Daß es seltene Menschen gibt, die rückwärts geboren und mit dem Alter immer jünger werden, ist ein Topos der Literatur und des Films. Manchmal existieren sie aber auch tatsächlich. Ich fand jedenfalls, zum Schluß wirkte sie schon fast gespenstisch in ihrer Vitalität und unermüdlichen, rumpelstilzchen-haften Schaffenskraft, wie ein in Unwirklichkeit gebadetes, sehr junges Mädchen aus einem Carollschen Wunderland, immer am Spinnrad der Kunst, der arachnoide weibliche Archetyp der Sinn- und Schicksalsspinnerin, immer wie leise kichernd, im klamm stummen Fingerspiel haspelnd und spinnend, versponnen verhäkelte Botschaften wispernd, gespenstisch, aber auf anheimelnde, vertraute Art gespenstisch, wie Frau Holle oder meinetwegen auch des Teufels Großmutter, als wäre sie, die alte Muhme Louise, eine zaubrische, als Greisin verkleidete Elfe: Verwundet, aber davongekommen, schweigsam, aber beredt: Ihre schüchtern-obzönen Schwellkörper, die dezent-grausamen Püppchen und Strickfiguren, ihre arachnoiden Monstermütter, ihre verstörenden „Zellen“ und verwunschenen, im kranken Licht fröstelnden Kram-Kammern kündeten, sozusagen in hundert Jahren Schlaflosigkeit zusammengeklöppelt, von einem rastlosen, arbeitsamen Geist, der hinter dem Gespinsten der Sprache und der Konventionen nach der ursprünglichen Wunde suchte, dem unhörbaren Schrei auf dem Grund der eigenen Existenz lauschte, dem Untergrund der Dinge nachforschte, dem wurzelhaft-biotischen Wuchern und Wachsen des Unheimlichen, das uns trägt, der nie verwundenen Kindheit nachtrauernd. – Künstler wird, so sagte sie, wer es es nie schafft, erwachsen zu werden.
Louise, auch ein Idol: ein böses, verstoßenes, nicht gewolltes Kind, ein unverstandenes Kind, ein Kind mit einem bösen, glasklaren Blick. Immer draußen, immer am Rande, und immer im Bilde. Hexen, Parzen, Muhmen: „Weise Frauen“, Behüterinnen eines unerträglichen, aber doch unverzichtbaren Wissens – Louise Bourgeois war für mich eine von ihnen. Ihr Werk berührte mich, unangenehm intensiv wie ein schlimmer grippaler Infekt, ein erlkönighaftes Fieber, eine physische Beängstigung und Lockung zugleich, ganz unmittelbar, ohne Vermittlung durch Kunstlehrer und Interpreten. Sie machte Angst und in sich verliebt, wie sonst nur Kafka. Sie ging mir unter die Haut. Louise Bourgeois war meine (heilsame) Gegenmutter. Außerdem, um sachlich zu bleiben, bewies sie, daß Feminismus nicht dumm, geistlos und ideologisch sein MUSS. Wenn ich je eine Frau jenseits des Geschlechtes rückhaltlos verehrt habe, dann sie: Weil sie Verehrung abstieß.
Halb und halb hatte ich schon gehofft, sie sei eventuell unsterblich, dezent-papiernen entrückt, zum Mythos sublimiert. Aber dazu war sie wohl zu bescheiden.
Nun starb sie also doch – am Montag, den 31. Mai 2010, im Alter von 98 Jahren, in New York an einem Herzinfarkt. – Geliebte, verehrte Louise. – Endlich Schlaf!
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