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Elegie eines missratenen Zwerges

21. Mai 2012

Mein mutmaßlicher Vorfahr, empörend diskriminiert!

Wenn ich den emsigen Ahnenforschungen meines Vaters Glauben schenken darf, der freilich nur ein kleiner jüdischer Pedanteriewarenhändler aus Berlin-Rixdorf war, welcher sich gleichermaßen vorbeugend wie rückwirkend 1932 kurzerhand selbst arisierte, dann stamme ich von einer seinerzeit hochberühmten Dynastie von Hofzwergen und Unterhaltungskrüppeln ab; in letzter Linie geht die Sprossenleiter unserer Vorfahren vielleicht sogar auf Signore Braccio di Bartolo gen. Nano Morgante zurück, den Hofzwerg Herzog Cosimos I. von Medici, dessen (des Zwerges!) Angedenken freilich durch einen gemalten Doppelakt aus dem Pinsel des vermaledeiten Dreckskerls und Barock-Schmierfinken Giovanni Bologna einen übel despektierlichen haut goût empfing, den ich heute, mit 400 Jahren Abstand, schon noch immer als schmerzhaft diskriminierend empfinde.

Derzeit gilt ja Herkunft nur noch wenig, Zukunft allein – die Zukunft, die man sich erhofft, einmal zu haben! – ist alles. Heutige Kinder, sei es durch bloße Fahrlässigkeit, sei es durch Mutwillen in die Welt gesetzt, kranken durchweg an Indolenz und überbordendem Narzissmus, sie ehren ihre Erzeuger nicht und schon gar nicht die ehrwürdigen altvorderen Unterhaltungskrüppel!

Meine hohe Abkunft, das gestehe ich, bedrückt mich oft nicht wenig, denn ich bin ein missratener Spross: Wohl an die sechseinhalb Fuß hoch, in der Schulter anderthalb Klafter breit – und mein Korpus enthält, um ein altes Maß für Flüssigkeiten zu beleben, ca. viereinhalb Hosen Wasser, wobei die Gattin, mir beim Schreiben über die Schultern schauend, spitz einwirft, ob es bloß Wasser sei, dürfe man ja wohl mit Fug noch bezweifeln. Gleichviel, für einen ansehnlichen Zwerg ist mein Volumen beschämend, ja indiskutabel, denn von einem Zwerg mit dem Umfang des Heidelberger Weinfasses ist eine ordnungsgemäße Erfüllung der Dienstpflicht füglich nicht zu erwarten. Mein obig erwähnter – und durchaus etwas würstchenhafter –  Vater wäre im Zweifelsfalle mit seinen knapp Eins-siebzich eventuell noch als „Riesenzwerg“ (Gisela Elsner) durchgegangen, dank seiner als Arisierung getarnten Selbstverkleinerung, ich aber stehe durch meine monströse Verunstaltung dem professionellen Zwergentum nur noch als Zaungast gegenüber bzw. nicht mal gegenüber, sondern bloß so seitlich am Rande, und ich bin schlicht nicht imstande, die Familientradition fortzusetzen. Was mich tröstet (aber ist das ein Trost?): die Nachfrage nach Hofzwergen hat in der Gegenwart auf furchterregende Weise nachgelassen.

