6. Februar 2014

Seh ich aus wie ein Therapeut? Herz ausschütten hier verboten!
Im milden Westen viel Neues: Heuer nix mit Winter. Definitiv Eis-Abstellgleis: Winter fährt hier nicht mehr. Wir bitten um Verständnis. Babyblau und vertraulich zwinkert der Stadthimmel aus windzerzausten flauschigweißen Wolkenwindeln. Sonne brilliert als Debütantenball. Das ortsübliche Kleingeflügel macht schon Höllenlärm, es meiselt, finkelt und funkelt auf dem Balzplatz, als gäbs kein Morgen, bzw. eben schon ganz viel Morgen, Frühling, Aufbruch usw., Elstern in Paarungsplanung ziehen aufgeregt keckernd gen Norden, zu IKEA, Naturholzzweige fürs Nest. Ich steh derweil auffm Balkong, rauch mein Kaffee und fühl mich irgendwie so Rilke, vielleicht auch bisschen Benn dabei. Wieder mal leide ich unter meiner Unflexibilität: Ich hasse es, wenn ich mich auf etwas einstelle, und dann kommt alles ganz anders. Schon im November hatte ich den Kopf grottentief zwischen die Schultern geschraubt, doppelt Pulloverpower, orntlich Rotwein eingekellnert, Streusalzstreuer aufgefüllt, vorsorglich Depression (SAD – seasonal affective disorder) eingeübt – und was ist? Keine Nacht traut sich unter Null, prunkt dafür aber mit Sternbildern, die ich gar nicht kenne, im Park rotieren die Rentner-Rollatoren um blühende Japankirsche, grellbunte Velozipedisten rauschen durch den Rajon, und keiner sagt mir, wie diese Jahreszeit hier heißt.
Aber mir sagt eh keiner was. Menschen, die mir nahestehen, verabscheuen mich in der Regel, schneiden schnöde Schnuten und meiden mich nach Kräften. Eine unerklärliche Anziehungskraft übe ich hingegen, wie, ich schwör, immer, immer schon, solange ich denken kann, nur auf Hunde, kleine Kinder und Irre aus. Kind und Hund wird man ja wohl noch sagen dürfen? Irre ist vermutlich nicht pc. In der Sache stimmt es aber: Kaum sitz ich mal auf der Parkbank, legen mir wildfremde Hunde treuherzig die nasse Schnauze aufs Knie und Kleinkinder strecken mir hoffnungsvoll schwanzwedelnd ihre klebrigen Wurstfingerchen entgegen, um sich herzen zu lassen. Die Tugend entschlossener Höflichkeit ist hier gefragt; nicht immer beherrscht man sie ohne Beanstandungen. Was die Verpeilten, Verstörten, Psychonauten und Schizonosen an mir finden, weiß ich nicht. Sehen sie in mir einen Seelenverwandten? Eigentlich habe ich nichts Therapeutenhaftes an mir, im Gegenteil. Mit aus Eiszapfen gebildeten Buchstaben steht auf meiner Brust: Hier bitte keine Herzen ausschütten! Nützt es was? Kaum.
Eine treue, mir allerdings gänzlich unbekannte und bestürzend schwerverwirrte Freundin etwa, eine reichlich bizarre Lady Gaga aus den kalten Weiten des Internetzes, schickt mir seit Wochen und Monaten pro Tag oder Nacht ca. ein Bäckerdutzend Mails mit Verwünschungen, Drohungen, Obzönitäten sowie knapp 60% absolut unverständlichen verquasten Verbalquatschtextmüll. Stalking on the wild side: Brieffreundschaft auf blackmail.de. – Was soll man da machen? „Kann man da denn nix machen?“ fragt die Gattin stirnrunzelnd, „Polizei oder so?“ Ich resigniere pantomimisch. „Oder deine Russenfreunde?“ insistiert sie. „Also erstens“, stelle ich richtig, „sind das ja nun mal keine Russen, sondern bloß Serben, und außerdem werde ich ja wohl, was die mir schulden, nicht für die Einschüchterung einer ungezogenen Pampelmuse verplempern…“ – Sie schüttelt missbilligend den Kopf. – „Du weißt, Liebelein, ich bin Taoist, da muss man nicht immer was MACHEN“ füge ich noch hinzu, ganz Oberschulrat Schlaumeier. „Und was MACHST du, wenn du NICHTS machst?“ fragt die Gattin, die nicht umsonst Kriminalhauptkommissarin auf der Visitenkarte stehen hat. „Ich lese ergeben den ganzen Schrott weg, als sei das meine Aufgabe, für die ich auf der Welt bin, wackle bekümmert mit dem Kopf und antworte … nichts.“ Ihr „Aha!“ nahm ich mal als bedingte Zustimmung. Wie ich nämlich mittlerweile erkannt habe, beruht gedeihliches soziales Miteinander auf Duldsamkeit und Nicht-so-genau-Hinsehen.
