, noch von Sigmund Freud selbst in mehrjähriger Lehranalyse übertragen bekommen hatte, und schwieg zur beredten Antwort ihr aufmunternd-vorurteilsfreies Ich-höre-Ihnen-zu-Schweigen.

„Wie? Wie’n Wien? Wassn? Wer issnn-ndieser Nnüscht?“ fragte Miss Cutie aufgeregt in die Runde. Sie schnupfnäselte noch, nach ihrer in einer Schönheitsnase mündenden Beauty-OP. Ironischerweise waren es ausgerechnet die Aquavit-Zwillinge, die schon mal einem „Orgien-Mysterien-Theater“-Spiel des berühmten Aktionskaspers Hermann Nitsch beigewohnt hatten. Verstanden hätten sie damals Nitsch nicht, nix, nüschte,  aber es sei sehr sinnenaufpeitschend, mystisch, mythologisch, liturgisch und para-ekklesiastisch, eklektizistisch und sogar auch etwas bemüht pseudo-dionysisch-orgiastisch zugegangen. Oder, um es mehr in der genuinen Ausdrucksweise der Aquavit-Zwillinge zu formulieren: Es war wohl in jeder Hinsicht „eine ziemliche Sauerei“ gewesen, bei dem mit dem Blut und Gedärm einer geschlachteten Sau herumgeschmiert worden wäre und, so Hauke, „so’ne s-plitterfasernackte Christussi hatten sie doa an so’n SM-Kruzifick-Kreuz angebunnen, und die mußte denn so’n ganzen Humpen Schweineblut runnerschlucken…“ – „Bah! Näh, was fürn Schweinkram!“ krakeelte Oma Hager im Brustton tiefsten Angewiedertseins dazwischen. Hinnerk ergänzte noch, man hätte zu dem Spektakel noch „so nebelartige Waber-Klang-Musik-Mansche“ gespielt, „so elektronische Softporno-Musik wie bei ‚Schulmädchenreport’“. (Hauke korrigierte: „Du meinz Emmanuelle Teil III!“)

„Und was hat nun unser Kamerad, der olle bekloppte Konopke, mit diesem Schweinkrämer zu tun?“ brachte Blankenvers die Diskussion wieder auf den Punkt. Nun, dies war rasch erklärt. Originalkünstler Hermann Nitsch sei es seit seinem 70. Geburtstag unendlich leid, überall den impertinent-beleidigenden, unverschämt-anmaßenden, nichtganzvondieserweltseienden Kunst-Naturburschen und Hundsbua zu geben. Das unentwegte Leute-Beleidigen, Kapriziösitäten-Vorgaukeln und Assistenten-Herumschubsen sei ihm in seinem Alter nicht mehr allein zuzumuten! Daraufhin sei die Entourage des Meisterswingers und Profi-Orgiasten auf die Idee verfallen, nach kleinen, drummeligen Opas mit grauem Bart und irrem Blick zu suchen, die evtl. nicht ganz richtig im Kopf, emotional instabil und metaphysisch beschlagen genug seien, um Nitsch an drei Abenden der Festspielwoche überzeugend zu doubeln und zu vertreten. Ende vom Lied: Enver Konopke hatten sie vom Fleck weg genommen und eingestellt! Mit Vertrag, Sozialversicherung und Ausfallgarantie!

Traurigkeitslehrer Arnold Winterseel, wie immer bemitleidenswert fröstelnd in sein schwarzes Samt-Sakko gewickelt, war gerade zur Tapetentür eingetreten, als aus dem Hintergrund eine straffe Sportsdame, die – wenn Fredi Asperger, der mir diese Information steckte, das denn mal richtig verstanden hatte –, als Modezarin firmierte und ihre Abstammung auf etwas undurchsichtige Weise vom finnischen Weihnachtsmann (?!) ableitete, mit einer Frage den verqualmten Luftraum durchschnitt: „Ist denn dieser Herr Konopke, wenn er von der Kunstwelt als Kunst-Nitsch akzeptiert wird, somit denn nun selbst auch als Künstler zu betrachten? Oder ist das vom Nitsch-Double Konopke vergossene Schweineblut weniger dionysisch-mysterien-orgiastisch als das vom Original-Nitsch verschmierte?“

Dr. Wintersell räusperte sich, um zu einem Vortrag über Ontologie, Semiologie und Phänomenologie des Orginalkunstwerks, der Kopie, der Fälschung und des Selbstplagiats anzusetzen, als die Amazone einfach weiter schwadronierte: „Weil, nämlich, ich kenn da einen angeblichen Star-Künstler, Cy Twombly, den gibt es in Wirklichkeit gar nicht, den hat man bloß erfunden, um mal zu testen, was fürn doofes uninspiriertes Gekritzel man den Leuten noch als Kunst verkaufen kann!“  Abermals stieg – wie „weißer Nebel wunderbar“ – Stille empor zwischen den Sitzgruppen. Diesesmal handelte es sich jedoch nicht um eine Schwingung des sprichwörtlichen Engelsflügels, sondern um frostig peinliche Betroffenheit. Alles starrte gebannt auf Winterseel, der, wie jeder sonst wusste, enger Freund und autorisierter strukturalistischer Exeget Twomblys gewesen war, und an dessen Stirn jetzt eine Vene deutlich pochend hervortrat. – Der fällige Vulkanausbruch blieb jedoch aus.

Winterseel seufzte nur milde und murmelte: „Gewiß, liebes Kind, der Meinungen sind viele, in Sonderheit der irrigen, aberwitzigen oder sonst der Häresie, Blasphemie oder Hebephrenie verdächtigen…! – Still, einer jeder in sich gekehrt, gingen wir an diesem Abend heim, allerlei Denkwürdigkeiten wägend.

Winterseels Jour Fixe (7): Entschuldigung!