„Königliche“ (Ha!) Höfe wie der in Monaco, Belgien, Tonga, England oder Dings, Dänemark, sind dermaßen verpöbelt und verbürgerlicht, dass sie heute glauben, sie könnten gänzlich ohne Zwerge auskommen! Wie dumm, denn Könige ohne kompensatorische Zwerge sind ja selber welche! – Dergestalt aber gebricht nun meine Existenz ihres Ziels: Nicht gebraucht, aber auch ohnehin nicht geeignet, zu groß, zu dick, zu ungeschlacht, ein Trumm und zoologisches Monstrum, eine Art Tumor oder ontologischer Pickel, will sagen eine nutzlose Wucherung des Seins! Dabei bin ich charakterlich doch ein wahrer Hofzwergenspross: Ich darf an dieser Stelle mich höflich durch hoch trainierte Verschlagenheit, ferner durch approbierten Unernst, unbändige Spottlust und herausragende Bosheit empfehlen, den Tugenden meines Stammes, der freilich durch den jüdisch-polnisch-italiänisch-germanisch-moriskischen Genpool zu überraschenden Mutationen bereit und übermäßig  in der Lage ist. Denjenigen Menschen, denen meine Probleme fremd bleiben, darf ich wenigstens so viel verraten: Aussterben ist keine Lebensperspektive!

Mein Leben lang erstrebte ich, ein Unikat zu werden, nur um am Ende festzustellen: Als vermeintlich splendide Singularität führt man ein einsames, unverstandenes und selten belobigtes Dasein. Ein zu groß und dick geratener Zwerg stellt keine Attraktion mehr da, er entbehrt des Sensationellen, und man glaubt ihm auch nicht: Meine Beteuerungen, ich sei im Grunde und der Abkunft nach eigentlich ein, wenn auch geistvoller, Minderwüchsiger, erntet nur Unglaube, ja, offenen Spott, Hohn und herzloses Gelächter. Ich erlaube mir huldvoll, dies als philosophische Einsicht zu präsentieren: Immer ist man, wie Alice, die dem weißen Kaninchen folgt, entweder zu klein oder zu groß. Dass man einmal so recht behaglich passt in den Zauber der Wirklichkeitstheatralik, bleibt eine dumme Sehnsucht, ein blasser Traum und, am Ende, eine törichte Narrheit des unbelehrten Begehrens. Unvergessen die Weisheit des armen Kaspar Hauser: „Ich möchte ein Reitersmann werden wie ein anderer auch!“ – Ja, das wäre ein Lebensplan! Zu spät nun, zu spät.

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Mit Punkt und Komma

15. Dezember 2011

Wenn man anfängt, kleine Tiere zu sehen...

Der Film „Contagion“ ist eigentlich der Rede nicht wert. Ein Virus wird an die Wand gemalt, dann weltweit viel gehustet, und am Schluss, nach ein paar Millionen Toten, die man aber nicht persönlich kannte, wird alles wieder gut. Dabei ist das einzig wirklich Gute am Film, dass Gwynneth Paltrow gleich am Anfang stirbt. – D. h., eine Dialog-Szene habe ich aber dann doch notiert: „Ich bin Journalist! Ich SCHREIBE!“ – „Du schreibst nicht, du bloggst. Bloggen ist Graffitti mit Punkt und Komma!“  – Nur dass Graffitti von mehr Leuten gesehen werden.

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 Erotik im Geddo. Zwei Testosteron-Tonis auf der Straße: „Aber voll, escht, Bruder, ich schwör, heut Abend nachher schlaf ich bei die mit der!“ – „Aboo, Alter, machma, gibs die ma richtich!“ – Die beiden sehen mir so aus, als würden sie lieber zu zweit gehen, heute Abend. Dicke Hose, aber letztlich sehr, sehr dünnes und schüchternes Ego. Ich radle vorbei, langsam genug, um mich einzumischen: „Aber Bruder, vergiss nicht: Wer ficken will, muss freundlich sein!“ Man schaut mir halb empört, halb mit neugierig fragendem Interesse hinterher. Sag keiner, die Jugend sei nicht wissbegierig.