Ich fürchte, ich werde herzensliebe Künstlerfreunde verprellen, wenn ich behaupte, genaues Hinsehen wird überschätzt. Man liegt stundenlang auf dem Bauch im Garten, kiloschweres, schweineteures optisches Gerät im Anschlag und: sieht genau hin. Was sieht man dann da überhaupt? Besagtes singendes Kleingefügel, wenn man schnell genug ist, mit dem 200er aber auch schon Vertreter der Kerbtierwelt, und mit der nächsten Anschaffung dann wird man das Leben der Mikroben, Fibrillen, Spirillen, Mycoplasmen, Spirochaeten, Clostridien und anderer Repräsentanten des Prokary0tentums ans Licht zerren. Will man das denn? Dieses ganze Geschmeiß, Geziefer und Geschnetz?
Die alte Mume Wikipedia wispert: „Ein Mensch besteht aus etwa 10 Billionen (1013) Zellen, auf und in ihm befinden sich etwa zehnmal so viele Bakterien.“ Schon bei der Vorstellung, wie 100 Billionen Exemplare eklen mikrobiellen Gewürms „auf und in“ mir herumwuseln, wird mir blümerant, da brauch ich gar nicht noch genau hinsehen! Frauen sind nach meiner von Bonhommie gesättigten Erfahrung ja am schönsten bei Kerzenlicht, Sonnenuntergang, etwa 1,80m Abstand, ohne Brille und durch ein Glas Spätriesling betrachtet. Beim candle light dinner schreit doch auch keiner: Machma das Neonlicht an, ich muss da mal genau hinsehen! Ich persönlich liebe es verschwommen, verschleiert, verwischt und verhuscht. Eben so aus den Augenwinkeln bloß. Übrigens: Männer sind am schönsten im Dunklen. Überhaupt Männer! Man kann nie mit ihnen reden! Und wenn, dann brechen sie das Gespräch mitten im.
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31. August 2011

Hier geht es evtl. rund! Kraska ist moseln...
Es gilt unter Kennern nicht gerade als untrügliches Zeichen geistigen Überfliegertums, sich über das Wetter zu beklagen, ich weiß. Es wäre so, als wollte man über die Gravitation jammern, was ich aus schwergewichtigen Gründen zwar im Stillen auch manchmal tue, aber es ist halt dieses Allerweltslamento doch von so eklatanter Sinnlosigkeit und ein derart plattes Klischee, dass man gute Erziehung und korrekt gebügelte Lebensart eher dadurch unter Beweis stellt, dass man mit einem mild stoischen Lächeln über die unvermeidlichen Unbill des Erden-Daseins hinweg geht. Vielleicht ist es ein Vorurteil, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein britischer Gentleman jemals über das Wetter spricht. – Freilich gibt es zu jedem einer- auch ein andererseits.
