Archive for the ‘Auf die Ohren! Fertig! Auf die Ohren!’ category

The long good-bye (I)

30. Mai 2012

Abschied vom Geddo-Magister?

Faszinierend und wahrscheinlich kein Zufall („Zufall“ ist überhaupt ein unbefriedigendes Konzept, finde ich, alles in allem): Seit Tagen höre ich nur noch Musik, die mit Exil, Exodus und Heimkehr zu tun hat. Erst wars Monteverdis „Il ritono d’Ulisse in patria“, dann, über Pfingsten, Händels Oratorium „Israel in Egypt“ und seit heute früh dreht sich in Kopf und Player unentwegt und mit fast schon enervierender Hartnäckigkeit Dylans „Just like Tom Thumb’s Blues“, allerdings zunächst in der grandiosen, unfassbar larmoyanten Cover-Fassung vom schottischen Alt-Alkoholbarden Frankie Miller (1973) gewinselt, gejammert und geheult; danach vom Meister selbst, staubtrocken, sarkastisch, überdeutlich prononciert, abgründig selbstironisch und immer mit so einem gedehnt höhnischen Unterton, wie es in der Zeit um 1965 („Highway 61 revisited“) halt seine Art war.

In dem Song über den Blues des Däumlings (Literaturprofessoren behaupten, das sei eine Anspielung auf den Däumling-Träumling „petit poucet rêveur“ in Arthur Rimbauds „Ma Bohème“, vielleicht ist aber auch nur die tragisch verblichene Experimental-Dampflokomotive gleichen Namens, nämlich Tom Thumb,  gemeint, die einst in Maryland oder wo gegen eine Pferdebahn siegte und trotzdem nicht rüssierte) geht’s um einen Typ, den es in das Grenzkaff Juarez, Chihuahua, Mexico verschlagen hat, unter Dealer, Huren („Saint Annie“, „Sweet Melinda, the goddess of gloom“) und zwielichtige Heilige, korrupte Bullen und fiese Beamte, und die „hungrigen Frauen“ machen ihn fertig, er ist zu schwach, sich einen neuen Schuss zu setzen, er ist total down und am Ende in der „Rue Morgue Avenue“, wo ihm selbst Arroganz und Negativität nicht mehr helfen, und am Schluss heißt es: „I’m going back to New York City / I do believe I’ve had enough.“ Tja, das kenn ich. Hab wohl auch genug, nach drei Jahren Geddo. Der Däumling geht.

Meine Tage sind gezählt. Damit ihr es fast als erste erfahrt – ich komme nach drei Jahren im Geddo nämlich auf Bewährung raus, ich lege den Blauhelm ab, verstehe ab sofort kein Wort Türkisch mehr und wage das Abenteuer, nach zwanzig Ehejahren, mit der Gattin in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, und zwar in einen bürgerlichen Luxus-Palast mit knapp tausend Quadratmetern, ausgestattet mit mehreren Bädern, privater Tennishalle und Gästefahrrad, in einem gepflegt begrüntem, von der Polizei spezial überwachten Rentner-Reservat voller Rollatorenpiloten und öko-christlicher Mülltrenner.

Wie ich mich kenne, werd ich in der Ruhezone natürlich alsbald wieder zu nörgeln beginnen: Da ist ja nirgends einer auf der Straße! Wo sind die ganzen kurz geschorenen, segelohrigen Schmuddel-Kinder, die schwarzen Dealer, die bulgarischen Eckensteher? Wo das schöne Müllgebirge, die possierlichen Ratten, der ewige Straßenlärm, die keifenden Kopftuchmuttis? Und nachts ist es so still, dass man seinen Herzschlag hört und das monotone Sausen in den Adern! Vor allem aber ist es mit meiner lieb gewonnenen Selbstmystifikation als mönchischem Geddo-Magister vorbei, dem herben Engel der Verwahrlosten, Bescheuerten und displaced persons, deren treuer Tröster und kaiserlicher Türsteher ich war. Circa zum achtzehnten Mal im Leben muss ich mich komplett neu erfinden. Was geht, was hatte ich noch nicht? Was könnte mich noch an mir interessieren? Ich hab keine Ahnung. Aber Juarez, nee, ich glaub, davon hab ich genug.

Heroische Testpersonen probierten übrigens damals, auf der von „Tom Thumb“ gezogenen Dampflokbahn, bei der Wettfahrt 1830 mit der Pferdebahn, ob das menschliche Hirn bei 24Kmh noch in der Lage sei, schriftlich Empfindungen zu protokollieren. Es gelang! Ich werd also wohl weiter schreiben…

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Moment verpennt

13. Juni 2011

 

Mozart mit Kopfhörer (Gemälde von Anna Maria Dusl für "Falter")

Immer wieder gern gehört wird das Stück „4’33“ von John Cage, eine dreisätzige Komposition, bei der alle Instrumente schweigen („tacet“). Das Stück gibt es für Klavier, Kammer- sowie Sinfonieorchester. Ich bevorzuge die machtvoll schweigende („tutti“!) Londoner Orchesterfassung, die ich oft auflege und so laut drehe, dass sie eigentlich alles andere übertönen müsste. Leider funktioniert es nicht – die Straße will einfach nicht, wenn ich das mal so lautstark ausdrücken darf, ihre Fresse halten! Ich beklagte dies schon öfter, in letzter Zeit nicht nur aus rentnerhafter Ruhebedürftigkeit, sondern auch aus richtig gewichtigen Gründen: Ich soll nämlich Texte von mir einsprechen und hab dafür eigens ein teures Profi-Mikrophon-Headset von Sennheiser auf den Kopf geschraubt bekommen. Wenn ich aber meine elaborierten Klügeleien (von Augustinus bis Zoroaster!) später abhöre, klingt es immer, als hätte ich Kiplings Dschungelbuch vertont, sofern man als Dschungel akzeptiert, dass dort türkisch gebellt, Arabesk-Musik oder Gangsta-Rap gespielt und die Rolle kreischender Papageienschwärme von dauerfußballernden Kindern übernommen wird.

Ich meine, wer will schon erklärt bekommen, warum Hegel meinte, das Wirkliche sei das Vernünftige, wenn dann auf der Soundspur ewig das doofe Geddo lärmt? Die Straße ist zwar nie vernünftig, aber immer verdammt wirklich! Man stelle sich vor: Die zart-filigrane Abstraktionsarchitektur von Immanuel Kants „Kritik der“ leisen, quatsch, „reinen Vernunft“, und dann brüllt ständig einer dazwischen: „Du blöde Votze, ich hau dich zu Brei, du Nutte! Ich frag zum letzten Mal: Wo ist das Geld“? Das ist doch weder pädagogisch noch didaktisch als wertvoll einzustufen, Wirklichkeit hin oder her. – „Kinder, so kann ich nicht arbeiten!!!“

Aber jetzt, heute, Pfinxen, Montag. Ich erwache verkatert (hatte Pfinxen mal wieder mit Vatertag verwechselt, passiert mir jedes Jahr) um 6.00 Uhr morgens in meinem Schlaf-Büro und: ……….. es herrscht himmlische, ja göttliche Stille! Mein Hirn spielt alarmierende Musik ein (Eminem: „…the mike is yours and you’ve got only ONE SHOT, ONE OPPORTUNITY“!) und empfiehlt senile Bettflucht. Jetzt oder nie! Ran an den Schreibtisch, Hörbücher produziert, garantiert ohne Nebengeräusche! Negergeräusche? Nein, nein, Nebengeräusche. Natürlich bin ich es gewohnt, spontane Impulse noch mal reflektierend zu überdenken. Als ich zehn Minten später damit fertig bin, ist es 9.30 Uhr. Auf dem Hörbuch-Track nur weißes Rauschen, untermalt mit John Cage. Immerhin. Es war einfach zu ruhig zum Arbeiten.