14. Mai 2009
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Herkömmliches analoges Mikado

Der Papst beim Mikado

In der U-Bahn war Fredi Asperger ungewöhnlich schweigsam. Seit er an der Erfindung einer Art digitalem Mikado-Spiel arbeitete, die, wenn ich seine gemurmelten Andeutungen richtig verstand, ohne Stäbchen, „allein im Kopf“ gespielt würde, war er selbst für einen Autisten ein wenig unzugänglich. Nun ja, dachte ich auswendig bei mir: „Man liebt seine Erkenntnis nicht genug mehr, sobald man sie mitteilt“ (Nietzsche), und ließ Fredi in Ruhe denken. Seit er mir im Vertrauen einmal gestanden hatte, er habe ein mehrbändiges Werk über die mathematischen Grundlagen des Glaubenssystems der spätbyzantinischen Sekte der Barbelo-Gnostiker geschrieben, und zwar, wie er hinzufügte, „bloß im Kopf“, wo er es aber auch für alle Zeiten zu lassen gedenke, vertraute ich meinem kauzigen Freund praktisch zu hundert Prozent. Er konnte Dinge für sich behalten und mußte sich praktisch nie entschuldigen.

„Kann man sich, wie es der gauklerische Mutwille des Deutschen vorschlägt, selbst entschuldigen?“ – diese Frage diskutierte man bereits heftig und unter großem Getöse im Salon. Sven Aaron Mangold war, als Einserjurist und Tango-Virtuose, entschieden dagegen: „’Ich entschuldige mich’“ ist ein Satz, der an Dreistigkeit kaum zu überbieten ist! Entschuldigen kann einen doch nur der, den man schuldhaft geschädigt hat!“ Es hieße ja auch, schleimte sich Enver Konopke beflissen ein, „wie wir vergeben unseren Schuldigern – und nicht, wie sich unsere Schuldner entschuldigen!“ Aber warum würde dann allenthalben und dauernd „von jedem Wichtigmann und Machtschädel“, so wörtlich unsere Miß Cutie, gefordert, er solle sich „für irgend’nen Scheiß“ entschuldigen?

Die Aquavit-Zwillinge, die an diesem Jour Fixe die Protokollführung übertragen bekommen hatten, protokollierten daraufhin, die Zungenspitze zwischen Zähnen, wer sich denn nach Meinung der Öffentlichkeit noch nicht hinreichend entschuldigt habe. Der Papst, gerade weil er ein Ratzinger und damit ein Deutscher sei, müsse sie häufiger für den Versuch der Judenvernichtung entschuldigen, das kam auf Platz Eins; Obama sodann für die Ausrottung der Indianer; ob sich Obama, als immerhin Halbschwarzer, auch für die Versklavung der Afroamerikaner zu entschuldigen habe, wurde kontrovers diskutiert; ferner könne sich die englische Königin ruhig mal für die Dezimierung der Aborigines entschuldigen; der belgische König hätte immer noch zehn Mio Kongolesen auf dem Gewissen, für deren Hinmetzelung er unseres Wissens niemals, auch nicht durch zusammengebissene Zähne gemumelt, „Entschuldigung!“ gesagt hätte. Jedenfalls, am Ende hatten die Zwillinge anderthalb Meter Entschuldigungsforderungen an die Tapete im Herrenzimmer gekritzelt, wo sie, mit Einverständnis Dr. Winterseels, stehen bleiben sollten als „Mahnmal für noch unentschuldigte Völkermorde, Vertreibungen und Drangsalisierung Unschuldiger“. Den Aquavit-Zwillingen, einmal im Geschäft, übertrug man als „Kuratorium“ die Wartung des Mahnmals, also die Anbringung von Häkchen oder Bleistiftkreuzen dort, wo eine allfällige Entschuldigung mittlerweile erfolgt war.

Beim anschließenden Umtrunk fand ich mich dann plötzlich in der ungewohnten Rolle des einzigen Papst-Verteidigers wieder. „Der Mann kann ja gar nicht gewinnen!“ ereiferte ich mich. „Wenn er sich, wie gefordert, andauernd und überall verdammend über den Holocaust ausspricht, was ja im Grunde eine Selbstverständlichkeit ist, dann nimmt ihn keiner mehr ernst. Entschuldigt er sich hingegen nicht unentwegt für den Holocaust, den er und sein Verein ja nur sehr mittelbar zu verantworten hat, dann heißt es, er sei eine kalte Sau, ein Fisch oder ein Antisemit! Dieses Spiel gewinnt er nie!“

„Aber wer sagt denn, junger Freund,“ wisperte Oma Hager gemütvoll schmunzelnd in ihr Gläschen Chartreuse grün bzw. in die eintretende betretene Stille hinein, „wer sagt denn, daß der Papst gewinnen soll?“  Darauf wusste ich für einen Moment keine gute Antwort, denn ich verfüge zwar über eine scharfzüngige Schlagfertigkeit, nur leider mit einer irgendwie fest eingebauten Zeitverzögerung von zwei, drei Stunden, weswegen mir esprit-funkelnde Repliken immer erst einfallen, wenn ich daheim in der Wohnküche beim Wein sitze. Auch Arnold Winterseel zog es an diesem Abend vor, schweigend die Perlen eines Gebetskettchens durch die Finger gleiten zulassen, das ihm Enver Konopke verkauft hatte, für eine horrende Summe übrigens, weil es angeblich „vom Scheich von Urfa persönlich geweiht“ sei.

Auf dem Heimweg tröstete mich ausgerechnet Asperger. „Das ist wie beim herkömmlichen Mikado“, meditierte er, „wer sich als erster bewegt, um zu spielen, hat praktisch schon verloren…“

Winterseels Jour Fixe (VI): Gefühlsbuddhisten verschmähen allzu Gelecktes

17. April 2009
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"Wer vermag es denn ewig zwischen diesen Dingen zu wohnen?" (Yoshida Kenkô)

MÖBELVERBRENNUNGSGESÄNGE IM HASENKOSTÜM

Mann, Leute, ich sag euch – letztens beim Oster-Jour Fixe war vielleicht der Teufel los! Es drängte sich regelrecht in Scharen das erkenntnisdurstige Volk in Traurigkeitslehrer Arnold Winterseels Salon: Oster-Marschierer, Oster-Flüchtlinge, Jünger des Auferstandenen, Suchende, Schüchterne und Süchtige, Schweiger und Scharlatane, schräge Vögel und natürlich die üblichen Kaputtniks wie Sufi-Süffel Enver Konopke, oder die endlich wieder aufgetauchten Aquavit-Zwillinge (siehe das Foto von Hauke und Hinnerk im Artikel über Männer-Imitate!), die, rotwangig und puppenlustig, wie es nur diplomierte Naturburschen sein können,  blanken Auges von der Kieler Windjammer-Parade erzählten. 