In dem Film „Willkommen Mr. Chance“ (im Original: „Being there“), einem meiner zehn Lieblingsstreifen aus den späten 70ern, die ich einst in Cihcago, Illinois, im Kino sah oder sehen und entziffern durfte (war ohne Untertitel!), spielt der legendäre Peter Sellers in einer seiner letzten Rollen einen tumben Einfaltspinsel von Gärtner, der nur eine Weisheit beherrscht: „Well, first there is spring, then you’ll have summer, which just follows autum, and after that – winter. Then spring again“. Diese Binsenweisheits-Worte spricht er aber mit solchem Ernst und so großer Emphase, dass alle Welt denkt, er meint das bestimmt irgendwie metaphorisch und als sibyllinische politische Anspielung; man hält es für ein Statement über Ökonomie und Marktzyklen, lädt ihn in TV-Talkshows ein und am Ende wird er damit Präsidentschaftskandidat in den USA. Damals eine super Satire, würde der Film heute nicht mehr funktionieren, weil die Behauptung, dem Frühling folge der bzw. ein Sommer, nicht mehr als Binsenweisheit gilt, sondern als heikle, unsichere und höchst umstrittene Prophezeiung.
Das Blöde ist: Ich bin Sternzeichen Salamander, von der Physiologie also wechselwarm, und hatte eine längere sonnig-warme Phase fest eingeplant, um leichtblütig über die bevorstehende Herbst- und Winterdepression zu kommen. Stattdessen regnete es mir monatelang kühl und herzlos ins Hirn. (Wer sich Sorgen um mich machen will, sollte es JETZT tun, bitte. – Vielen Dank, sehr freundlich.) Die Depression erhebt ihr träges Haupt. Bang deklamiere ich für mich den armen Hölderlin: „Weh mir, wo nehm ich, wenn
/ Es Winter ist, die Blumen, und wo
/ Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde?
/ Die Mauern stehn
/ Sprachlos und kalt, im Winde
| Klirren die Fahnen.“ So sieht es doch aus! Vor lauter Fahnenklirren und Blumenvermissen ist mir schon jetzt ganz blümerant zumute.
Erstaunlicherweise war es der große Elisabethanische Unterhaltungsschriftsteller, theatralische Räuberpistolen-Dichter und Prophet William Shakespeare, der meinen Zustand vorausahnte, als er seinen Narren („Was ihr wollt“) folgenden Singsang anstimmen ließ: „Und als der Wein mir steckt’ im Kopf / Hopheisa, bei Regen und Wind! / Da war ich ein armer betrunkener Tropf; / Denn der Regen, der regnet jeglichen Tag.“ – Yes, Sir, so kann man es ausdrücken! Hier im Westen regnet in der Tat der Regen jeglichen Tag. Erst war er warm, der Regen, dann fröstelig kühl, jetzt wird er schon empfindlich kalt. Ich will nicht übertreiben, aber – ist schon mal jemand am Wetter gestorben? Darauf ankommen lassen werde ich’s grad nicht, Freunde – weshalb ich zu einem verzweifelten Mittel greife: Obwohl ich diese Tätigkeit perhorresziere: Ich reise! Und zwar ab!
Bloß an die Mosel zwar nur, und lediglich ein paar Tage, weswegen die Gattin schon ätzt: „Das wird bestimmt mehr so’n Rentnerurlaub!“ – Sicher, doch „immerhin“, repliziere ich schlagfertig, „wandern wir noch nicht durch den Harz, du mit blauem Popeline-Blouson und ich in straff gebügelter beiger Anglerweste!“ Kann nichts schaden, der Gattin schon mal die eheliche Zukunft auszumalen; die stillen Tage im Alzheim.
Wenn also hier einige Tage nichts Neues unter der Sonne (Ha!) erscheint, dann, weil ich moseln gefahren bin. Entweder herrscht dort eitel Sonnenschein, oder ich stecke mir enorme Mengen Wein in den Kopf. Vielleicht, begeisterungshalber, auch beides. Danach habe ich mit Sicherheit SAD („seasonal affective disorder“), wofür zumindest die Klassiker noch angemessenes Verständnis hatten. Wenn ich es irgendwie vermeiden kann, werde ich von dem romantischen Moselort keine Fotos machen, keine Klöster und Burgen beschreiben und auf die Belobigung von Restaurants und Weinprobierstuben strikt verzichten. So viel Noblesse muss sein. Indes, falls ich dort, in der Fremde, dem wahren Leben begegne, dann lass ich es von euch grüßen.
Kategorien: Emotional Weatherreport
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