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 Wie viel Karat hat eigentlich so ein Durchschnittsmensch? Mit IQ oder BMI hat das nichts zu tun, oder? Gerade werden im Fernsehen „hochkarätige Künstler wie Peter Maffay“ angekündigt. Dabei hat der kleine alte Mann bloß hohe Umsätze, bzw. Absätze. – Wenn man wie ich Phoenix ohne Ton laufen lässt und es ist gerade Bundestag, sieht man eine Menge hochkarätiger, indes überraschend geschmacklos angezogener Frauen sowie beunruhigend viele vom Alkohol stark verwüstete Gesichter. Manchmal überschneidet sich das sogar. Außerdem ist es bei Männern im Bundestag offenbar unüblich, den Bauch einzuziehen. Wär also eigentlich was für mich, so ein Mandatsjob. Wird aber nichts, hab zuwenig Karat.

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 Gerade kommt im Laufband mit den Eilmeldungen: „Westerwelle sieht Fortschritte in Afghanistan“. Ich meine, ich bin natürlich kein Arzt, oder so, aber wenn man anfängt, Stimmen zu hören und so komische Sachen (kleine Tiere, große Forschritte) zu sehen, die kein anderer wahrnimmt, sollte man seinen täglichen Konsum doch mal überdenken. Oder, wie es im modernen Quatschsprech gern heißt: „professionelle Hilfe suchen“. „Professionelle Hilfe“ ist ein Euphemismus für Klapse oder Entzug. Vor zwanzig Jahren habe ich auch mal, wegen überbordenden Liebeskummers, professionelle Hilfe gesucht. Da saß ein dicker, bebrillter, stark behaarter Psychoanalytiker und wartete, streng nach Freud, darauf, dass ich zu ihm eine Übertragungsliebe entwickelte. Es funktionierte aber nicht, weil meine Freundin deutlich hübscher gewesen war.

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 Forscher haben einen Zukunftspreis bekommen, weil sie was über „organische Halbleiter“ ausgeknobelt haben. Damit kann man z. B. auf extrem kleinen Bildschirmen Bilder in hoher Qualität betrachten. Spitzenzukunft: Wenn apple und amazon auf Zack sind, kann ich bald Spielfilme auf meiner Armbanduhr gucken!

Sterm lernen (Geniale Gene)

5. Oktober 2011

Obwohl ich deren absurd überdrehten Primitivpopulismus manchmal – mit leichter Ekel-Faszination – durchaus zu goutieren weiß, kauf ich die BILD-Zeitung nicht; das beruht nicht auf rationalen Gründen – ich bin halt mit der Idee sozialisiert worden, dass das ein grundbös verderbtes, menschenfeindliches Drecksblatt sei, das zu lesen gleichsam bedeutete, den Satan unterm Schwanz zu küssen. Natürlich ist das Unfug, aber gegen Überzeugungen, die in Jahrzehnten bis in die letzten roten Blutkörperchen vorgedrungen sind, rechtet man selbst mit sich selbst vergebens.

Jetzt aber nun lag zum 3. Oktober eine Gratisausgabe im Treppenhaus, und da hab ich halt blindlings zugegriffen, weil sich mir die Schlagzeile „Diesen 100 Deutschen gehört die Zukunft“ versehentlich ins Auge gebohrt hatte. Auf fein, das les ich jetzt mal, dachte ich, von einer flüchtigen Verstandeseintrübung beschattet, denn ich kenne zwar Leute, denen halb Deutschland gehört, aber gleich die ganze Zukunft? Das Studium der Liste eminenter Mustermenschen, die, so BILD, „mit ihrer Arbeit und ihren Ideen unser Land verändern“, bereicherte mich zuvörderst um eine Reihe neuer Wörter, die ich in runder Kleinmädchenschrift säuberlich in mein Vokabelheft eintrug: Catwalk-Gazelle, Latzhosen-Pirat, Twitter-Goethe, SPD-Generalwaffe. Hm, soso.