Autisten-Freund Fredi Asperger trug noch immer das überdimensionierte Hasenkostüm, in dem er, an den Werktagen der Karwoche, Flyer vor Lidl verteilt hatte; mir – denn zu mir spricht er manchmal – vertraute er an, daß er ernstlich darüber nachdenke, sich als „freier Honorar-Hase“ selbständig zu machen, daß ihn darüber hinaus aber das braune Puschelfell, der weiße Pompom und die riesigen Ohren auch davor bewahrten, „endgültig zu vermenschlichen“, wofür es sich schon einmal lohne, „zu schwitzen wie ein Schwein“. Ich ertappte Miß Cutie dabei, wie sie heimlich zwei oder drei naheliegende anzügliche Wortspiele herunterschluckte und quittierte dies mit einem dankbaren Augenzwinkern, denn leichthin dahergesagte Anspielungen sexuellen Inhalts können bei Fredi stundenlange Katatonien auslösen und an mir bleibt dann wieder alles hängen!

Alle waren aber eigentlich nervös und gespannt wie Flitzebogen, weil Winterseel launig ein „fernöstlich-klösterlich-österliches Kontrastostern“ angekündigt hatte, und zwar vornehmlich in Form eines Überraschungsgastvortrages! Der japanische Gast, Professor Owoni Ni’kea, Experte für Gefühlsbuddhismus und Wohlfühlästhetik an der renommierte Kyotoer Universität für interintellektuelle Glaubensfragen, weilte dabei schon längst unter uns, doch die Bescheidenheit, Unauffälligkeit und Zurückhaltung des kleinwüchsigen Asketen hatten diesen bis zur fast totalen Durchsichtigkeit sublimiert, und wir mußten ihn erst durch langanhaltenden Ermutigungsapplaus dazu nötigen, sich in unserer Mitte, sozusagen, zu materialisieren. Lange Zeit war der wechselseitigen Verbeugungen kein Ende. Unmerklich gingen die Höflichkeitsbezeugungen dann aber doch in einen ninjaschwert-scharfzüngigen Vortrag über Wohnkultur über, in dem der Professor, Träger mehrerer Schwarzgurte für Möbelrücken, angewandtes Feng Shui, Heil-Chi usw. u. a. schockierende Fotos aus Prospekten deutscher, dänischer und schwedischer Möbelhäuser herumzeigte, um dann feierlich die Worte des Mönches und Möbel-Asketen Yoshida Kenkô zu rezitieren:

„Es ist nicht nötig, daß alles im neuesten Stil und besonders prunkvoll ist. Wenn die Bäume einen ehrwürdig alten Anblick bieten und in dem gar nicht peinlich gepflegten Garten alles wild durcheinanderwächst, die Veranda und die Hecke am Zaun verträumt daliegen, die umherstehenden Gegenstände ein wenig altertümlich sind und keine besonderen Ansprüche stellen, so wird man in seinem Herzen tief davon bewegt. Sind aber seltene und prachtvolle Geräte nebeneinandergereiht, die von vielen Künstlern aus China und Japan kostbar gefertigt wurden, und sind im Garten die Gräser und Bäume kunstvoll gestutzt, so ist das ein sehr trauriger Anblick. Wer vermag es denn ewig zwischen diesen Dingen zu wohnen? Wenn ich dergleichen sehe, muß ich stets denken: In einem Augenblick kann doch alles wie Rauch vergehn.“

Wir hatten dann mehrheitlich allerdings stattdessen „in Rauch aufgehen“ verstanden und hielten es daher für passend, dem liebenswerten Asiaten als Gastgegengeschenk stehend John Lennons Möbelverbrennungslied „Isn’t it good, Norwegian Wood“ vorzutragen, weil es dem allgemeinen Tenor, allzu geleckte („stylische“) Wohnungsinnenarchitekturen strikt abzulehnen, entgegenzukommen schien. 

Froh, gestärkt und spirituell aufgemöbelt gingen wir auseinander, gezielte häusliche Ordnungs-Verwuschelungen und -Zerzausungen planend. Ich konnte gar nicht schnell genug nach Hause kommen, um sofort auf meinem Balkon alles wild durcheinanderwachsen zu lassen! Meine Hast mußte auf Passanten freilich etwas fremdartig wirken, zumal mir doch ein inkl. Ohren zwei Meter großer Hase keuchend hinterhergehoppelt kam, der es jedoch die ganze Strecke über verstockt verschmähte, mir ein einziges „Nun warte doch mal!“ hinterher zu schnaufen.

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So mags der Wohlfühlbuddhist: Kunstvoll verwuschelte Waldwohnung in Japan

Arnold Winterseels Jour Fixe (V): Wenn Frauen Angst einflößen

2. April 2009
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Angsteinflößend: Die Frage "Findest du mich zu dick?"

ÜBER DIE ‚KUNST DER LISTE‘

Das einzige eigentlich, was man Freund Fredi Asperger bei unserem Jour Fixe je hatte sagen hören, war „F…fff…ff…f…“, – und zwar, als ich ihn das erste Mal einführte und man ihn nach seinem Namen fragte. Als ihm dann jedoch unsere Miss Cutie ein aufmunterndes Lächeln schenkte, war es zunächstmal ganz aus und vorbei und Fff…f…redi verfiel, mit brennenden Wangen und glutrot leuchtenden Ohren, in einen quasi-katatonischen Verlegenheitsstarrkrampf,  aus dem ich ihn erst auf dem Heimweg, unter Aufbietung all meiner rhetorischen, didaktischen und therapeutischen Möglichkeiten, wieder herauslocken konnte. Ob denn etwa, so bestürmte ich ihn beispielsweise in der U-Bahn, junge, wohlgewachsene, verständige und überdies extrem aufgeschlossene Mädels wie Miss Cutie (die übrigens eigentlich Ilona hieße), bei ihm nicht auch gewisse positive, freudige und allgemein bejahende Gefühle auszulösen vermöchten? Unglücklich deutete er mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seinen Unterleib, was ich bereits als „normal“ wohlwollend bewerten wollte, als er dazu missmutig hervorstieß: „Bauchschmerzen … so ziehend … krampfartig!“

Getrieben von seinen diversen autistischen Zwanghaftigkeiten hatte Fredi bereits eine systematisierte und hierarchisierte Liste aller Dinge angelegt, die ihn ängstigten: Flirtbereite weibliche Hübschheiten rangierten dort hinter „so entzündlichen Bakterien und Fibrillen, die überall herumfliegen“,  „großblumig bedruckten Nylonkittel-Schürzen“, „kleinen Hunden mit Haarspangen und schrillen Stimmen“ sowie „saurer Milchsuppe mit Zwiebeln und toten Fliegen“ auf Platz Fünf der unmittelbar anxiogenen Alltagsbegegnungsgefahren. Ich mußte ihm lebenslanges Schweigerecht geloben, bevor er sich bewegen ließ, mich auch zum nächsten Treffen wieder zu begleiten.