Zu meiner Zeit reichten Knicks und Diener

1. Mai 2011

Verfluchte Küsserei! (Quelle: Bundesarchiv/Wikipedia) – Zu meiner Zeit küssten sich nur Liebende...

Keine Frage, sobald man beginnt, immer häufiger Sätze mit „Zu meiner Zeit…“ anzufangen, offenbart man, definitiv vom Laufband jugendlichen Up-to-date-Seins gefallen zu sein. Ich krieg nur nie mit, wann die Zeit eigentlich aufgehört hat, die meinige zu sein. Zum Beispiel: Wann hat das angefangen und welcher Benimm-Papst hat das eingeführt, dass man auf Parties oder sonst wo praktisch wildfremde Menschen gleich welchen Geschlechts, die vielleicht gerade mal Cousinen von Kollegen einer Freundes-Freundin sind, mit angedeuteter Umarmung sowie links und rechts der Wangen in die Luft gespitzten Küsschen zu begrüßen hat? Ich möchte das nicht! Ich bin nordisch-protestantisch erzogen! „Zu meiner Zeit“ taten es Knicks oder Diener, und bei der Tanzstunde seiner latein-amerikanischen Standardtanz-Partnerin auf den spitzbeschuhten Fuß zu treten, galt schon als Gipfel körperlicher Intimität. Schweißausbrüche bekam ich schon von solchen körperlichen Zunahetretungen! Und jetzt immer dieses Vollkontakt-Bussibussi.

In Großbritannien hält man wenigstens noch an sich: Prinz Willi und seine Käthe küssten sich bei der Hochzeit (!) laut Pressemeldung gerade mal 0,7 Sekunden– und die kennen sich schon zehn Jahre! Käme vielleicht jemand auf die Idee, die Queen bei der Schulter zu packen, ihr die komische quietschgelbe Hutkreation vom Kopf zu reißen und die alte Dame mit Boden-Luftkuss-Raketen zu beschießen? Eins, zwei, drei wäre man lebenslang von der royalen Gästeliste gestrichen! Mich aber schleift man auf Geburtstagsfeten, wo ich eh niemanden kenne, und ehe ich mich versehe, habe ich eine Vroni, eine Heidrun, „den Klaus“ und „Ali, ihr müsstet euch eigentlich kennen“, hüftsteif halb-umarmt und links, rechts luftgeküsst. – Moment mal Ruhe, jetzt singt gerade der Chor: „Da-ha-has gi-hibt ja nun würklich wei-heiß Go-hott schlümmeres!“ Ja klar gibt es schlimmeres, immer.

Vor allem für ungesellige Grizzleys wie mich, die ohnehin schwer aus ihrer Höhle zu locken sind, und sich plötzlich im Zentrum eines brachialen Höllenlärms wieder finden, der heute Party heißt. Aus viel zu mickrigen Boxen dröhnt, schrillt und scheppert überwiegend schlechte Musik, die von Gruppen exaltierter Menschen, die sich unmotiviert um Stehtische drängen, versuchsweise überschrieen wird; übertönt wird die Kakaphonie lediglich von Damen in den Mittvierzigern, die gekleidet sind wie 20-, sich aber benehmen wie 14-Jährige und mit Hilfe kreischenden Gelächters unsagbare Spontaneität und ziellose Begeisterung abstrahlen. Eigentlich hülfe jetzt nur die zügig eingeleitete Narkotisierung durch einen zuverlässig zünftigen Vollrausch, was sich aber leider verbietet, weil die Gattin auch da ist und ein Auge auf mich hat, meine hilfesuchenden Verzweiflungsblicke aber zunächst streng ignoriert. Dabei hasst sie solche Events mehr als ich, sie lässt es sich nur nicht so anmerken.

„Zu meiner Zeit“ waren Parties natürlich auch doof, aber man konnte sich wenigstens in der Küche absentieren, mit einigen verständigeren Menschen ein Konventikel bilden und bei geistigen Getränken geistvolle Bemerkungen austauschen. Aber es gibt keine Küchen mehr! Man steht oder, wenn Gott einem gnädig ist, hockt in einer Ein-Raum-Galerie oder Avantgarde-Kiez-Bude mit abstrakt-expressionistischen Bildern an der Wand, nirgends Nischen, Höhlen oder Verstecke, man kennt niemanden, auf den man einbrüllen könnte oder möchte, und aus den Schepperboxen kommt Elektro-Pop der späten 90er. Keiner kümmert sich um wen anders als um die Mitglieder der ur-eigenen Brüll-Gruppe, und trotzdem hab ich das Gefühl, einen schlechten Eindruck zu machen. Mit krampfigem, fest in die Backen gedübeltem Grinsen sitze ich da und beschaue konsterniert den Vorhof zur Hölle. Bei anderen Gelegenheiten exkulpiert mich die Gattin schon mal mit der mitleidigen Bemerkung: „Mein Mann ist Philosoph“, als sei das kein Beruf, sondern eine Diagnose wie Diabetiker oder Tourette-Syndrom.

Hier und heute ist es für solche Feinheiten zu laut. Im Übrigen, falls es jemanden interessiert, das einzige, woran ich kranke, ist ein angeborener Mangel an aufgesetzter Begeisterung. Und vielleicht noch eine gleichfalls hereditäre Überempfindlichkeit der Nah-und Fernsinne. – Drei Stunden später, ich hab die Stadien Tinnitus, Trigeminus-Neuralgie und Trisomie 21 schon durch, kenne ich noch immer niemanden. Das liegt an meiner altersbedingten Unpässlichkeit. „Zu meiner Zeit“ hatte ich noch Kraft zum Übermut. Ich wäre aufgestanden, schnurstracks auf irgendeine Bärbel, Ines oder Irmtraud zugegangen, hätte sie gepackt, ihrer Gruppe entrissen und sie mit fröhlich brüllendem „Hi! Ich bin der Kraska!“ gnadenlos abgeküsst, umarmt und so meinem Freundeskreis einverleibt. Dazu fehlt mir inzwischen Chuzpe, Dreistigkeit und Lust an dadaistischer Provokation.

