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Perlenschwein (in der Wirklichen Welt)

5. November 2012

Lange Zeit sind wir früh aufgestanden, um uns gleich nach dem morgendlichen Muckefuck in unsere Ohrensessel zu verfügen, das „Große Buch der Flausen“ (die Leipziger Ausgabe von 1870, von meinem Urgroßvater eigenhändig in feinstes Schweinsleder gebunden und mit Goldschnitt versehen!) auf den Knien, um Bildung und Belehrung daraus zu schöpfen. „Wusstest du zum Beispiel“, wandte ich mich an Gattin Gretel, „dass es einen Deutschen Tretrollerverband gibt? Und dass der Tretroller in der Schweiz ‚Trottinett’ genannt wird? Und ein Tretrollerfahrer demzufolge wohl vermutlich Trottinetteur? Sowie sogar“, ich steigerte mich ein bisschen hinein in die Materie, „sofern er auf dem Bürgersteig rollerte, eventuell Trottoirtrottinetteur, oder?“„Faszinierende Information, interessante Überlegung“, konzedierte die Gattin, hingegen merklich stirnrunzelnd, „aber nicht wirklich befriedigend. Mir knurrt der Hirnmagen, ich habe Kunsthunger! Heute ist Feiertag, lass uns ein Museum besuchen!“ Mir stockte der Atem. „Meinst du etwa… in der … Wirklichen Welt?“ Die Gattin nickte entschlossen. Sie ist ein großer Fan und eine gewiefte Kennerin der Wirklichen Welt.

Widerworte wären zwecklos gewesen, also stürzten wir uns sofort in allerlei Betriebsamkeiten, beschmierten Proviantstullen mit Käse-Ecken und Streichreformwurst, brauten Kräutertee für die Thermoskanne, kramten in der Schublade nach Wandersocken und bestiegen festes Schuhwerk. Schon ging es klipper-di-klapper die Stiege hinunter, aus der Türe hinaus in die Wirkliche Welt, die zu diesem Zeitpunkt mit einem Wetter aufwartete, das sich sozusagen gewaschen hatte. „Apropos“, zitierte ich das Flausenbuch, „es wird dich möglicherweise auch interessieren, dass Alexander von Humboldt vor seiner ersten Südamerikareise 1799 in Paris ein vom schweizerischen Grandseigneur der Alpenforschung, Honoré-Bénedict de Saussure, erfundenes Cyanometer kaufte, mit dem man die Bläue des Himmels messen kann! Und übrigens, wo fahren wir überhaupt hin?“ –

Ich erfuhr, es solle nach Düsseldorf gehen, in die Paul-Klee-Austellung. „Paul Klee? War das nicht der Vater der mehrfarbigen Bettwäsche?“ frug ich gedankenlos, während ich das aktuelle Himmelsblau studierte. „Beileibe nicht. Das war Pfarrer Kneipp, mein Lieber“, versetzte die Gattin nicht gänzlich ohne Spur von Sarkasmus, „und nun trödele nicht – die Kunst wartet schon!“ – Düsseldorf! Die große Stadt! Oder vielmehr die schnöselige Puffreis-Metropole der Bessergestellten und doofen Mode-Fuzzis. Aber immerhin auch Kultur: Hier hatte, unfassbar eigentlich, Heinrich Heine einen Teil seines weltberühmten Lebens verbracht, hier wurde der Senf neu erfunden, die Teil-Kasko-Versicherung und die vollautomatische Geldvermehrung.

Bald erreichten wir den Kunstbau. Er sah aus wie ein Hallenbad für Geisteskranke und sein Foyer war gähnend leer wie eine Kleinstadtbahnhofhalle in der Nacht, denn es handelte sich um das falsche Museum. „Oh wir dummen Provinzler!“ rief ich theatralisch und schlug mir vor die Stirn. Es schien aber mehrere von unserer Sorte zu geben, denn man hatte eigens einen Shuffle-Dienst vom falschen zum richtigen Museum eingerichtet. In einem schnieken Van von Mercedes mit getönten Scheiben shuffelten wir los, rotwangig und froh wie Staatsgäste nach dem ersten Umtrunk. Doch angekommen wurde uns blümerant. Der Standortnachteil der Stadt stach ins Auge: Sie ist voller Düsseldorfer!