Hier mauserte ich mich erst einmal zu Aspergers Schweigeassistenten, denn in der Runde stritt man sich lärmend und z. T. obzöne Verwünschungen ausstoßend über die Reichweite des Goedelschen Unvollständigkeits-Theorems – da mußte ich passen, denn speziell höhere Mathematik gehört zu den Dingen, die nun wiederum mich, obwohl oder eventuell gerade weil ich kein Autist bin, stark beunruhigen. Obwohl Asperger nicht das Wort ergriff, kam er jedoch voll auf seine Kosten, denn Dr. Winterseel, unser Meister und zartbesaiteter Traurigkeitslehrer, sprach an diesem Abend über die bizarre chinesische und japanische Kunst, Listen aufzustellen. (Darüber wird noch zu berichten sein!) Meinen in Hinblick auf Asperger gemünzten Vorschlag, wir könnten doch mal gemeinsam eine Liste aufstellen, wann bzw. in welchen Situationen man sich vor Frauen ängstigen muß, griff Einserjurist und Liebschaften-Experte Sven-Aaron Mangold begeistert auf. Wir kamen auf ungefähr folgende Liste:

 Wann Frauen Angst vor heraufziehenden Gefahren einflößen

 Beim Schuhe-Kaufen

Wenn ein hormonell bedingter Kinderwunsch besprochen oder aber möglichst gleich erfüllt werden soll;

An den Tagen vor, während und kurz nach den „Tagen“;

Wenn man auf die Frage, ob das grüne oder das rote Kleid ihr besser stünde, mit „beide“, „das grüne“, „das rote“ oder „egal“ antwortet;

Wenn sie beginnen, einem in der Öffentlichkeit Flusen oder Fusseln vom Sakko zu zupfen;

Wenn sie fragen: „Und? Wie findest du meine Mutter?“

Wenn sie fragen, woran man gerade denkt;

Wenn sie nach der ersten gemeinsamen Nacht sofort bei einem einziehen wollen;

Wenn sie sagen: „Ich glaube, wir sollten mal eine Weile auf Alkohol verzichten“;

Während der Auseinandersetzung, wer das Haus, und wer die Kinder bekommt;

Bei Südwind, Föhn oder abruptem Luftdruckwechsel;

Bei Vollmond.

 Oma Hager und Miss Cutie, die beide kichernd über ihrem „Chartreuse grün“ saßen, verlangten dann unisono, jetzt müßte aber noch ein Liste her, womit Frauen Männer „total scharf“ machen würden. Nicht, daß mich das nicht gereizt hätte, aus dem wohlgefüllten Nähkästchen empirischer Lebenserfahrungen zu plaudern, aber erstens sorgte ich mich um Freund Asperger, und außerdem räusperte sich Dr. Winterseel und erklärte deutlich pikiert, wir hätten offenbar die philosophisch-literarische Subtilität der asiatischen „Kunst der Liste“ noch gar nicht verstanden. Da kommt wohl noch was nach…

 

 

 

 

 

 

 

Arnold Winterseels Jour Fixe (IV): Zwei, drei Flaschen Wein gegen die Gottesferne

20. März 2009
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Maulana Dschelaleddin Rumi: Wein der Unsterblichkeit?

ÜBER GOTT NUR IN DER ICH-FORM!

Freund Fredy Asperger  tüftelte zuhause an einer kniffligen Fern-Mikado-Aufgabe und erklärte sich am Telefon „mit freundlichen Grüßen“ (!)  für „derzeit unabkömmlich“. Die charmante Miß Cutie indes war angeblich kellnern – sie trachtete seit Frühlingsausbruch das Geld zusammenzubekommen, um sich „endlich mal die Nase machen zu lassen“. Hauke und Hinrich, die Aquavitzwillinge, waren zur alljährlichen Windjammerparade nach Kiel, glaub ich, und Oma Hager ließ sich von Sven-Aaron Mangold, unserem Einserjuristen und Gelegenheitsgigolo, zum Frisör kutschieren, um sich eine frische silberfuchsblaue Haarhaube verpassen zu lassen. Ich machte mir also gewisse Hoffnungen auf ein Privatissimum bei meinem Traurigkeitslehrer Dr. Winterseel. 

