Jahrzehnte lang bin ich durchs Leben gestoffelt, ohne zu wissen, was Pastinaken sind. Ich dachte, das wäre eine von diesen gnostischen Sekten in Bulgarien, oder so ein südamerikanisches Sumpf-Insekt, aus dem man giftige Salbe macht. Durch Unbildung entging mir so für Ewigkeiten eine leckere Suppe, wo man noch Jakobsmuscheln rein tun kann, dann wird sie eine Köstlichkeit.
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Andererseits bin ich gut darin, jungen Menschen etwas beizubringen. Weil sie eine fromme Muslima ist und ich ein bösartiger alter Sack, hab ich meiner Nachhilfeschülerin Azize von der Evolution erzählt. Die Abiturientin sieht mich mit schreckensweiten Augen an: „Saurier? Die gab es wiiiiarklich?“ – „Jaha“, bestätige ich, „genau wie Godzilla, Tarantula und Bussibär, aber die wirst du auch nicht kennen…“ – Also jetzt mal ehrlich!
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Vor kurzem kam eine Email von Azize, wahrscheinlich aus dem Schulklo: „Kannst du mir bitte, bitte ganz schnell in zwei Sätzen sagen, worum es noch mal im Chandos-Brief geht?“ Aber klar. Ich könnte auch die „Buddenbrooks“ in einem Satz zusammenfassen, aber es würde ein langer Satz, der das Handy-Display wohl sprengen würde. Immerhin konnte ich ihr zurückmailen, dass es um eine Sprachkrise ginge. Damit kennt sie sich aus, das hat sie täglich.
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Gerade arbeite ich über Kleist. Also nicht, dass er sein Büro unter mir hat, sondern Kleist als Vortrag jetzt. Der sich vor zweihundert Jahren erschossen habende Kleist war zu Lebzeiten ein ziemlich enervierender Wirrkopf. Hätte man ihn als Freund auf dem AB, man würde wohl selten zurückrufen. Schon, weil man auf seine Briefe nicht verzichten möchte. Kleist war der hinterlistigste, manipulativste und taktisch versierteste Briefeschreiber aller Zeiten. Schon wie er es schafft, auf Beziehungsfragen wortreich und melodisch nicht zu antworten, weil: „Wie soll ich es möglich machen, in einem Briefe etwas so Zartes, als ein Gedanke ist, auszuprägen? Ja, wenn man Thränen schreiben könnte.“ Nicht wahr? Aber die sind ja auf Reisen gegangen. Wenn die Gattin mich das nächste Mal fragt: „Woran denkst du?“, habe ich schon eine gute Antwort parat.
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Übrigens, nebenbei, to whom it may concern: Ein selbst herausgefundener Tipp. TV-Arztserien und Kochsendungen sind viel weniger ekelhaft, wenn man sie auf den zweiten Bildschirm legt, den man nur aus dem Augenwinkel beobachtet. Aber Ton-Abdrehen nicht vergessen! Wenn man zwischendurch wissen will, wer die bildhübsche Lernschwester Anja zum Weinen gebracht hat oder was das für schrumplige Materie-Batzen sind, die Frau Susemichel heute in der Pfanne quält, schaltet man sich halt kurz ein, per Mausklick-Blick.
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Mit der Gattin, die ja auch studierte Theaterwissenschaftlerin ist, erörtere ich über der Pastinaken-Suppe die schwer danebene psychische Struktur von Kleist. „Er war ein komplett lebensuntüchtiger Wirrkopf, voller irrer Pläne und kaputter Projekte, aus denen nie was wurde, ein Schwätzer, selbsttrunkener Träumer, Selbstmystifizierer und manipulativer Traumtänzer“, schwärme ich begeistert. Die Gattin mustert mich fast verliebt, aber auch mit ihrem berüchtigten Ärztinnen-Blick, und sagt nachdenklich: „Weißt du was? Du hast was von Kleist“, was ich nur mit Mühe als Kompliment auffasse. Und dann bringt sie wieder so einen Versprecher, der mich daran erinnert, warum ich sie geheiratet habe: „Sag mal“, sagt sie, „gab es eigentlich damals schon diese Daguerrotherapie?“ Leider nicht. Tägliches Fotographiert-Werden hätte Kleists Selbstbewusstsein möglicherweise aufgeholfen. Oder Fernseh-Talkshows, in denen er freilich vor lauter Schüchternheit und Stottern („Blödigkeit“) kein gescheites Wort herausgebracht hätte. Wie ich!
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„Was machst du noch?“ lautet die tägliche obligatorische Frage beim telefonischen Tagesabschlussgespräch mit der Gattin. Stereotyp antworte ich: „Ach, ich denk mal, ich trink noch ein Glas Wein“, wobei unter „ein Glas“ eine generalisierende Metapher zu verstehen ist, „und vielleicht schreib ich noch ein paar Zeilen.“ – Nämlich diese hier.
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