Samstag, 21. Mai. Wir hockten klamm beim Sportrentner Horst im dicke mit Schrankwand, Lederpolsterlandschaft und Flachbild vollgemachten Wohnzimmer und fremdelten. Seit Branko seine Kneipe an die bulgaro-türkische Mafia verscheuert hat, haben wir nämlich kein Heim mehr. Wir (zwei Griechisch-Orthodoxe, ein Russisch-Orthodoxer – glaubt er jedenfalls, weil er sich anders bekreuzigt als „die Griechen“ –, ein Atheist, ein Agnostiker und ein Quoten-Muslim, der aber „mit Religion nicht so viel am Hut hat“ – nuckelten am Diebels, guckten DFB-Pokalfinale und warteten auf den errechneten Weltuntergang. Von uns wurde natürlich niemand „entrückt“. Und untergegangen ist bloß der MSV Duisburg. Es war ganz furchtbar, obwohl Sportrentner Horst extra Buffet gemacht hatte mit Würstchen, Frikadellen und Nudelsalat, lecker Gürkchen auch dabei.
Es stand schon 5:0 für Schalke und wir waren eher ver-, als entrückt geworden, da schellte es und der verwitwete Ex-Hausbesorger Pitti schneite noch in die Runde (zwei Serben, ein Albaner, ein Mazedonier, ein Türke und zwei Deutsche), die gerade diskutierten, ob man nicht „alle Ausländer aus dem MSV rausschschmeißen“ sollte. Pitti sieht aus wie ein Trauer-Schlumpf, königsblaue Nase vom Kummer-Bier und schlohweißes Haupthaar vor Trauer; er ist der gegenwärtige Hauptvertreter der Duisburger Schule des Stoizismus (Maxime: „Watt willze machen? Da kannzze nix machen!“ – Was soll man zum Krebstod der Frau, mit der man 45 Jahre verheiratet war, auch weiter sagen?).
Speziell die Ausländer unter uns waren aus Frust extrem ausländerfeindlicher Stimmung. Als nach dem Spiel der Schalker Christoph Metzelder interviewt wurde und außer Atem etwas nuschelte, schollerte und bollerte, brüllte Vlado, der Mazedonier, der, obgleich seit 30 Jahren in Deutschland, die hiesige Landessprache nur rudimentär beherrscht, in den Fernseher: „Spreche maa deutsch, du Arscheloch!“, was unter den noch nicht-komatösen Stammtischlern für gewisse Erheiterung sorgte.
Pitti aber, durch bereits aushäusig stattgehabten Alkoholgenuss der vielleicht einzige „Entrückte“ unter uns, erzählte ein ums andere Mal, die lieben Knopfaugen weit aufgerissen, von dem Wunderding von Hörgerät, das „dem Arzt“ ihm verschrieben hätte. „Ey, datt glaubzze nich, da hörsse dich selpz deine eichne Sprache“, schwärmte er verträumt, „datt geht so per Funk von den einen Ohr an datt annere!“ Dass ich laut aufglucksen musste, verstand keiner, ebenso wenig wie meine kichernd hervorgebrachte Frage, ob der Funk jetzt um den Kopf herum oder quer hindurchginge, irgendeine Resonanz fand. Natürlich trägt Pitti das Hörgerät nicht, weil, bei 2000,00 Euro Selbstbeteiligung ist das einfach zu teuer, um benutzt zu werden.
Mangels Hörgerät hatte er aber auch wiederum gar nicht mitbekommen, dass das Spiel schon zu Ende und die Welt bereits untergegangen war. Mir aber, dem aus verschiedenen Gründen (MSV, Religion, Alltagsrassismus, Wein) melancholisch gewordenem Volksmagister wurde die Welt schon wieder zu Gleichnis. Man stelle sich vor, es gibt Funk, aber zwischen dem einen und dem anderen Ohr … ist nichts, geht keiner hin, ist bloß weißes Rauschen. Endlich kann man sich hören – und dann stellt man gerade deswegen fest, zwischen den eigenen Ohren herrscht Funkstille, Verstummung, Schweigen. Nobody at home. Das weiße Rauschen, das schwarze Loch, zu groß, um es mit Bier und Schnaps zu füllen. „Isch geh denn gezz ma“ beschied Pitti der Runde würdevoll, „ich krich noch’n Anruf“. Wir protestieren höflich und denken im Stillen: „Ja klar, sicher doch, Hauptsache, du hörst den dann auch….“
Na ja, egal, Fazit ist – in der Welt wie im Geddo: Wir sind es, die HIER BLEIBEN müssen! Scheiß Propheten… – Das Pokaldebakel war dann überraschend rasch vergessen. Milos und Nikolaj bemühten sich, mir komplett Ungläubigen beizubringen, wie man sich korrekt russisch- bzw. griechisch-orthodox bekreuzigt. „Proffesser“, wachte Bogdan, der chronisch übermüdete Bosnier, der es als Baupolier wissen muss, kurz auf, „Professer – weißt du, warum euer Jesus bei die Bosnier nich gekreuzigt worden wär?“ Nö, wusste ich nicht. „No, überlech maa, Professer – Nägel aus Eisen! Wärn doch längs alle geklaut!“ – Treuherzig, wenn auch unmotiviert, erklärt mir der Mazedonier Vlado, „…und deswegen hass ich die Griechen!“ – „Wieso“, frage ich, „das sind doch eure Nachbarn?“ — „Eben“, schmunzelt Vlado gütig, „eben!“
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