Tatsächlich waren im Salon außer einigen mir unerheblich dünkenden Komparsen nur Nachbarschaftsmystiker Enver Konopke und Literaturpapst Blankenvers zugegen. Man diskutierte über die These des Sufi-Süffels, der tägliche Konsum „von etwa zwei, drei Fläschchen Wein“ sei in der Lage, die allenthalben beklagte und und ja auch durchaus  beklagenswerte moderne Gottesferne zu mindern. Er stütze sich, so Konopke, da im wesentlichen auf den mittelalterlichen Derwisch Maulana Dschelaleddin Rumi – die Aussprache des Namens meisterte er wie ein gefährliches Abenteuer sowie unter Aufbietung einiger entbehrlicher La-le-las –, und rezitierte dessen unsterblichen Vers: „Bevor es Garten, Weinstock oder Traube gab in dieser Welt / War unsere Seele bereits trunken vom Wein der Unsterblichkeit“.  – Die bereits pränatale Betrunkenheit Konopkes wollte Blankenvers nun zwar gern konzedieren, bezweifelte das mit der Unsterblichkeit aber energisch. Als Vertreter des medizinischen Materialismus, so der Magister, halte er Konopkes des öfteren vermeldete mystische Visionen eher für „Anzeichen eines handfesten Korsakow-Syndroms“, wie es für chronische Alkoholiker typisch sei; auch werde er, bevor er „Gott sähe“, es wohl erst einmal mit ekligen kleinen Tieren an der Krankenhauszimmerdecke zu tun bekommen, prophezeite er gallig. Weitere herzlose Gehässigkeiten des Magisters, Leberzirrhose und Delirium tremens u. ä. m. thematisierend, induzierten bei Enver Konopke ein derart vernichtend intensives, anfallartiges Erlebnis der Gottferne, ja untröstlichen Gottlosigkeit, daß er vor metaphysischer Erschütterung einen Weinkrampf (!) erlitt. Dieses Schauspiel erreichte bereits das Stadium der definitiven Unerfreulichkeit, als mir der wohlgefüllte silberne Flachmann in meiner Jackentasche einfiel, den ich dem in Tränen aufgelösten Gottsucher Konopke umgehend anbot. Er nahm einen tiefen, langen Schluck vom Scotch, stutzte kurz über den ungewohnt rauen Geschmack, entspannte sich dann aber, sah mich mit noch tränenblinden, aber glutvoll verliebten Augen an, stürzte auf mich zu und verabreichte mir unversehens einen nassen, durch den borstigen Schnauzbart in seinem Gesicht noch unausweichlicher ausfallenden Kuß auf den Mund, wandte sich dann um, mit ausgestrecktem Arm und vor Erregung zitterndem Finger auf den Lyrik-Lektor weisend, indem er mit fürchterlicher Stimme schrie: „Da sehen Sie es! Da sehen Sie es!“ Mit diesen Worten stürzte der kleine kugelige Mann – unter Mitnahme meines Flachmannes –  aus dem Zimmer, um, so vermute ich, die neu gewonnene Gottesverbindung nicht gleich wieder abreißen zu lassen.

An diesem Abend, Blankenvers empfahl sich, von dem Zusammenstoß mit Konopke noch konsterniert, schon früh, sprach ich dann in der Tat lange allein mit Arnold Winterseel. Er sagte mir ungemein Kluges, Trostreiches und Beherzigenswertes über die Anmut des Scheiterns, die Blindheit der Gewinner und über die hellsichtigen Untergeher und Wandler am Abgrund; er sprach von den herrlichen Dichtern, die es verschmäht hätten, auch nur eine Zeile zu veröffentlichen, und erzählte von helläugigen Mystikern, die von Gott nur in der Ich-Form gesprochen hätten, weil „sowieso alles Eins“ wäre und Gott in der dritten Person zu nennen schon den Frevel des Dualismus heraufbeschwöre. 

Zum Schluß verriet er mir noch das gnostische Geheimnis, wie man es durch Autosuggestion und Atemkontrolle  vermeiden könne, zu wirken, als sei man von allen guten Geistern verlassen; leider, zu meiner nicht geringen Ernüchterung schloß Winterseel jedoch mit den Worten: „Aber, mein lieber Bruno, das bleibt unter uns, nicht wahr?“  – Tut mir leid, Freunde!

Arnold Winterseels Jour Fixe (III): Zwischen Ramadan und Remmidemmi

15. März 2009
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Achtung, Mode-Schnarchnasen: Die Schlafmaske wird heuer zum Fashion Accessoire!

SELBST-GEHEGELTES: DAS JA UND DAS NIX

Nach meinem ersten Eindruck war Enver Konopke ein Roßtäuscher, wie er im Buche stand. Der kleinwüchsige, monströs beleibte Glatzkopf in seinem unseriös schillernden Glenchek-Anzug und mit dem wenig überzeugenden Knebelbart eines Berufs-Catchers war mir erstmals aufgefallen, als er in Winterseels Salon lauthals von sich behauptete, er sei „der einzige muslimische Atheist seiner Nachbarschaft“, wenngleich aber zwar, wie er mit wichtigtuerische Miene hinzukrähte, „… ein stock-schiitischer!“ Dennoch hätten, so schwadronierte der „Privat-Mystiker“, wie er sich hochmögend nannte, weiter, ihn „sämtliche Mullahs auf dem Kieker“, weil er im Fasten-Monat Ramadan „mit dem Saufen donnich so abrupt aufhören“ könne („Menno, Schnaps issn Medikament, da mußte dir janz lannsam ausschleichen, wa?“); dafür stelle er doch dabei in der Fastenzeit tagsüber, solange er einen schwarzen von einem weißen Faden unterscheiden könne, „det Reden komplettmang“ ein, was für ihn ein weitaus größeres Opfer an Allah darstelle, zumal wenn man in Betracht zöge, daß man für dessen Existenz vor allem nach dem Hinscheiden seines angeblichen Profeten Muhammad H. jeden Beweis schuldig geblieben sei.

Oma Hager bekam hektische rote Flecken auf den Wagen und zischte mir mit theatralisch durchdringendem Bühnenflüstern zu, sie kenne „doch diesen Blender“ noch aus der Zeit, als er schwarz-blau-weiße Lackschuhe getragen und sich „Elvis“ genannt hätte; während eines „frivolen Techtelmechtels“ habe er ihr, seiner beträchtlichen geschlechtlichen Erregung Tribut zollend, sogar in einer Art Geständniszwang einmal offenbart, sein Taufname sei eigentlich Erwin, und er sei in Wahrheit der illegitime Sproß eines preussisch-protestantischen Pedanteriewarenhändlers aus Rixdorf gewesen, bevor er zum Islam konvertiert und an jenem dann wiederum zum Renegaten geworden sei. – „Enver Bey“, wie er sich gern rufen ließ, zwinkerte mir bei Oma Hagers unüberhörbar  konopke-kritischenen Einlassungen lediglich verschwörerisch zu und deutete mit vor den Augen absolvierten, energischen Wischbewegungen an, daß er die alte Dame für unrettbar dement (i. e. „völlig gaga und plem plem“) hielte.

Unser Einserjurist Mangold warf schneidend ein, nach den Regeln der Aussagenlogik mache es ja wohl, ob man sich nun jüdischer, christlicher oder muslimischer Atheist schimpfe, ungefähr so viel Unterschied wie die Frage, ob man John Cage’s Stück > 4′ 33“ <, das bekanntlich aus ca. viereinhalb Minuten Stillschweigen bestünde, nun für Piano (Fassung von 1952) oder für Orchester (London, 1982) aufführe. – Hauke und Hinrich Dittmers, die Aquavitzwillinge, protestierten unisono und furioso: Ihre friesische Ontologie der Negation besagte, um es zusammenzufassen, es sei „scha numah ein völlich anneres Gefühl“, ob man „kein Jubi mehr“ in Gefrierfach hätte oder „bloß ma das Jever aus“ sei! 