Ich kann von Glück sagen, wenn es morgen heißt: „Wer war denn eigentlich dieser dicke alte Mann in Schwarz mit dem schmerzverzerrten Gesicht?“ – „Ach, das war bloß der Mann von der X* (*Name geändert, i. e. Gattin), der soll ja Philosoph sein oder jedenfalls so Psycho, irgendwie“. Aber, bitte: Was tut man in solchen sich hinziehenden Stunden quälender Lebenszeitverschwendung? Ich habe einen Freund, der memoriert dann im Stillen Logarithmen-Tafeln. Kann ich leider nicht. Ich meditierte – immer noch nach allen Seiten grinsend  – den berühmten, zweieinhalbtausend Jahre alten Satz des Anaximander: „Woraus aber für das Seiende das Entstehen ist, dahinein erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit; denn sie schaffen einander Ausgleich und zahlen Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit.“ – Das will heißen: Wenn du als notgedrungen nun mal „Seiender“ schon da bist, Platz wegnimmst und auf Parties Kanapees verdrückst und sauren Wein trinkst, dann zahl halt auch den Preis dafür! Existieren ist nun mal nicht kostenlos!

Später, in eine stille Kneipe retiriert, starren die Gattin und ich in je ein wohlverdient großes Glas Absacker-Gutedel; wie Karpfen öffnen wir ab und zu den Mund – und schließen ihn dann wieder, in resigniertem Einverständnis. Kein Grund, noch Lärm zu machen. Wir sind Party-Spoiler. Ein Wunder, dass man uns immer noch einlädt. Unsere Zeit ist nämlich vorbei. Na ja, der Mai ist dann trotzdem gekommen…

Noise Day gefeiert

28. April 2011

Arm dran, wer gleich zwei solcher Geräte besitzt (Quelle: Wiki)

Ich hab noch immer keinen Schimmer, wer diese Tage immer festlegt – Tag der Milch, Tag des Buches, Tag des wohlverwahrten Spargroschens usw. Urplötzlich heißt es in den Medien, z. B. morgens in diesen als „Frühstücksfernsehen“ firmierenden digitalen Höllenvisionen, die einen eigentlich sofort wieder ins Bett treiben müssten, mit grauenhaft fröhlich vor sich hin pfeifender Gutelaunehaftigkeit: „Guuuten Mooorrrgen, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Heute ist der Tag des…“ – und dann hat man noch verfluchtes Glück, wenn nicht gerade „Tag der Darmkrebsvorsorge“ ist und man, während man sein einsam-mönchisches Frühstücksei vor dem Computer/Fernseher aufklopft, von eigens dazu engagierten, berühmten, graumelierten TV-Kommissaren ermahnt wird, sich als älterer Herr nun aber mal dringend von einem Proktologen in den … – zack! Puh! Gerade noch rechtzeitig weggezappt auf Phoenix-Tierfilm! Wobei man dann wieder sich freuen darf, wenn gerade über Mitgeschöpfe berichtet wird, die nicht mehr als vier Beine besitzen und sich angemessen fellpuschelig zum freundschaftlichen Kuscheln und Streicheln anbieten.

Ich genieße das unverdiente Privileg, mit einer Journalistin verheiratet zu sein, die ihr Büro direkt am Puls der Zeit aufgeschlagen hat und mich notfalls mit Nachrichten aus der sog. Wirklichkeit versorgt. Als ich ihr gestern morgen wehleidig die Nöte meiner Existenz e-mailte, replizierte sie fröhlich: „Passt ja! Heute ist doch Tag des Lärms!“ Es verhielt sich nämlich so und begann morgens um 8.00 Uhr: Nachbar Özgür machte ernst mit der Ankündigung, es könne demnächst „vlleich ma bisschen laut“ werden und bearbeitete zusammen mit seinen Mitstreitern die Wand zu meinem Arbeitszimmer mit Bohrer, Vorschlaghämmern und Spitzhacken. Im Frühstücks-TV kam gerade ein Bericht darüber, wie Lärm den Blutdruck in lebensbedrohliche Höhen treiben könne, wovon ich zum Glück nur wenig mitbekam, weil es nämlich viel zu laut war. Minütlich erwartete ich, dass das Osmanenheer bei mir durchbräche, sodass ich es persönlich bei mir am Schreibtisch zu begrüßen die Ehre hätte. Stattdessen machte der Baulärm pünktlich Pause, damit ich Zeuge eines mörderischen Radaus vor meinem Hause werden durfte.

Hab ich schon mal über die Irren in unserem Viertel geschrieben? Wohl nicht, oder? Meistens hacke ich ja auch bloß auf den Migranten herum.  Dabei haben wir im Geddo auch Irre, Meschuggene, Psychos und Bekloppte, die übrigens, fall es jemanden interessiert, zumeist die deutsche Minderheit repräsentieren. Bei dieser bunten Minorität handelt es sich zumeist um Delirierende, alkoholbedingt stark verwirrte Korsakoff-Patienten, Schizos, Paralytiker, Paranoiker und freiberufliche Phantasten, denen vor langer Zeit leider abhanden kam, was der Normalbürger ehrfurchtsvoll „Sinn & Verstand“ nennt. Gott, ja, ist halt so. Einer von der Zunft der Teilzeit-Außerirdischen, der mir noch neu war, kam um ca. 11.00 Uhr mit seinem feuerroten Fliwatüt vulgo irgendwie aufgemotzten Kehrgerät (das aber nichts kehrte!) ins Geddo gebrettert, hielt, den Motor aufbrüllend lassend, gegenüber meiner Haustür und produzierte, dem Tagesmotto entsprechend, LÄRM.

Vom „Bock“ stieg ein älterer Hardrocker im Arbeitsanzug, mit schütterem, rötlich-blonden Wikinger-Pferdeschwanz, der hoch echauffiert Zornentbranntes in sein Handy brüllte. Es dauerte ein bisschen, bis er begriff, dass er zum Behuf der angestrengten Telekommunikation vielleicht doch besser vorher die Lärmschutzkopfhörer absetzen sollte. Hierauf freilich wurde er zwangsläufig Opfer meines aus dem Fenster gebölkten Hinweises, dass er, würde er dermaßen weiterbrüllen, eines mobilen Telefongerätes weißgott nicht länger bedürfe. Der an seiner Weltsicht kurzfristig irre gewordene Schreihals stutzte, bedachte meinen Ratschlag mit zunehmend wohlwollendem Nicken, zögerte noch ein kurzes Weilchen, steckte das Gerät dann folgsam in die Hosentasche, – um in weiterem den Disput mit dem jetzt endgültig als imaginär entlarvten Gesprächspartner nunmehr mithilfe etlicher ins Irgendwo gerichteter, lauthals gebrüllter Bemerkungen fortzusetzen. Da dies seine Energie noch nicht erschöpfte, tigerte er wild gestikulierend unter meinem Fenster auf und ab, mit sich selber telefonierend, aber in einem Ton, also, da hätte ich längst aufgelegt.