Unter allerhand Jungsschauspielerinnen und Herrenmodemodellen stach ein rötlich-semmelblondes, pausbäckiges Kleinkind (19 Monate) hervor, das auf dem Foto kindstypisch dümmlich und optimistisch in die sonnige Zukunft blinzelte und frappierende Ähnlichkeit mit dem Knäblein aufwies, das früher die Packungen von Brandt-Zwieback zierte. Vermutlich ein Wunderkind, denn es wunderte mich doch, wie man in derart frischem Alter schon mit seiner Arbeit und seinen Ideen das Land verändert; um der Wahrheit die Ehre zu geben, sah das Bübchen eher nach der Art Konzentration aus, die man ausstrahlt, wenn man erstmals auf dem Töpfchen sitzt und seinen Eltern unbedingt eine Freude machen will. Die erläuternde BILD-Bildlegende versicherte, es handele sich beim Erstmals-auf-dem-Töpchen-Hockenden um Amadeus (!) Becker, den vorerst letzten Spross von Boris Becker und irgend so einer Frau oder was. Ja und? dachte ich herzlos, ein behindertes Kind halt, was solls! Wieso wird DAS denn Deutschland verändern? Nun, BILD, die es wissen muss, weiß es auch: Das Kind hat nämlich, was man ihm gar nicht ansieht, „geniale Gene“! Weil es von einem einfältigen, zusehends schwer verlotterten, kognitiv massiv beeinträchtigten Ex-Filzball-Prügler und einem lebenden Kleiderbügel abstammt?

Während ich mir noch vorstellen kann, dass der geniale Töpfchen-Tropf dereinst eine Karriere als BILD-Redakteur einschlagen könnte, um dort geniale Formulierungs-Granaten zu drechseln, reicht meine Phantasie nicht hin, um mir vorstellen, was für eine Deutschland-relevante Zukunft Ferdinand Zvonimir (!) von Habsburg (14) verspricht. Der kleine Prinz besitzt außer einem korrekten Seitenscheitel noch die Qualifikation, als „zukünftiger Chef des Hauses Habsburg“ einer der „ehrwürdigsten Dynastien Europas“ (BILD) anzugehören. Das mag ihn evtl. dazu befähigen, dermaleinst eine Doktorarbeit abzuschreiben und transatlantischer Interkontinentalclown zu werden, der ehrenamtlich in einer amerikanischen Denkfabrik am Fließband steht wie Karl Theodor vonundzu, aber dass die „ehrwürdigste Dynastie Europas“, will sagen die dreimal verfluchten Habsgierer in Deutschland noch einmal eine Rolle spielen, nein, so grausam kann der Engel der Geschichte nun doch nicht sein, oder?

Mein depressiv-aggressiverer Anfall begann galoppierende Vehemenz anzunehmen, als ich ferner las, Deutschlands Zukunft würde gestalterisch, neben dem blonden Scheißerchen und dem kleinen Prinzen, auch noch von dem sprechenden Gemüsehobel Jimi Blue (!) Ochsenknecht bestimmt. Das ist dieser eine, enorm backpfeifengesichtige Sohn des mittelbegabten Glupschaugen-Dramatikers Uwe; der andere heißt Wilson Gonzales (!) und seine Schwester Cheyenne Savannah (!). Die Ochsenknechts gehören zweifelsfrei zu den ehrwürdigsten Proll-Dynastien wenn schon nicht Europas, dann doch von München-Grünwald, einem sauteuren Um-Gottes-Villen-Viertel, in dem Jimi Blue und Wilson Gonzales zu  VIVA-tauglichen Gettho-Strassenkids und Gangsta-Rappern heranwuchsen.

Unterm Strich liegt, glaubt man BILD, die Zukunft unseres Landes überwiegend in den Händen von Schauspielerschnepfen, Sportidioten und mittelprächtigen Show-Sternchen mit Prolletten-Namen, die ihre mittlere Dschungelcamp-Reife anstreben, mit anderen Worten: BILD lesen heißt sterben lernen, denn wer wollte in so einer Zukunft leben? Ich jedenfalls nicht. 

Abwesenheitsnotiz, mit guten Zitaten

31. August 2011

Hier geht es evtl. rund! Kraska ist moseln...