Dies ist ein Menschenschlag, der sich ein wenig schwer tut, das Wohlwollen seiner Nachbarn zu erringen. Die Nachbarn sagen, Düsseldorfer seien faul, hohlköpfig, hochnäsig, aber schweinereich und schwer verlogen. Ob dieser Leumund berechtigt ist, kann ich nicht wirklich beurteilen, denn meine besten Freunde sind alle keine Einwohner der Senf- und Bierstadt am Rhein. Feststeht, dass letztere eine Neigung zur eventbezogenen Zusammenrottung hegen; ich will ihnen das nicht verübeln, sie haben ja sonst wenig zu tun, weil sich das Geld hier vollautomatisch vermehrt, aber dennoch hätte ich es lieber, sie würden sich im Fußballstadion zusammenrotten oder auf Kirmesplätzen, nicht aber in Museen, denn dort wirken sie in der Masse störend, wenn man sich mitteleuropäisch zivilisiert ein Schlückchen Kunstgenuss genehmigen möchte.

Speziell die Düsseldorferinnen! Sie wimmelten derart in Horden durch die Hallen, dass die Kleeschen Bildwerke kaum zu sehen waren. Manche der Damen trugen graue Zöpfe oder dicke Holzperlen um den Hals und oftmals falsche Brüste, andere schweren, goldenen Nuttenschmuck, aber ausnahmslos alle trugen Kopfhörer auf den Ohren und lauschten in sich gekehrt irgendeinem Gequäke. Damit nicht genug starrten sie gebannt auf irgendwelche iPhones oder was, deren spezielle „App.“ sie über die div. Klee-Blätter informierten, welche sie aber in natura praktisch kaum eines Blickes würdigten, höchsten ganz kurz, um zu überprüfen, ob die auch dort hängen würden, wo die „App“ sie hin annoncierte. Dabei standen sie indes unentwegt im Weg oder Blickfeld. Kaum trat man ein Stück zurück, um ein Gemälde besser ins Auge zu fassen, fand eine Gruppe Düsseldorferinnen den Raum zwischen Betrachter und Bild attraktiv genug, um sich spornstreichs darin zu versammeln, um den Blick zu verstellen. Das einzige Bild, das ich so lange anschauen konnte, bis es mir gefiel, hieß „Monsieur Perlenschwein“ und stellte möglicherweise einen Düsseldorfer dar.

Also, wenn das die Wirkliche Welt ist, ziehe ich gemalte, geschriebene und gefilmte vor. Dies teilte ich der Gattin mit, die mir versprach, das Perlenschwein im Museumsshop zu kaufen, wenn es das als Bettwäsche oder Kaffeebecher gibt.

Verbraucherentwöhnung (Leben ohne Zusatzstoffe)

20. November 2011

Das Verbrauchen aufgeben: Leben ohne Zusatzstoffe!

Nach Silvester will ich nun endlich mit dem Verbrauchen aufhören. Verdammtes Laster. Jeder weiß: Die Haut zerknittert, die Lunge schrumpelt, der Magen krampft, aber es wird weiter verbraucht, als gäbs kein Morgen! Aber jetzt gewöhn ich’s mir ab! Egal, welche Mittel: Akkupunkturschrauben, Hypnosetabletten, Demut im Stuhlkreis. Denn es fällt so schwer! Man will ja nicht hören: Verbraucher sterben früher, Verbrauchen macht Krebs und die Fötis kommen schon schrumplig auf die Welt, das ist einem aber schnurzegal und wenn die Statistik zweimal klingt, man macht nicht auf, man ist nicht zuhaus, weil man ja riesige Drahtkäfige auf Rollen durch die Schluchten des LIDL schieben muss, den ALDI hoch und den REWE wieder runter, mit großen runden Verbraucheraugen und Schmacht im Hirn, denn was man jetzt braucht, sind Hartmacher, Weichmacher, Säuerungsmittel, Konservierungsstoffe, naturidentische Aromen, funktionale Additive, Farbstoffe, Backtreibmittel, clandestines Chemiezeugs, allerhand Allergene also und vom ALDI noch Mittel gegen den Tod, Vitamintabletten, Magnesium-Brause, Salbei-Hustinetten. – Aber was das immer kostet!

Nicht auszudenken, was man als Nicht-Verbraucher für Summen sparte. Sorgenfrei und kommod schlenderte man freitags zur Bank, zöge sich einen überschüssigen Batzen Scheine, die man daheim, weil man Geld ja laut Indianerehrenwort angeblich nicht essen kann, wenigstens schön bügeln, stapeln, zu Abreißblöcken lumbecken oder in transparentes Kunstharz gießen könnte, um sie später dezent neidischen Besuchern vorzuführen. Leider, wie ich mich kenne, würde mir die Geldstapelei wohl rasch fad. Mit Geld hab ich’s nicht so, das macht meistens meine Frau.