Danach das allfällige Kindergeschrei, das sich hier im Geddo anhört wie eine Horde (sagt man Horde? Herde? oder Schwarm?) Papageien bei der Gruppernbalz im Regenwald, fortwährend misstönendes, hochfrequentes, unartikuliertes Kreischen, von dem nicht auszumachen ist, ob es einer irgendwie gearteten Kommunikation oder lediglich lauterer Daseinsfreude zum Ausdruck dient. Bevor mich jemand belehrt: Ich weiß, dass man mit der Zwille nicht auf Kinder schießen darf.

Wenigstens hat sich das Baupionier-Batallion von nebenan jetzt erholt und kann wieder in die Wand. Zwar hat der Elan nachgelassen, aber es reicht noch, um meine vorbehandelten Nerven mit beharrlichen Scharren, Kratzen und Schleifen richtig blank zu bekommen, sodass sie beim abwechslungsreichen Arabesk-Geknödel aus den fahrbaren HiFi-Türmen arrivierten Zuhälternachwuchses, unten auf der Straße, schon präventiv mitschwingen. Fasziniert betrachte ich die kleinen kreisförmigen Mini-Wellen in meinem Kaffeebecher und frage mich, ob es theoretisch auch akustisch ausgelöste Tsunamis geben könnte.

Den Abend des Tags des Lärms begehe ich mit der Gattin in aller Stille. Mit einer Ausnahme: Als sie fragt: „Warum bist du denn so gereizt?“ schreie ich markerschütternd: „Ich BIN nicht gereizt! Ich freue mich nur auf den TAG DES ZORNS!“

Kirche, Kunst, Wurst

22. Oktober 2010

Protzblitz: der Dom!

Abgesichert durch Geistesmagistertum und Hochkulturjob leiste ich mir gelegentlich entspannungshalber und stimmungsabhängig Anfälle braatzbrutalen Banausentums. An solchen Tagen gönne ich mir die Exzentrizität, megalomanisch bombastischen Kirchenprotz, selbst wenn er steinalt und kunsthandwerklich erste Sahne zu sein scheint, dennoch hässlich und gemein, zumindest undelikat und indezent zu finden. So ist für mich beispielsweise unsere Duisburger Moschee (die größte in Deutschland), von der die harmoniesüchtige Integrationspresse behauptet, „der Volksmund“ (ha!) nenne sie „das Wunder von Marxloh“ (in Wahrheit bloß eine dieser bescheuerten, ekelhaften Medienfatzke-Quatsch-Erfindungen), architektonisch nichts als eine brunzdoofe altosmanische Herrentorte – einfallslos, rückwärtsgewandt und ein Relikt aus der Durchschnarchzeit von Sultan Selim dem Unseligen, auch wenn oder gerade weil sie jüngst neu gebaut wurde. Ein „Wunder“ ist lediglich, dass deutsche Baubehörden so etwas genehmigen! Aber keine Angst, mein Amok-Lauf macht vor dem christlichen Abendland nicht halt.

Der Erfurter Dom zum Beispiel. Mann, Mann, Mann. So eine hybride, offen geistesverwahrloste, beschämend demutvergessene und satanisch hoffärtige Aberglaubensfestung! Todsünde der superbia. Ein ärgerlich motzmördermonströses Monumentalgebirge aus Stein und Bein vulgo eine gigantomanische, petrifizierte Weihrauchvergiftung! Sturblöde, dummdreist auftrumpfende Einschüchterungsarchitektur von Bischof Kinderschreck, patzig und erzkatholisch anmaßend auf den Hügel geklotzt und präpotent selbstverknallt in den mitteldeutschen Himmel geschraubt, menschenfeindlich und gottbesoffen, selbstherrlich, herrisch und hochmögend wie sonst nur der Turm zu Babel oder der Dom zu Köln! Das ist donnich schön! So wohnt nicht Gott, sondern der Anti-Christ. Feige ducken sich die Stadthäuschen unter dem dräuenden, absurd lächerlichen Albtraumschiff. Thüringer und Touristen ziehen bänglich die Kopf zwischen die Schultern, wenn sie zum finstren Mons Trumm hochgucken: „Manno, det Ding lässt sich janichma in eim Stück knipsen, Mensch!

Der Mensch, die Laus. Damit er sich noch kleiner, erbärmlicher und insektenhafter fühle, haben die Erfurter vor dem kathedralen Fossil-Dinosaurier einen weiten, leeren Platz gelassen, so riesig, dass es für ganze Kirchen- oder Reichsparteitage reichte! Man muss sich das mal vorstellen! Ausgerechnet Erfurt, die zipfelmützig verschnarchte „Landeshaupt“-Stadt unmodern beengter Gassen, treudeutscher Touristen-Tristesse und verwinkelter, windschief und haltlos sich aneinander klammernder Fachwerkbutzen klotzt mit einem innerstädtischen Freigelände, auf dem sich sämtliche erzabbauenden Zwerge des Erzgebirges versammeln könnten, um „Hosiannah“ zu schreien.  („Hosiannah“ ist übrigens aramäisch und heißt so viel wie „Herr, hilf bitte!“) Der Herr kommt und hilft aber nicht, ist ihm hier viel zu zugig und ungemütlich. Ich wundere mich aber nun nicht mehr, dass Luther ungefähr hierorts erstmals den Plan fasste, die aufgeblähte Mutter Kirche mal wieder auf den Teppich der menschlichen Realitäten herunter zu holen. Jedenfalls mich, den gewisse spät-byzanthinisch-frühromanische Basiliken (wie auf Torcello in der Laguna della Venezia) schon zu Tränen der Ergriffenheit rührten und an den Rand der Konversion brachten, ließ die monströse Monstranz spirituell kalt wie eine heidnische Hundeschnauze.

Gute Wurst, gutes Karma

Indes: Ganz unten links auf dem frommen Aufmarschgelände unter dem Dom steht in vorbildlich demütiger, wahrhaft christlicher Bescheidenheit eine andere, wesentlich menschenwürdigere Kathedrale thüringischen Kulturschaffens: Ein alter Mann, eng umhüllt von einer dünnen, niedrigen, schief gewachsenen Blechröhre, aus der heraus er ehrliche, ungemein preiswerte Rostbratwürste verkauft, der Region bescheidenen Beitrag zum Weltkulturerbe. Diese Bratwürste sollen ja in ganz Thüringen weltberühmt sein! Also reihten wir uns, von der mühseligen Dom-Besichtigung (diese Freitreppe allein! Eine Bußfertigkeits-Turnübung!) noch flauen Magens, geflissentlich in die Käufermenge ein. (In Erfurt steht man halt Schlange, nicht weil man müsste, sondern weil man es von früher her so gewohnt ist.)

