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The long good-bye (II)

3. Juni 2012

Natürlich hat das Geddo auch schöne Seiten: Zum Beispiel die reiche Kultur!

Wenn bettelarme Dörfler und Dörflerinnen, minimum vier Generationen gemeinsam, sich fern der Heimat, in der verwirrenden Fremde, zusammensetzen, gemeinsam zur Akkordeon- und Fiedelbegleitung inbrünstig pentatonische Volkslieder singen, dazu klatschen, ekstatisch juchzen, bittersüß aufschluchzen und „Aiiiiííí! Hò’pa, hò’pa!“ rufen – ist dagegen irgendetwas einzuwenden? – Aber nein, Iwo! Wieso denn? Ist doch schöön! werdet ihr antworten und damit leider eine gewisse medial vermittelte Kurzatmigkeit im Denken offenbaren: Wenn das spontane Festival im Hinterhof nämlich nachts um halb drei unter eurem Schlafzimmerfenster stattfindet, werdet ihr, das wette ich, eure multikulturelle Begeisterung alsbald zu überdenken und zu zügeln wissen. Vielleicht werdet ihr das Fenster zum Hof aufreißen und mit mühevoll gezügelter Gereiztheit hinab rufen: „Leute! Es ist halb drei!!!“ Aber die Musikanten, tut mir leid, liebe Fremdenfreunde und Xenophilatelisten, werden euch nicht verstehen, und wenn doch, sich über das saturierte Deutschlandparadies wundern, in dem man sogar noch nachts gratis und ungefragt eine Zeitansage erhält. Das inkriminierte Wort „Zigeuner“ verwendet ich übrigens nur zu präzisierenden Diskriminierungszwecken – ich weiß nämlich nicht, ob es sich um Roma oder Sinti handelt. Sinti sind doch die mit der jazzigeren Musik, oder? Dann wärens wohl eher Roma gewesen. Darf man noch „leider“ sagen?

Was ich damit ausdrücken will: Ob das Leben im Geddo immer so lustig ist, wie ich es in Texten manches Mal zu suggerieren trachtete, ist eine Frage des Blickwinkels bzw. des Zeitpunktes, an dem man morgens aufstehen muss. Oder ob das Blut, welches das Hemd durchtränkt, mit dem man sich nach einer langen Nacht als Blauhelm-Magister ins Bett fallen lässt, das eigene ist oder nicht. In meinem Fall war es glücklicherweise Fremdblut, nämlich das von Sportrentner Horst, meinem Nachbarn, der nüchtern ein liebenswerter Mensch und xenophiler Nachbarschaftsengel ist, betrunken sich aber anhört wie ein erzblöder Neo-Nazi. Leider ist er ziemlich selten nüchtern. Wie oft habe ich ihn gewarnt: „Horst! Bitte! Nach elf Uhr resp. 25 Bier bitte nichts mehr über Religion oder Politik!“ Aber der Horst ist ein Argloser, ein Tor mit reinem Herzen, und er kriegt nicht mit, wenn sich anti-deutsche Abneigung und Verachtung im Geddo in blanken Hass verwandeln. Er checkt es einfach nicht, dass man irgendwann die Fresse halten muss, auch und gerade wenn man mit mazedonischen, bosnischen oder kroatischen „Freunden“ zusammen hockt und NOCH mehr Bier trinkt.

Ich war nüchtern genug, den Hass in den Augen des Mazedoniers zu sehen, aber leider, trotz Kampfsportausbildung nicht geistesgegenwärtig genug, zu verhindern, dass er Horst urplötzlich eine volle Flasche Diebels gegen den Schädel knallte. Bier und Blut spritzten auf mein Hemd, ein Scherbenregen ging auf mich nieder, während ich, die Ein-Mann-Friedenstruppe, das Schlimmste zu verhindern suchte, nach meiner Taschenlampe kramte und dem Sportrentner, der aus diversen Gründen nicht mehr recht zu stehen kam und definitiv ausgezählt mit dem blutüberströmten Kopf wackelte, im Funzellicht kreuz und quer Erste-Hilfe-Pflaster auf die Klotzkopfkerbe klebte, um erstmal die Blutung zu stoppen.

Schon bizarr: Ich, der Feingeist, Bildungshändler und Privatgelehrte, agierte praktisch als Blauhelm vor einer Hinterhofgarage im derbsten und dümmsten aller Religionskriege! Mann, Mann, was MACH ich hier? – so keimte die peinigende Frage in mir.  Übrigens, um keine Vorurteile zum Blühen zu bringen, der brutale Schläger, der seinen „Glauben“ zu verteidigen meinte, war kein Moslem, sondern ein „orthodoxer“ Christ. Er verpisste sich nach vollbrachtem Glaubenskriegertum sofort und ließ seine Verwandten für ihn lügen, sie hätten „gar nichts mitgekriegt“. Wie oft sein Jesus Christus irgendwelchen Feinden eine Bierflasche  auf den wehrlos betrunkenen Schädel gehauen hat, ist ja bekannt. „Orthodox“, ha, klar!