Unser Mentor und Traurigkeitslehrer, Dr. Arnold Winterseel, hatte, noch in der Tapetentür verweilend, dem sich anschließenden Disput über das Sein und das Nichts mit gütigem Schmunzeln beigewohnt, räusperte sich aber dann, um beiläufig zu bemerken:

„Liebe Freunde, es ist doch wohl ohne Zweifel folgendermaßen: … die Negation steht unmittelbar der Realität gegenüber: weiterhin, in der eigentlichen Sphäre der reflektierten Bestimmungen, wird sie dem Positiven entgegengesetzt, welches die auf die Negation reflektierende Realität ist, – die Realität, an der das Negative scheint, das in der Realität als solcher noch versteckt ist“!

„Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. I, Kap. II, Abschnitt A, Absatz b, Anmerkung1“ – murmelte Fredy Asperger neben mir traumverloren, während Miss Cutie plötzlich einem hysterischen Gickel-Krampfanfall zum Opfer fiel und wenig damenhaft, mit hochrotem Köpfchen losprustend und „ich mach mich gleich nass, ich mach mich gleich nass!“ quiekend schleunigst aufs Lavobo retirierte. 

Winterseel schien mir, seinem bekümmert eulenhaften Gesichtsausdruck nach zu urteilen, ernsthaft konsterniert! –  Und hier war es nun doch ausgerechnet der bramarbasierende Barbaren-Brahmane und Sufi-Säufer Enver Konopke, der die Situation rettete, wenn auch mit einer unleugbar atemstockenden Vulgarität, die manche an Jonathan Swifts Erzählung erinnerte, wie Gulliver einst den Brand im kaiserlichen Palast von Liliput gelöscht hatte, in dem er ungescheut vollrohr draufschiffte: – Ein schnapsbedingstes schweres, saures Aufstoßen zerriss jedenfalls die betretene Stille, in die hinein Enver Bey Konopke seinem Rülpser mit einem artikulationsmäßig leicht verwaschenen, sonst aber formvollendeten Hegel-Zitat Gewicht und Vollendung verlieh:

Die Qua… Qua…Qualierung oder Inqualierung…, einer in die Tiefe, die Tiefe, aber, äh, in eine trübe Tiefe gehenden Philosophie, bedeutet die Bewegung einer Qualität (der sauren, herben, feurigen usf.)“ – hier stierte der Ex-Konvertit uns mit einem wehe wattigen Grinsen ins Gesicht, – „in ihr selbst, insofern sie in ihrer… ihrer negativen Natur (in ihrer Qual) sich aus anderem setzt und befestigt, überhaupt die Unruhe ihrer an ihr selbst ist…“

„…nach der sie nur im Kampfe sich hervorbringt und erhält“,  fielen wir alle erleichtert in jubilitatorischem Chore ein, uns an den Händen fassend und mit den Füßen sanft den Rhythmus in den Teppichboden stampfend. These und Anti-These, Realität und Negation lagen sich dialektisch in den Armen und des Schmatzens fraternisierender Wangenküsse wollte es kein Ende nehmen. Mit seiner Bravourleistung hatte sich Enver Konopke in unsere Herzen rezitiert und wir nahmen ihn, ungeachtet seines inzwischen erfolgten komatösen Zusammenbruchs, einstimmig in unsere Salon-Runde auf, wo er seither darauf pocht, die Rolle eines „Paradiesvogels“ zu spielen…. 

Arnold Winterseels Jour Fixe: Der Papst beim Striptease….

11. März 2009
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Traum der Philosophen: Einmal auf Miss Cuties Pyjama-Party eingeladen sein...

…ODER DIE PSYCHOPATHOLOGIE DES VERLESERS

Auf dem Weg, in der U-Bahn, bekam Freund Fredy mal wieder seinen Missionarischen:  Mit vor Eifer erblühenden Wangen teufelte er auf mich mit seinen Lieblingsthesen ein: Nämlich, Autismus sei gar keine Behinderung, sondern ein ebenso anmutiger wie umweltschonender Weg, sich die Zumutungen der Welt vom Halse zu halten und stattdessen sich konzentriert und selbstvergessen der Perzeption und Pflege innerer und äußerer Ordnungen von komplexer, ja unsagbarer Schönheit zu widmen! – Ich blieb aber gelassen. Glasperlenspielsüchtigen wie Fredy Asperger sollte man in diesen Dingen nicht widersprechen. Bei meinem letzten diesbezüglichen Versuch hatte er mir mit vor Konzentration völlig verklärtem Blick und beunruhigend methodisch sämtliche Knöpfe vom Jackett gedreht! – Bin ich mit Fredy unterwegs, trage ich innerlich immer meinen Button mit der Aufschrift: „Freundschaft heißt, das Fremdartige zu akzeptieren, bis es einem aus Gewohnheit lieb wird“.

Die Runde in Arnold Winterseels verqualmten Salon präsentierte sich uns beim Eintritt in schon vorgerückt entspannter Stimmung. Es fehlten diesmal freilich die Aquavitzwillinge, die sich entschuldigen ließen, weil sie, so hatten sie trotzig kundgetan, ihren Junggesellenabschied zu feiern gedachten und deshalb nur eine Grußadresse, einen Topf Fischerbowle und eine Langspielplatte mit Shanti-Songs hatten abgeben lassen. (Trotzig insofern, als weder Hinrich noch Hauke überhaupt über eine Braut verfügten, eine Hochzeit bei keinem der Zwillinge absehbar bevorstand und überdies beide, wie wir sehr wohl wußten, im Alter von jeweilen 34 Jahren noch bei ihrer alleinerziehenden Mutter wohnten. Wir Liberalen tolerieren dies natürlich schmunzelnd.) 