„Und? und?“ beben die Leser vor Ungeduld, „wie ist die denn nun so, diese berühmte  Weltkulturerbewurst?“ – Hm, nun, eigentlich … gar nicht schlecht. Schmackhaft, doch. Leicht und unfettig, die Haut, der Darm, zart wie unschuldige Jungfrauenhaut, das fluffige Brät ohne Phosphat und anderen teuflischen Scheiß- und Schwefeldreck. Eine gottesfürchtige Wurst, wie sie in der Bibel steht: „Dein Wort sei ja, ja, nein, nein.“ Bzw. „Ich hätte – ja, ja! – gern noch so eine!“ Experten, die sich auch gern Glaubenskriege über die einzig wahre Curry-Wurst oder andere Trivialitäten liefern, werden mir sagen können, ob die auf dem Dom-Platz dargereichte Bratwurst auch zu Thüringens Ehre gereicht und „authentisch“ ist.

Als ketzerischer Häretiker, Renegat und Eklektiker, der sich aus jeder Religion nur das beste nimmt, halte ich es hier mit dem Hinduismus: Anderen Leuten was Leckeres zu essen zu geben, macht gutes Karma. Der Dom hingegen machte mir schlechte Laune. Gut, die Orgel war soundmäßig eine Bombe, und es hingen viele so komische halbrunde Bilder an den Säulen, vom finsteren Mittelalter schon ganz eingedunkelt. Sie zeigten im Wesentlichen, dass die Leute früher noch nicht so gut malen konnten. Der düster überschnörkelte Hauptaltar, unter der Last seines frühbarocken Deko-Schmonzes fast zusammenbrechend, offenbarte, dass die gemeinsame Basis aller Glaubenssysteme eine hysterische, überkandidelte  und hirnvernebelnde Art von selfmade-Voodoo ist. Singen, Tanzen, Hühnerschlachten, Bauen – alles der gleiche Wahn.

Im Vergleich also: 1:0 für Thüringer Wurstigkeit!

 

Hier die podcast-Version, vom Autor gesprochen, unter Verwendung eines Loops vom Esbjön Svensson Trio („Behind the yashmark“)

erfurt



 

Acoustic Geddo (His Masters Voice)

14. Oktober 2010

So, jetzt sollte es klappen: Auf mehrfachen Wunsch der Artikel „Geddo Symphony“ vom Autor gelesen, als mp4

geddo symph

Geddo Symphony

6. Oktober 2010

 

Hätt ich auch gern manchmal: Eine sog. Schallkanone (hier zur Piratenabwehr an Bord der Queen Mary). Fotoquelle: Wikipedia, Artikel "Lärm"

 

 

Wenn mich Leute mitleidig angucken, bloß weil ich erwähne, freiwillig im Hochfelder Geddo zu leben, krieg ich ja Trotzphase. „Hier, meine Lieben“, patze ich pampig oder prahlerisch zurück, „ist jedenfalls tausendmal mehr Leben auf der Straße als in euren muffig-putzigen Kleinbürger-Vorstädten mit Vorgarten-Idylle und Keramikschild an der Tür („Hier wohnen Anika und Thorben Mustermann mit Finn-Luka, Cleo-Malwine und Hund Nappo“); in solchen sklerotischen Norm-Schlafboxen für mittlere Angestellte möchte ich ja nicht für geschenkt wohnen!“

Sitz ich hingegen in der stylisch-coolen Wohnung der Gattin bei Abendessen und Tagesrückblick, hört sich das etwas anders an, in etwa so: „Dieser gottverfluchte verfickte Scheißlärm in meinem Geddo macht mich noch krank! Da hast du keinen Augenblick Ruhe, Mensch! Können die nicht mal für ’ne Minute die Klappe halten, das Kreischen und Bölken einstellen und ihr bescheuertes Arabesk-Gedudel runterdrehen?!“ – Beides ist nicht falsch. Leben find ich eigentlich ganz gut, und die vollverklinkerten niederrheinischen Mittagsschlafmützendörfer, die hinter heruntergelassenen Sicherheitsjalousien immer wie verzehrsberuhigt ausgestorben wirken, machen mir eher Angst. Andererseits bin ich ruhebedürftiger, denkberufstätiger Nörgelrentner, der auch schon mal gut ohne Soundtrack auskäme.

Leider fehlt mir die technische Ausstattung, sonst würde ich euch einen achtzehnstündigen Mitschnitt aufnehmen. Los geht’s um 7.00 Uhr. Ouvertüre: die städtischen Müllharmoniker. „Kraaatz-rawong! Braatzkrackgrommel? Mjampftrumbrummel Rattazong! Und Wrummm.“ Das Geddo steht an der Spitze der Welt-Müllproduktion, weswegen jeden zweiten Tag die Stadtreinigung mit einem airbusgroßen Schreddermonstertruck heranbrettert, um zerschlissene Sitzgruppen, kaputte Schrankwände und anderes undefinierbares Geraffel an Ort und Stelle herzhaft saftkrachschmatzend zu zermalmen. Leider geht das nicht erschütterungsfrei, so dass regelmäßig zwei, drei Auto-Alarmanlagen anspringen („Lalüüüja, lalüüüi, lalüüiiiii“), was die Besitzer aus den Betten scheucht, die vor dem Haus erst einmal ein ausgedehntes Palaver veranstalten, also nicht die Betten, aber die arbeitslosen Daimler-Besitzer von nebenan („Oooh, ağabey, olmaz! Sizin arabınz  kırıldı mı? Lanet olsun!“ – Yook, ama bilmiyorum ya, bu işi anlayamamıyorum, allahbilir!“*). [*= Etwa: „Oh weh, großer Bruder, das kann doch nicht! Ist Ihr wertes Automobil etwa entzweigegangen? So’n Mist!“ – „Nee, aber weiß ich ja auch nicht; werde aus der Kiste nicht schlau, weiß Gott!“] Dann: „Bollatabolla bollertromm bong dongboller“ – die geleerten Mülltonnen werden geborgen.

Sobald sich der Dorfplatz etwas beruhigt, schwärmen die Kids aus. Kinder treten ja hier grundsätzlich in Schwärmen auf. Kaum sind die kleinen Prinzen vor der Tür, schreien sie schon nach Mama: „An-nne! An-nne!“ gellt es die Fassaden hinauf, „den Yavuz, den scheiß orospuçocuğu, will misch der Ball nich…!“ Der Ball wird aber, nachdem „An-nne“ aus dem vierten Stock ausgiebig keifend die gelbe Karte gezeigt hat, doch frei gegeben, um dann für die nächsten Stunden ausdauernd gegens Garagentor gedonnert zu werden. Es holzbollerbolzt Galatasaray gegen Beşiktaş Istanbul; manchmal funkt auch Inter Mailand alias „Mehmed, den makat* [*=Arschloch]“ dazwischen. Der fette blonde Dirk kräht: „…unn deine Mudda is’ne Schwuchtel!“ – Der Pegel steigt. „An-nnne! An-nne!!“ Mama hat aber jetzt den Papp auf, hält einen erzieherischen Vortrag in mehrstimmig anatolischen Oberton-Koloraturen und trompetet abschließend ein energisches, arabisch aspiriertes „Bana rahat birak!“ in den Morgenhimmel. Ja, „laß mich in Ruhe“, das denke ich da auch schon.