Kürzlich hat mich am helllichten Tag ein zumindest am Telefon sehr verführerisches und verbraucherfreundliches Fräulein angerufen und gefragt, ob ich mit dem Verbraucherkredit zufrieden sei, den ich bei ihrer Bank hätte. Sie hatte einen arabischen Namen (das Fräulein, nicht die Bank), und ich fühlte mich kognitiv etwas überfordert, weil nämlich unsicher, ob Zufriedenheit in Bezug auf einen Kredit überhaupt eine sinnvolle Kategorie sein könnte. Nach längerem Grübeln schlug ich der jungen Dame, die mit Sicherheit Abitur hatte, zaghaft vor, ich könnte ja vielleicht mit der Höhe der Zinsen unzufrieden sein? Ich wollte ja bloß nett sein! – „Wieso?“ schnappte die Schnippische zurück, „kriegen sie den denn woanders billiger?“ Weil ich grad an einem Philosophie-Vortrag saß, war ich ein bisschen blöd im Kopf, und, eh ich einschreiten konnte, hörte ich mich sagen: „Keine Ahnung, da müsste ich meine Frau fragen…“ – Auf solchen Geistesgegenwärtigkeiten beruht mein phänomenales Glück beim weiblichen Geschlecht!

Ich müsste dringend mal zum Schlagfertigkeitstraining. Nicht, dass mir keine guten, witzigen Repliken einfallen, nur leider immer erst zwei Stunden später. Ich hab Zeitverzögerung wie eine Sparkassenkasse. Deswegen kann ich auch nicht zu Quizsendungen, obwohl ich eine monströs umfassende Allgemeinbildung besitze – vor Aufregung könnte ich sie aber nicht abrufen. „Abrufen“ ist heute das meistgebrauchte Wort bei unsren Fußball-Profis. Nachdem man ca. zwei Jahre lang stereotyp „alles gegeben“ hat, muss man nunmehr vor allem nicht etwa sich anstrengen, sondern seine „Leistung abrufen“. – Neulich war ich übrigens ausnahmsweise einmal ziemlich auf der Höhe und hab meine Intelligenz abgerufen. Im Maredo-Steakhaus konterte der Kellner meine Beschwerde, die servierten Pommes seien kalt, in dem er sensibel mit den Fingerspitzen das Geschirr befühlte und mir mitteilte: „Der Teller ist aber warm!“ „Okay“, erwiderte ich – serve and volley!„aber den Teller will ich ja nicht essen!“ Ha, ha! Gut, was? Oder, na ja, ins große Buch der geistvollen Anekdoten wird das vermutlich keinen Eingang finden, öffentliche Aufmerksamkeit wird mir deswegen nicht zu teil.

Überhaupt: Viele wertvolle Leistungen blühen in der Verborgenheit. So wusste ich bis vor kurzem gar nicht, dass es beispielsweise eine „Europäische Meisterschaft im Gemüse-Schnitzen“ gibt. Das muss man sich mal vorstellen: Ein so gemütvolles, harmlos veganisches, gutsinniges und besinnliches Hobby wie das Gemüseschnitzen wird von den Medien kaltschnäuzig geschnitten! Billard wird übertragen, Poker, Wok-Schlittern und Springreiten, aber wenn eine einfache Sekretärin aus Bottrop es schafft, aus einem Rettich eine Seerose zu schnitzen, ist das keine Übertragung wert. Armes Deutschland!

„Armes Deutschland“ schreiben die Nörgelrentner mit den gebügelten beigen Anglerwesten immer in den Kommentar-threads, wenn „die Politiker“ mal wieder den Überblick nicht aufbringen, den die Ressentimentregimentsreiter vom Stammtisch im Verbraucherclub längst besitzen. Ein zärtlich-besorgtes, aber bitterlich resigniertes, geradezu barmendes Statement, fast wie von Heinrich Heine: Armes Deutschland. Denk ich an Deutschland in der Nacht, hab ich sie ganz gut verbracht.

Ich habe immerhin einen hübschen Nachmittag verbracht und meiner Leidenschaft für den Frauenfußball gepflogen. Beinahe hätte ich Frauenfrustball geschrieben –  im Angedenken an die Kasachinnen, die von den deutschen Damen mit 17:0 in den Boden gepflügt wurden. Man kam gar nicht zum Pinkeln zwischendurch, derart hagelte es Tore. Armes Deutschland? An Toren mangelt es uns jedenfalls nicht. Wäre das Leben insgesamt so knusprig, dass darin durchschnittlich alle 5,3 Minuten ein Tor für uns fiele, wer brauchte da noch Chips und flüssige Stimulantien? Ein verbrauchfreies Dasein winkte uns, wir atmeten frei, fassten uns zum Tanz an den Händen und bewürfen uns schmunzelnd mit Kügelchen aus Papiergeld. Famoser Traum: Ein Leben ohne Zusatzstoffe!