Es gilt unter Kennern nicht gerade als untrügliches Zeichen geistigen Überfliegertums, sich über das Wetter zu beklagen, ich weiß. Es wäre so, als wollte man über die Gravitation jammern, was ich aus schwergewichtigen Gründen zwar im Stillen auch manchmal tue, aber es ist halt dieses Allerweltslamento doch von so eklatanter Sinnlosigkeit und ein derart plattes Klischee, dass man gute Erziehung und korrekt gebügelte Lebensart eher dadurch unter Beweis stellt, dass man mit einem mild stoischen Lächeln über die unvermeidlichen Unbill des Erden-Daseins hinweg geht. Vielleicht ist es ein Vorurteil, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein britischer Gentleman jemals über das Wetter spricht. – Freilich gibt es zu jedem einer- auch ein andererseits.

In dem Film „Willkommen Mr. Chance“ (im Original: „Being there“), einem meiner zehn Lieblingsstreifen aus den späten  70ern, die ich  einst in Cihcago, Illinois, im Kino sah oder sehen und entziffern durfte (war ohne Untertitel!), spielt der legendäre Peter Sellers in einer seiner letzten Rollen einen tumben Einfaltspinsel von Gärtner, der nur eine Weisheit beherrscht: „Well, first there is spring, then you’ll have summer, which just follows autum, and after that – winter. Then spring again“. Diese Binsenweisheits-Worte spricht er aber mit solchem Ernst und so großer Emphase, dass alle Welt denkt, er meint das bestimmt irgendwie metaphorisch und als sibyllinische politische Anspielung; man hält es für ein Statement über Ökonomie und Marktzyklen, lädt ihn in TV-Talkshows ein und am Ende wird er damit Präsidentschaftskandidat in den USA. Damals eine super Satire, würde der Film heute nicht mehr funktionieren, weil die Behauptung, dem Frühling folge der bzw. ein Sommer, nicht mehr als Binsenweisheit gilt, sondern als heikle, unsichere und höchst umstrittene Prophezeiung.

Das Blöde ist: Ich bin Sternzeichen Salamander, von der Physiologie also wechselwarm, und hatte eine längere sonnig-warme Phase fest eingeplant, um leichtblütig über die bevorstehende Herbst- und Winterdepression zu kommen. Stattdessen regnete es mir monatelang kühl und herzlos ins Hirn. (Wer sich Sorgen um mich machen will, sollte es JETZT tun, bitte. – Vielen Dank, sehr freundlich.) Die Depression erhebt ihr träges Haupt. Bang deklamiere ich für mich den armen Hölderlin: „Weh mir, wo nehm ich, wenn
/ Es Winter ist, die Blumen, und wo
/ Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde?
/ Die Mauern stehn
/ Sprachlos und kalt, im Winde
| Klirren die Fahnen.“ So sieht es doch aus! Vor lauter Fahnenklirren und Blumenvermissen ist mir schon jetzt ganz blümerant zumute.

Erstaunlicherweise war es der große Elisabethanische Unterhaltungsschriftsteller, theatralische Räuberpistolen-Dichter und Prophet William Shakespeare, der meinen Zustand vorausahnte, als er seinen Narren („Was ihr wollt“) folgenden Singsang anstimmen ließ: „Und als der Wein mir steckt’ im Kopf / Hopheisa, bei Regen und Wind! / Da war ich ein armer betrunkener Tropf; / Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag.“ – Yes, Sir, so kann man es ausdrücken! Hier im Westen regnet in der Tat der Regen jeglichen Tag. Erst war er warm, der Regen, dann fröstelig kühl, jetzt wird er schon empfindlich kalt. Ich will nicht übertreiben, aber – ist schon mal jemand am Wetter gestorben? Darauf ankommen lassen werde ich’s grad nicht, Freunde – weshalb ich zu einem verzweifelten Mittel greife: Obwohl ich diese Tätigkeit perhorresziere: Ich reise! Und zwar ab!