Später Vormittag. Die ersten Trucker und Busfahrer aus dem Montenegro trudeln im Café Lipa ein. Als erstes treten sie steifbeinig vor die Tür, um der Heimat von ihrer glücklichen Ankunft („dobro! dobro, hvala!“)  zu berichten.  (Seltsames Phänomen: Die Serben qualmen zwar im Lokal, zum Telefonieren gehen sie aber grundsätzlich nach draußen…) Zuhause ist indes sehr weit weg, da müssen sie schon volle Lungenkraft einsetzen. Je kleiner das Handy, desto lauter; um die Nachbarschaft nicht auszuschließen, wird gastfreundlich auf Lautsprech geschaltet – man hört die Stimme Serbiens sogar bis hier hin („krrchz, rhzrntsch, prrschtnscht vryznntpt?“).  Außerdem donnern, rumpeln und klabautern jetzt in endlosen Krawallkarawanen die Lieferwagen, Vans und SUVs mit bulgarischem Kennzeichen durch die Straße. Vom Balkan haben die Fahrer die schöne Sitte mitgebracht, mitten auf der Kreuzung stehen zu bleiben, um sich, von Seitenfenster zu Seitenfenster, mit einem Bekannten auszutauschen. Das allfällige Hupkonzert wird dabei wohlwollend in Kauf genommen und fröhlich beantwortet.

Mittag. Einkaufszeit für Semra, Dilem und Aynur. Die Kinder kreischen markerschütternd. Die Mädchen kriegen eine geschallert, die Proto-Paschas werden zusammengebrüllt. Dorftratsch wird furioso con fuoco e fortissimo bequaakgackelt. Trolleys holpern übers Rumpel-Pflaster. Es wird Zeit, die heimischen HiFi-Türme auf Muezzin-Lautstärke zu bringen: gnadenlos jodelt, knödelt und jault das ewig gleiche Arabesk-Geschluchze durchs Viertel und gibt bis abends nicht mehr Ruhe.

Ab Nachmittag versammelt sich männliche Jugend, zumeist um ein Auto, dessen Motorklappe aufklafft. Man spielt „türkisches Ferngespräch“. (Vallah! Das geht preisgünstig ganz ohne Telefon – einfach bloß quer über die Straße schreien!) Johlend werden Jungmänner begrüßt, die im BMW-Cabrio auf extra breiten Schlappen vorbeipatroullieren, um uns großzügig und flächendeckend mit („Umpf! Umpf! Uffta-umpf!“) Gangsta-Rap und HipHop zu bedröhnen. Bei mir im ersten Stock beginnen alle Tassen im Schrank  zu klirren. Zum Glück nähert sich ein Streifenwagen mit Sirenengeheul. Aus dem Café Lipa schallen traurige Lieder. Die Heimat, die schöne Heimat.

„Düüdelflöt, flööt, flöööt!“ – die ambulanten Schrotthändler bitten um Aufmerksamkeit. „Schrapp schrapp futscherfutscherfutscher“ – ein Polizeihubschrauber kreist überm Viertel – die „Bandidos“ vom Chapter um die Ecke haben heut Jahreshauptralley mit geselliger Sammelausfahrt („Dröhndröhndonner, wummerkrawrrrumm, krawroll!“). Es wird Abend. Zeit für ein bissel marginales Bollywood-Quäken, Reggae-Tamtam und Radio Gaziantep. Fußball ist zuende („Geh isch gezz Video!“), Zeit für den Obst- und Gemüsehandel („schleif, kräwatter, rummbums“), die Kisten im Sprinter zu verstauen. „Krömmmm, wrömmmm rödelröchelrödel“ – Nachbar Izmet versucht noch immer, den maroden Motor seines Zweit-Astra zu starten.“Trömmel trömmel trömmel“ – endlich läuft er und wird vorsichtshalber die nächste Stunde angelassen, damit er nicht wieder ausgeht.

Letzten Sonntag war mal für eine halbe Stunde himmlische Ruhe – da wummerte urplötzlich etwas in die Stille, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ: DEUTSCHE SCHLAGERMUSIK! „Ruhe da unten!“ hörte ich mich brüllen, während ich nach dem Besenstiel suchte, um gegen die Wand zu bollern. Ist doch wahr, Mensch!

Im Café ohne Hörsturzhelm

18. September 2010

Den Finger am Abzug: Der Musik-Terrorist (Foto-Quelle: Wikipedia)

Wie jeder halbwegs weltläufige Genussmensch liebe ich Straßencafés. Gepflegt herumhängen, geistvoll mit der charmanten Begleitung plaudern, dabei en passant das flanierende Passantengewimmel begutachten, über Modetorheiten und wandelnde Ernährungsfehler (na, ich hab’s grad nötig!) lästern, dabei einen Eis-Kaffee, einen Cappuccino oder schon, falls der Sonnenuntergang naht, also ab mittags ein Weinchen genießen – das sind Urbanitätskultiviertheiten, die ich auf dem platten niederdeutschen Dorf mit Sicherheit vermissen würde! – Worauf ich dabei allerdings gut und gerne verzichten könnte, ist unfreiwillige Musik-Begleitung.

Nebenbei, weil ich nie weiß, was man „noch sagen darf“: Darf man noch „Zigeunermusiker“ sagen? Oder sind das jetzt „freiberufliche Roma-und-Sinti-Instrumentalisten“? Wahrscheinlich, nehme ich an, spricht man korrekt und besser von: „ambulanten, besonders mobilen Laien-Musik-Kulturschaffenden mit südosteuropäischem Migrationshintergrund“? In meinem politisch unkorrekten Alltag heißt es freilich schon mal herzloser: „Boah, ich glaubs wohl, da sind schon wieder so scheiß Akkordeon-Bettler im Anmarsch!

Kaum sitzt man nämlich am zierlichen Marmortischchen über seinem Getränk und möchte vielleicht gerade mit gebrochener Moll-Stimme ein herbstliches Sonett von Rilke rezitieren, eine süßsäuerlich-scharfe Sottise von Karl Kraus zum Besten geben oder gar bescheiden ein selbst ad hoc geschliffenes Scherzwort zu Gehör bringen,  da braatzt, dudelt, quäkt, quaackeliert, schrillt, klimpert, kinkeliert, faucht, pfeift und näselt einem auch schon mit rücksichtsloser Brachiallautstäke eine ambulante Quetschkommode um die Ohren resp. ins Gespräch, um dieses komplett und gnadenlos zu verunmöglichen. An manchen Tagen verstärkt man den Terrorangriff noch mit Waffen, die sich besonders verheerend gegen die Zivilbevölkerung richten: verstimmte Geige, Balkan-Klarinette (Zurna) und Tambourin. Ohne Hörsturzhelm ist man dem Zwangs-Lauschangriff praktisch wehrlos ausgeliefert.