Man war, so stellte sich heraus, bei einem Becherchen Bowle in eine Debatte über die psychoanalytischen Hintergründe von sog. Verlesern verstrickt. Oma Hager hatte leichtsinnigerweise erzählt, sie habe kürzlich einmal statt „Brieffreundin“ das Wort  „Bierfreundin“ gelesen, bestritt dann aber hartleibig, daß dies einen verdrängten Wunsch von ihr offenbare, da sie als Feministin der allerersten Stunde Bier als notorisches Getränk des Patriarchats generell verschmähe; auch einer „frivolen Freundin“, Bier hin oder her, bedürfe sie nicht, da sie, ihrer Erinnerung und ihres damaligen Kenntnisstandes („Wir wußten ja nichts!“) nach, in ihrer aktiven Zeit, bis tief in die 50er Jahre hinein, eindeutig heterosexuell gewesen sei. Magister Blankenvers quitttierte es mit einem unverhohlen diabolischen, ja fast dionysischen Grienen, daß Oma Hager das Wort immer auf der zweiten Silbe betonte („hetérosexuell“), was ihm (dem Wort, nicht Blankenvers) eine gewisse hetären-ähnliche Verruchtheit verlieh.

Sven-Aaron Mangold, unser Einserjurist, aufgrund eines unverhofft gewonnenen Falles schon seit Stunden mit gelockerter Krawatte, steuerte einen weiteren, persönlich erlebten Kasus bei: So habe er in der Zeitung, diese flüchtig durchblätternd, die Headline „Papst erfand Striptease“ gelesen und sich unwillkürlich und zwanghaft, in Sekundenbruchteilen, das Kirchenoberhaupt als Table Dancer in kardinalsroten Strapsen vorstellen müssen; es habe aber dort, bei nochmaliger Lektüre, letztlich doch „Paris“ statt „Papst“ gestanden. Psychonalytisches Nachbohren beantwortete auch Mangold mit striktem Widerstand: Keinesfalls hege er insgeheim die homoerotische Begierde, beim Heiligen Vater (ca. 94) „den Ministranten spielen“ zu wollen! Er weise dieses „in aller Schärfe“, wie er nicht ohne Humor betonte, zurück. – Ich ließ mich dann nicht lumpen, und steuerte meinen eigenen neuesten Verleser bei. Ich hatte kürzlich auf meinem Blog einen Typus porträtiert, den ich den „Eindimensionalen“ nannte. Eine mir persönlich noch unbekannte, nichtsdestoweniger sehr liebe Wienerin schrieb mir daraufhin augenzwinkernd, immerhin aber sei dieser Eindimensionale, dessen Urbild im realen Leben sie vielleicht ebenfalls kenne, „monotaskingfähig“. Da dieser Begriff bis dato weder meinen aktiven, noch meinen passiven Wortschatz bereicherte, las ich stattdessen geläufiger „montagskinofähig“ und versank unmittelbar in jene hypnotische Trance, die Verleser bei mir verursachen können, während ich mir den in Frage stehenden Mann als jemanden vorzustellen versuchte, der nicht nur seine Schuhe allein zuzubinden, sondern evtl. auch des Montags imstande wäre, an der Kinokasse ein verbilligstes Eintrittsbillett für einen ab 6 Jahren freigegebenen Animationsfilm zu erstehen. 

Es war die hinreißende Miss Cutie, die mir noch vor etwaigen Nachfragen beisprang und erklärte, darin könne sie nun „beim besten Willen keinen freudianischen Schweinkram“ erkennen. Ich dankte ihr mit einem knapp angedeuteten Luftküßchen, worauf sie sich mit einem derart himmelblond-schüchternen kleinen Lächeln revanchierte, daß ich es später mit nach Hause nahm und in eine Vase stellte. Ironischerweise war es aber ausgerechnet unsere modisch immer topaktuelle und auf Stylishkeit bedachte Beauty-Queen, deren Verleser dann doch noch eine wenigstens annähernd sexualpsychologische Deutung nahelegte. Sie habe, bekannte Miss Cutie mit einem entzückenden leichten Erröten, kürzlich einen Illustrierten-Report über Schönheits-OPs studiert, worin eine Botox-Heroine als „Stilikone“ apostrophiert worden sei, sie aber, – wohl weil die Lektüre im Wartezimmer ihres Gynäkologen erfolgte, in einer gewissen inneren Flüchtigkeit stattdessen „Silikone“ gelesen habe. Bei diesem Bekenntnis senkte sie keusch den Blick – sodaß wir, sie eingeschlossen, ausnahmslos alle für eine erlesene Sekunde lang meditierend den Blick an ihrer Oberweite verweilen ließen. Dies war ein extraordinär besinnlicher Moment, – als flöge der sprichwörtliche Engel durchs Zimmer!

Es war aber Dr. Winterseel, unser verehrter Traurigkeitslehrer, der unbemerkt durch die Tapetentür getreten war. Leger in das Vorlesesitzmöbel gegossen hielt der Mann im schwarzen Samt-Sakko uns einen Vortrag darüber, wie der Kirchenvater Augustinus einst (in „De Civitate Dei“) die unwillkürliche, willentlich nicht zu beeinflussende Spontan-Erektion des männlichen Geschlechtsgliedes als Bild- und Gleichnis für Adams Aufstand gegen Gottes Willen interpretiert habe. Leider konnte ich mich auf die hermeneutisch-theologischen Weiterungen des Gleichnissses nicht mehr konzentrieren (muß Fredy fragen!), weil ich von Miss Cuties träumerisch verschleierten veilchenfarbenen Augen gefesselt war. Es muß aber Winterseels Vorlesung immerhin zu einer gewissen Beschwingtheit Anlaß gegeben haben, weil Oma Hager, nach mehreren „Chartreuse grün“ einigermaßen entfesselt, noch im Treppenhaus aufgekratzt gekräht haben soll: „Nieder mit dem Phallus! Nieder mit dem gottlosen Rebellen-Schurken! Nieder! Willst du wohl…! Nieder mit dir, sag ich…!“

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Ein Wiener, seinen Phallus niederstarrend (Monotasking)

Arnold Winterseels Jour fixe: Virtuelle Freundschaften

2. März 2009
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Traurigkeitslehrer Dr. Arnold Winterseel

PERSONALDEBATTEN, SCHWULE SÄTZE, NETZ-FREUNDSCHAFTEN

Gestern hatten Fredy Asperger und ich wieder jour fixe  bei unserem alten Traurigkeitslehrer Dr. Arnold Winterseel. Fast alle andern waren schon da, als wir ankamen: Miss Cutie, Oma Hager, die Aquavitzwillinge, Sven-Aaron Mangold und Alt-Lyriker Anatol „Na-toll!“ Blankenvers begrüßten uns mit beiläufigem Nicken oder Zuprosten, die anderen waren gerade mit Rauchen beschäftigt oder feilten mit nach innen gerichtetem Blick an ihrem Diskussionsbeitrag. Es herrschte nämlich schon wieder dicke Personaldebatte, zum Aufwärmen. Gewürdigt wurden dabei vornehmlich erstmal, pietätshalber, unsere Verluste: gerade Verstorbene wie die bundesverdienstkreuzverdächtige Sozial-Nutte und Kult-Domina Domenica; junge, aber leider trotzdem Hingegangene („Deichkind“-Produzent Sebastian Hackert); oder aber in gesegnet-biblischem Alter frisch Verblichene wie Schnaps-Tycoon Friedrich Berentzen aus Haselünne, den legendären Erfinder des Apfelkorns.  Der hieran anknüpfend sich assoziierende Geschmacksdissens brachte das Thema Angewidertsein aufs Tapet.