Bloß an die Mosel zwar nur, und lediglich ein paar Tage, weswegen die Gattin schon ätzt: „Das wird bestimmt mehr so’n Rentnerurlaub!“ – Sicher, doch „immerhin“, repliziere ich schlagfertig, „wandern wir noch nicht durch den Harz, du mit blauem Popeline-Blouson und ich in straff gebügelter beiger Anglerweste!“ Kann nichts schaden, der Gattin schon mal die eheliche Zukunft auszumalen; die stillen Tage im Alzheim.

Wenn also hier einige Tage nichts Neues unter der Sonne (Ha!) erscheint, dann, weil ich moseln gefahren bin. Entweder herrscht dort eitel Sonnenschein, oder ich stecke mir enorme Mengen Wein in den Kopf. Vielleicht, begeisterungshalber, auch beides. Danach habe ich mit Sicherheit SAD („seasonal affective disorder“), wofür zumindest die Klassiker noch angemessenes Verständnis hatten. Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, werde ich von dem romantischen Moselort keine Fotos machen, keine Klöster und Burgen beschreiben und auf die Belobigung von Restaurants und Weinprobierstuben strikt verzichten. So viel Noblesse muss sein. Indes, falls ich dort, in der Fremde, dem wahren Leben begegne, dann lass ich es von euch grüßen. 

BLUES IN HARTZ IV

14. Oktober 2009

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Armutsberuhigter Blues in Hartz IV (Fies-moll)

 Arm? Geht so? Oder reich? Manchmal weiß ich gar nicht so genau, was ich eigentlich bin. Kommt halt drauf an, von wo man grad guckt. (Vielleicht sollte ich mich mal wieder trauen, einen Blick in meine Konto-Auszüge zu werfen?) Ich schätze, die meiste Zeit meines Lebens bisher war ich total arm. Man ist doch arm, wenn man  dauernd Geldsorgen hat, oder?

Aber dann les ich wieder, die multi-millliardäre Karstadt-Oberschnepfe Frau Schickedanz von Arcandor hinter den sieben Goldbergen hätte noch vieltausendmal mehr Geldsorgen als ich! Die kann schon nicht mehr schlafen vor Geldsorgen! Die lebt in ihrem Schloß von 600,00 Euro im Monat und weiß gar nicht mehr ein noch aus, bzw. wie sie das Personal und den Fuhrpark bezahlen soll! Also so arm wie die möchte ich nie werden! Denn ich kenn das verflucht gut, wenn am Ende vom Geld noch soviel Monat übrig ist. Da heißt’s dann schon mal, seine geliebte Sammlung seltener Pfandflaschen vom Balkon holen, das Leergut einlösen, wieder auffüllen und ansonsten zwei Wochen von Spaghetti-Nudeln mit Tomatenpampe leben. Geht schon. Und sonntags ausnahmsweise  Schachtel Ölsardinen! Ist auch mal lecker!

Wer ist denn nun arm? Der ewig klamme Donald, weil er kein Geld hat oder Onkel Dagobert, der zwar Phantastilliarden Entenhausener Taler zum Drin-Baden  sein eigen nennt, aber auch einen mittelschweren Hau hat und eine finanzbezogene Zwangsneurose? Es heißt ja immer, selbst wenn einem die halbe Welt gehörte, hätte man doch nur Scherereien, – z. B. mit dem, der die andere Hälfte hat und nicht hergeben will. Geld, so hört man außerdem ständig, regiere die Welt. Aber wo denn? Geld fehlt doch überall? Jeden Tag liest man, daß wo das Geld nicht mehr da ist! Unsere Regierung ist flüchtig. Wir werden, glaub ich manchmal eher, von einem Netz aus Haushaltslöchern und Finanzierungslücken regiert.