Nicht, dass ich den elegischen Walzer aus „Der Pate“ nicht schätzen würde; zu späterer Stunden schunkele ich schon mal „Auf der Reee-perbahn nachts um halb eins (dingelingeding)“ mit, und wenn eine glutäugige Romamama ihrem dreijährigen Knirps beigebracht hat, sich auf der Quetsche im ICE-Tempo durch den „Flohwalzer“ zu fingern, ohne sich was zu brechen, bin ich bei guter Laune durchaus bereit, entzückt ein paar Münzen zu zücken. Nur, wenn es recht ist, ich würde verdammt noch mal gern selber und frei entscheiden, ob und wann ich das will! Aber nein: Da kann ich ein Gesicht ziehen, derart genervt und sauer, dass im Umkreis von drei Metern die Fliegen tot von der Wand fallen und die Wespen an ihrem Pflaumenkuchen ersticken – debil grinsend arbeitet der Akkord-Akkordeonist erbarmungslos die Terrasse ab, baut sich breitbeinig vor Selbstbewusstsein an jedem Tisch eigens und extra auf, um das dort keimende, zart knusprig Gesprächsgebäck mit dicker Dudel-Sauce zu überkippen. Das ist doch eine Unart! Ich möchte das nicht!

Richtig ärgerlich wird es dann aber erst, wenn das Drei-Stücke-Repertoire lieblos-routiniert heruntergenudelt ist und der Zieh- und Vielharmoniker nun von Tisch zu Tisch schlawinert, um dir aggressiv-herausfordernd oder unangenehm servil den Hut unter die Nase zu halten. Schmallippig hält sich mein Portemonnaie geschlossen und meine Stirn ziert eine scharf gebügelte Unmutsfalte – oft genug hat mir dies bereits dreiste, bruch-deutsche Verbalinjurien eingetragen, was mir dann wiederum deutlich die Laune verdüsterte. Ich hab es im Guten & Lustigen versucht („Haste auch eine Weiter-Ziehharmonika?“) oder unter Aufbietung angestrengter Humorlosigkeit dargelegt, ich sei weder bereit, dafür zu bezahlen, dass man mich lärmbelästigt, noch auch nur dafür, dass man damit wieder aufhört. Da kann ich richtig bockig werden. Genutzt hat es noch nie.

Natürlich wird man als artiger, toleranter, korrekt auf links gescheitelter Deutscher nicht laut oder handgreiflich, aber das Loblied auf die migrationsbedingte Vielfalt kultureller Bereicherungen in der City hört man mich dann auch nicht unbedingt anstimmen. – Ich möchte ja niemanden belästigen.

Da gäht därr Post ab durrch där Däcke, liebä Froindä!

8. März 2010

Familie Poplski (Mitte: Gründer Achim Hagemann als Pavel, daneben Cousinetschka Dorota aus der Telefonzentrale)

Wer das noch nicht gesehen/gehört hat, hat den Trend verpennt: „Hey, hey, wos is därr los!“ plärrt Pavel Popolski frenetisch in den brutalstslawisch losfetzenden Bläser-Funk der eineiigen (wenngleich nur durch karierte Saccos verähnlichten) Sauf-Zwillinge Henjek & Stenjek hinein;  der kleine Brudärr Janusz, ohne Alk extrem schüchtern und verdruckster Träger beige-farbener Pullunder mit Rautenmuster, „därr trubste Tasse därr Fammillje“, pumpt den pulsierenden E-Bass, der blinde Bruder Danek, der sein Piano in der Rumpelkammer stehen hat, weil er ja ohnehin nichts sieht, singt verdächtige Hits, Bruder Merek läßt die „Stratocastrvic“-Guitarre jaulen, Pavel trommelt wie der Teufel in Krakow, Bruder Tommek, der „Tiger von Zabrze“ gibt den polnischen Ersatz-Elvis, und dann „gäht därr Post ab, liebä Frroinde, abärr  durrch die Däcke!“ Tante Baisha bringt aus der Küche frischen Bigos-Eintopf, der gute, 100% reine Sobieski-Vodka fließt in Strömen („heite muss ich vielleicht mal eine kippen, liebä Frroindä!“), – kurz die Losung heißt wieder „Nastruwko!“ Bzw.: Party, bis der Doktor kommt.

Die heißeste und schärfste slawische Schönheit der Familie Popolski, Cousinchen Dorota („aus der Telefonzentrale“), in die ich etwas verliebt bin, stretcht ihren hinreißenden Super-Body ins rote Schlauchkleid chansonniert einem Gänsehaut auf die Unterarme, und „in därr Kuche“ auf der Eckbank versucht Aufnahme-Leiterin Tante Apollonia stoisch-realsozialistisch, den Überblick zu behalten. Das ist nicht einfach, denn es sendet die „komplett bekloppste“ chaotische  Vollblut-Popmusiker-Familie Popolski, „aus därr Wohnzimmer in därr Plattenbausiedlung von Zabrze“, und Kenner wissen, jetzt steppt definitiv der Bär, jetzt gibt’s kein Halten mehr, jetzt ist pop-polnische Funk-Polka angesagt, bis das Kondenswasser von der Schrankwand tropft!

Von der Nachbarin Frau Drepzcewynski aus dem elften Stock wird schon mit dem Besenstil gegen die Decke geklopft, aber egal. Wer einmal im Läbänn war eingeladen auf Party in Wohnzimmer von Familljä Popolski, därr weiß, was heißt FEIERRN! Nasdruvko! Die Popolskis („if you can make it in Zabrze, you can make it anywhere!“) sind, gar keine Frage, der heißeste, wahnwitzigste, groovendste, wüstete Pop-Act, der aus dem eigenen Wohnzimmer sendet. Den Popolskis liegt es im Blut. Das liegt an Opa Popolski. Hört, liebe Freunde, die unglaubliche Geschichte:

„Die wohl unglaublichste Geschichte aus der Welt der Popmusik gelangte in der jungsten Vergangenheit endlich ans Licht der Öffentlichkeit: So gut wie alle Top-Hits der letzten Jahrzehnte sind geklaut! Die eigentlichen Urheber der Songs sind die Mitglieder einer vollig unbekannten, verarmten Musikerfamilie aus Polen: Der Familie Popolski! Nachdem „Der Familie Popolski“ sich 2008 erfolgreich in das laufende Programm des WDR chackte, um der verblufften Weltöffentlichkeit die Wahrheit uber die eigentlichen Urheber der Popmusik zu verkunden und sich hieran eine Tournee in ausverkauften Konzerthallen in der gesamten Republik anschloss, hat sich der Familie nun zuruckgezogen, um aus dem schier unerschöpflichen Fundus des Opa Popolski weitere Schätze der Popmusik fur ihr Publikum freizulegen. Und jetzt sind sie zuruck!- „From Zabrze with Love“ ist Name und Motto eines Abends, an dem „Der Familie Popolski“ zuruck auf der Buhnen geht, um nicht nur weitere Originalversionen verhunzter Pophits sowie Klassiker aus dem Schaffen der Popolskis zu präsentieren, sondern auch eine Abend in Liebe und Harmonie mit der Publikum zu verbringen.