Darf man denn überhaupt von bestimmten Menschen angewidert sein? Natürlich. Der Satz „Du! –  wiii…derst mich an!“, im Modus abgrundtiefer Verabscheuungsgrazie hinaus-, oder besser herabgeschleudert auf den derart mit Anathemata Besudelten, gehört zu den pikantesten Preziösen der erotologischen Beziehungstrennungsdramaturgie! Man erprobe das ruhig. Er eignet sich für Auseinandersetzungen am WG-Küchentisch ebenso wie für das intime Beziehungsdramolett in der weißen Ledersitzgruppe: „Weißt du was? – – Du… du… wiii…derst mich an!“ Und Punkt. Erbittertes, würgendes, eben, wie gesagt, angewidertes Schweigen. Verbrannte Erde, zerschnittenes Tischtuch. Bzw. Laken, denn, keine Frage, gewiß, daß dieser Satz eine schon beinahe tödliche Wirkung erst in der Zweisamkeit des einst einvernehmlich geteilten Boudoirs entfaltet. Wer sich gerade nackend, seine gesammelten Unzulänglichkeiten und Sportversäumnisse den Blicken der Nachtischlampen preisgebend, auf der Bettstatt räkelt und bekommt diesen Satz gewissermaßen direkt zwischen die Beine gedonnert, mit dem ist es erstmal würdetechnisch  vorbei. Der zeugt keinen Apfelbaum, pflanzt kein Haus und baut kein Kind mehr in der regulären Herbstsaison, der bleibt lange allein, der wird lange Briefe schreiben oder lesen, doch für die Anwerbung neuer Bettgespielen wird das Selbstbewusstsein erstmal nicht reichen. „Weh mir, wo nehm ich, wenn /
Es Winter ist, die Blumen, und wo/
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn /
Sprachlos und kalt, im Winde
/ Klirren die Fahnen“ rezitierte Magister Blankenvers mit dem sonor elegischen Timbre des Berufsergriffenen. – Soweit waren auch alle einig; die mehrheitlich schüchtern begehrte Miss Cutie zeigte durch Einschaltung ihrer hinreißenden Wangengrübchen an, daß selbst ihr der Kontext nicht gänzlich fremd war, doch dann zerschnitt ein Widerwort  den Konsens: „Also ich finde diesen Satz irgendwie … schwul!“, dekretierte Mangold mit der einschmeichelnd schneidenden Diktion des Eintänzers und Einserjuristen.

Eine heftige Debatte über die Frage „Wieso denn schwul?“ entbrannte, von der ich wegen einer durch Miss Cuties geradezu unanständig wohlgeformten, jahreszeitlich bedingt zartfeinstrumpfbehosten Minirockbeine ausgelösten Konzentrationsstörung nicht viel mitbekam (Freund Fredy Asperger übrigens auch nicht, weil er gedankenverloren versuchte, die auf dem Tisch in Bechern bereitstehenden Salzstangen nach Länge zu sortieren). Das Einzige, was mir noch erinnerlich ist, bestand im auftrumpfenden Argument Sven-Aaron Mangolds, man möge sich doch den Satz „Du widerst mich an!“ einmal von Guido Westerwelle gesprochen denken. Oder noch viel mehr: An ihn gerichtet! Wer zu Herrn Westerwelle (MdB) gezwungen wäre, zu sagen: „Gu-iiido, du … wi…derst mich an!“ – müsse sich derjenige nicht automatisch schwul vorkommen? Irgendwie? Selbst wenn es der öffentlich-rechtlichen Wahrheit entspräche?

Endlich, als die alberne Diskussion der Rasselbande schon rotwangig ins Uferlose auszuufern drohte, trat Dr. Winterseel durch die Tapetentür, wie immer, seiner Marotte folgend, den Kragen seines schwarzen Samt-Sakkos hochgeschlagen, und nahm im Vorlesungssitzmöbel Platz. Als er das Sujet seines Monologes kundgab – „Die paläo-obstake Illusio virtueller Kuscheligkeit in Netz-Communities“ –, spitzten die Aquavitzwillinge natürlich ihre bereits unnatürlich magentafarbenen Ohren: Waren sie doch gerade einem konterrevolutionären Massaker auf einem Internet-Portal entronnen und schmiegten sich nun, ihrer virtuellen Netzfreundschaften entblößt, fröstelnd aneinander.

Wie immer verstand ich nicht jedes Wort von Dr. Winterseel (werde Fredy fragen, der ein fotographisches bzw. audio-tape-mäßiges Gedächtnis besitzt), aber fast wörtlich ist mir noch erinnerlich, was er vom Meisterdenker Peter Sloterdijk über die Anziehungskraft von Internet-Communities an Klugem zitierte:

„Der Rückzug von den anderen, das Alleinseindürfen, das ist die große Errungenschaft des Individualismus.  Aber der Mensch ist auch ein Stammeswesen. Diese Netzwerke können beides glücklich vereinen: Man bleibt vom lästigen, vom aufsässigen anderen verschont, und doch ist der ganze Stamm immer anwesend.“

Unter schallendem Gelächter aller wies Winterseel dabei illustrierend auf Oma Hager, die in unserer Mitte, in ihrem Stamm also, über ihrem Täßchen „ChartreuseGrün“-Liqueur eingenickt und somit in perfekter, ja philosophischer Weise anwesend-abwesend war.

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Oma Hager (2. v. r.) und ihr „Stamm“ beim philosophischen Jour Fixe