Meine Straße in meinem Viertel ist gewissermaßen armutsberuhigt. Morgens um 6.00 Uhr herrscht himmlische Kurortsruhe, weil niemand mehr zur Schicht muß. Hier arbeitet praktisch keiner mehr, und wenn doch, dann schwarz und ganz woanders. In meiner Nachbarschaft lebt man entweder von Kindergeld oder man hat das große Arbeitslos der Staatslotterie gezogen. Das Leben wird einem pünktlich überwiesen. Man läßt sich von der alten Frau Merkel aushalten, die mit dem Stopfen der Sparstrümpfe kaum noch nachkommt. Opa hatte einen Beruf, Vati wenigstens einen festen Job. Heute ist man, was nicht jeder als lebensausfüllend betrachtet, HartzIV-Empfänger.

Bundesbank-Vorstand Sarrazin hat sich unbeliebt gemacht, weil er dreist ausgesprach, was hier eh jeder weiß. Er hat gesagt, in Neukölln wollen sich 70% der Türken und 80% der Araber nicht integrieren. Frau Süßmuth hat protestiert: Das sei eine Beleidigung der bestimmt  wenigstens 30% Türken und 20% Araber, die sich sehr wohl integrieren! Frau Süßmuth sollte mal den Nobelpreis für angewandte Statistik kriegen! – Sarrazin hat noch gesagt, 20% der Berliner Bevölkerung seien unproduktive, ökonomisch „unbrauchbare“ Empfänger von Transfer-Leistungen. Bei uns liegt der Prozentsatz noch höher, glaube ich. Von 455.000 Einwohnern in Duisburg erhalten 70.000 Leute Geld von der ARGE.

Trotzdem sind viele HartzIVler bei uns im Viertel ökonomisch nicht völlig unnütz. Auch sie bilden einen Markt! Einen Markt, dem sich mit entschlossenem Willen zum Erfolg ein Büdchen widmet: Die „Hartz IV-Ecke“ (s. Foto!). Dieses Büdchen ist zielgruppentechnisch auf die Mehrheit in der Hood fokussiert. Die größte Gruppe bei uns sind nämlich, heißt es unter vorgehaltener Hand, weder Türken noch Deutsche, sondern die Alkoholiker. Sinnigerweise kommt hier der Markt zum Anbieter. Solange die Temperaturen es zulassen, versammelt sich der Markt am kleinen Rondell vorm Büdchen und zapft, was die ARGE hergibt. Das Leben eben. Das Leben hat hier 40%, in der Regel, und es  dauert von Sonnenauf- bis -untergang. Die Nacht dann ist lang, melancholisch und zähtränig-quälend wie ein Leonard-Cohen-Song.

Nichts ist ohne Schönheit: Was treue Begleithunde und Mitsäufer gemeinsam haben: Sie verurteilen dich nicht. Sie leben heute, von Schluck zu Schluck. Weil man ihnen das Futter ja hinstellt. Beide fragen nicht nach morgen. Man dämmert, mehr oder minder ohne Zuversicht, aber voller Überlebenswillen, in eine Zukunft, für die man kein Wort hat.

 Nachtrag: Wer schon immer einmal in einem verzweifelt komischen, absurd ni-hihi-listischen Theaterstück von Samuel Beckett mitspielen wollte, aber nie engagiert wurde, der komme zum kleinen Platz vor der „HartzIV-Ecke, im Spätsommer, und frage die dort versammelten ca.15 stark angetrunkenen Niederrheiner nach dem Weg zu irgendwas, das direkt um die Ecke liegt…

Ich wollte eigentlich, sorry, lustig sein, aber dann wurde es ein Blues in Hartz IV. Geld macht blöd, wenig Geld macht traurig, gar kein Geld macht philosophisch. Wir treffen uns, weil jetzt wird es Herbst und kalt, im nächsten Frühling: In der Hartz IV-Ecke. Besser eine vage Verabredung, als gar keine Zukunft.