Wer das Glück hat, die Familie Popolski auf YouTube (szypko, szypko!), im WDR-Nachtprogramm, oder, zweifellos am ratsamsten, live zu sehen, dem rufe ich ein beherztes „Nastruwko!“ zu.  – Gään wir eine kippe, libärr Froinde!

Folge 1 der neuen Popolski Staffel – direkt aus Zabrze! Teil 1/3:

Teil 2: http://www.youtube.com/watc… Teil 3:http://www.youtube.com/watc…

post modern blues

30. Dezember 2009

The Raven: Prof. Laurie Gane

Haah! Yeaah! Aah, Aaaaah! – oh, sorry. Jetzt seid ihr unbeabsichtigt Ohrenzeuge eine Quasi-Orgasmus geworden. Quasi, weil nicht wegen Sex, sondern musikhalber. Kennt ihr das, daß ihr ein halbes Leben lang nach einer gottverdammt obskuren, raren, möglicherweise. nicht mal existierenden, sondern bloß geträumten Platte gesucht, geforscht, gegiert habt – und dann, nach Jahrzehnten, steckt sie, aus den unermesslich gnädigen Weiten des Internet angeschwemmt, und nach dem ihr alle Hoffnung längst aufgegeben hattet, plötzlich doch noch in eurem Briefkasten. Zitternd fummelt man das Teil mit fickrigen Fingern in den Player: Oh Mann! Ob man das noch immer so geil findet wie als twentysomething?

In meinem Fall war die Sache echt kompliziert. In den Achtzigern hatte ich mal einen Trinkfreund u d Kollegen, einen Captain-Beefheart-Experten und Frank-Zappa-Freak, der, damals machte man so etwas, obsessiv Mixtapes für seine Lieben aufnahm. Oft die ganze Nacht lang; Promille-Pegel und Abgedrehtheit der Mucke korrespondierten dann hörbar. Und so bekam ich eines Montagmorgens (!) ein extrem rätselhaftes Tape von ihm, im Tausch gegen 4 Alka Seltzer, glaube ich, eine Handvoll Songs, die mich dann vom ersten Hören an absolut und für Jahre elektrisierten.

Es handelt sich um eine Art Pilotaufnahme, das Fanal einer neuen Musikrichtung, die sich dann leider nie weiter durchgesetzt hat: Postmodern (oder: „Electronic“) Blues. Strange war nun freilich, daß die Band, die das Album aufgenommen hatte (hatte sie denn?), gar nicht existierte! Es kursierte gerüchteweise zwar ein Band-Name („the enemy within“), aber erstens kannte die wirklich niemand bzw. keine Sau, und ausgefuchste Experten dementierten sogar: Dies seien vielmehr eindeutig Tracks des rettungslos dem Heroin verfallene Fleetwood-Mac-Gitarristen Peter Green; andere raunten, bei dem Gitarristen handele es sich vielmehr um den mysteriösen Anonymus mit dem Pseudonym „The Raven“. Aber wer war das, der Rabe? Manche behaupteten, dieser sei im Wahrheit identisch mit dem komplett irren Gitarristen „Snakefinger“ (stimmte nicht!), der wiederum immer mal wieder verdächtigt wurde, Mitglied der legendären anonymen US-Band „The Residents“ zu sein (stimmt wahrscheinlich), die ja auch eine Art „Postmodern Blues“ spielten, manchmal. – Also wie nun? Und wer? Und welche lade- bzw. bestellfähige Adresse? Ähnlich enigmatisch kam das Album selber daher. Dem Vernehmen nach hieß es „A touch of sunburn“. Nur tauchte es unter diesem Titel in keiner Publikationsliste auf. (Wer konnte ahnen, daß man es zu gleicher Zeit unter dem doofen Titel „Two Greens make a Blues“ hätte bekommen können? Und daß es eine andere Mischung gab, die den nicht minder befremdenden Titel „Nietzsche’s Ass“ trug?)

Gleichviel, ob leichter Sonnenbrand, Friedrich Nietzsches Arsch oder die Zwei Greens (nämlich Peter und Mick) aus der britischen White-Blues-Underground-Szene – selbst die ausgebufftesten Platten-Dealer zuckten bedauernd die Achseln. Ich zitierte flehend meine Lieblingszeilen, spielte die Riffs auf meiner Luftgitarre, grölte sogar den einen oder anderen Chorus: Niemand konnte mir helfen; sobald ich die Musik dann auch noch enthusiastisch beschrieb, tippten die meisten, die ich damit belästigte, auf Drogenmissbrauch meinerseits, und daß ich mir dieses Zeug mit Sicherheit nur eingebildet hätte. Hatte ich aber nicht!! Die Platte gibt es wirklich! Und sie ist ein Meisterwerk!

1987 schrieb der Melody Maker, die Platte klinge wie ein Duett von Dr. John und Tom Waits, der mit Dr. Feelgood jammt, nur mit halber Geschwindigkeit abgespielt. Wenn man sich dazu vorstellt, daß Captain Beefheart die Lyrics durchs Megaphon nölt und die Residents den Background-Chor geben, kommt das hin – nur funkiger, treibender, verschwitzter, härter, durchgeknallter, mit unterleibsaufwühlenden Gitarrenriffs, elektrisch verstärkter Blues-Harp und verfremdeter Schweineorgel, und ganz viel mysteriös dröhnender, pumpernder und pluckernde 80er-Casio/Atari-Elektronik, dazu neunmalklug-düstere Texte, die zwischen Caravaggio, Nietzsche und Science-Fichtion-B-Movie mäandern und vermutlich von The Raven inspiriert sind, jenem Kunstprofessor aus South Kensington, den nur seine Mutter und seine Studenten unter dem Namen Laurie Gane kannten. Über ihn heißt es im Booklet: „The Raven kann lesen und schreiben; seinen Hegel spart er sich aber für die Rente auf“.

„I made a call at the endzone / but there was nothing to hear / as just a pre-recorded message: / no one at home…“ raunt es verstörend aus einer von heulendem Wüstenwind untermalten menschenleeren Zukunft. „Post modern blues“ beschrieb eine Zukunft, in der die Menschen keine persönlichen Erinnerungen mehr besitzen, nur gemeinsame Fernseh-Erinnerungen; sie bewohnen ihre Häuser als Touristen und haben allen Grund für zeitgenössischen Blues.

Alles in allem wurde die Zukunft dann doch etwas weniger schlimm: Der Kunstprofessor und Psycholinguist Prof. Laurie Gane vom Roayal College of Art ist sogar über facebook erreichbar. Ob er schon Hegel liest? Ich hab ihm mal geschrieben – vielleicht erinnert er sich noch an die Zeit, als er der Rabe war? Oder wird nur der Anrufbeantworter dran sein, der durchs Megaphon röhrt: No one at home…?

I finally got the post modern blues