Seltsam: Ich ziehe nur ca. 1000 Meter weiter, aber dort gibt es so etwas nicht. Die schöne, attraktive alte Dame, die bei uns im Haus wohnt, ist evangelisch, wackelt Sonntags am Rollator in die Kirche und sieht insgesamt nicht danach aus, Andersgläubigen Bierflaschen auf den Schädel zu hauen. Auch wenn ich mich eventuell langweilen werde – ich weiß doch Zivilisiertheit zu schätzen.

Wünsche werden einem erfüllt, aber nicht unbedingt dann, wann man es braucht und auch nicht, wie schon Goethe wusste, zu den eigenen Bedingungen, sondern, so Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ weiter, um uns etwas zu lernen zu geben: Endlich hat man die Alk-Fraktion, die unter mir hauste, aus dem Haus klagen können. Ab jetzt keine stinkenden, kläffenden, den Hof voll scheißenden Köter mehr, keine im Vollrausch veranstalteten Parties nachts um drei (mit nur einer einzigen Platte die ganze Zeit: Marius Müller-Westernhagen, „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“! Gott! Wie ich diesen Mann im Laufe schlafloser Nächte hassen gelernt habe!), kein Rund-um-die-Uhr-Gegröhle, keine von Wodka beflügelten Prügeleien mehr. Keine mein eigenes Gewissen molestierenden Anrufe bei der Polizei. Heike, die Frau vom Chef-Randalierer, ist ja auch tot. Mit der Obduktion scheint man sich nicht viel Mühe gegeben zu haben. Geddo eben. Der menschlichen Ausschuss interessiert den Staatsanwalt nicht besonders. Dass die 44-jährige Frau nur aus blauen Flecken bestand, als sie starb, fand man forensisch nicht bemerkenswert. Die Realität ist nicht wie im „Tatort“. Nun, jetzt ist das Pack weg. Hinterläßt ca. 12 Kubikmeter Messi-Müll, Schmutz und Drecks-Geraffel und zeigt uns allen den Mittelfinger. Nicht, dass ich ein Ausländerfreund wäre, aber, Leute, die DEUTSCHEN hier, die sind schon das allerletzte…

Ob ich das Geddo vermissen werde? Tja, na ja. Wahrscheinlich erst, wenn ich da raus bin…

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Im Café ohne Hörsturzhelm

18. September 2010

Den Finger am Abzug: Der Musik-Terrorist (Foto-Quelle: Wikipedia)

Wie jeder halbwegs weltläufige Genussmensch liebe ich Straßencafés. Gepflegt herumhängen, geistvoll mit der charmanten Begleitung plaudern, dabei en passant das flanierende Passantengewimmel begutachten, über Modetorheiten und wandelnde Ernährungsfehler (na, ich hab’s grad nötig!) lästern, dabei einen Eis-Kaffee, einen Cappuccino oder schon, falls der Sonnenuntergang naht, also ab mittags ein Weinchen genießen – das sind Urbanitätskultiviertheiten, die ich auf dem platten niederdeutschen Dorf mit Sicherheit vermissen würde! – Worauf ich dabei allerdings gut und gerne verzichten könnte, ist unfreiwillige Musik-Begleitung.

Nebenbei, weil ich nie weiß, was man „noch sagen darf“: Darf man noch „Zigeunermusiker“ sagen? Oder sind das jetzt „freiberufliche Roma-und-Sinti-Instrumentalisten“? Wahrscheinlich, nehme ich an, spricht man korrekt und besser von: „ambulanten, besonders mobilen Laien-Musik-Kulturschaffenden mit südosteuropäischem Migrationshintergrund“? In meinem politisch unkorrekten Alltag heißt es freilich schon mal herzloser: „Boah, ich glaubs wohl, da sind schon wieder so scheiß Akkordeon-Bettler im Anmarsch!

Kaum sitzt man nämlich am zierlichen Marmortischchen über seinem Getränk und möchte vielleicht gerade mit gebrochener Moll-Stimme ein herbstliches Sonett von Rilke rezitieren, eine süßsäuerlich-scharfe Sottise von Karl Kraus zum Besten geben oder gar bescheiden ein selbst ad hoc geschliffenes Scherzwort zu Gehör bringen,  da braatzt, dudelt, quäkt, quaackeliert, schrillt, klimpert, kinkeliert, faucht, pfeift und näselt einem auch schon mit rücksichtsloser Brachiallautstäke eine ambulante Quetschkommode um die Ohren resp. ins Gespräch, um dieses komplett und gnadenlos zu verunmöglichen. An manchen Tagen verstärkt man den Terrorangriff noch mit Waffen, die sich besonders verheerend gegen die Zivilbevölkerung richten: verstimmte Geige, Balkan-Klarinette (Zurna) und Tambourin. Ohne Hörsturzhelm ist man dem Zwangs-Lauschangriff praktisch wehrlos ausgeliefert.

Nicht, dass ich den elegischen Walzer aus „Der Pate“ nicht schätzen würde; zu späterer Stunden schunkele ich schon mal „Auf der Reee-perbahn nachts um halb eins (dingelingeding)“ mit, und wenn eine glutäugige Romamama ihrem dreijährigen Knirps beigebracht hat, sich auf der Quetsche im ICE-Tempo durch den „Flohwalzer“ zu fingern, ohne sich was zu brechen, bin ich bei guter Laune durchaus bereit, entzückt ein paar Münzen zu zücken. Nur, wenn es recht ist, ich würde verdammt noch mal gern selber und frei entscheiden, ob und wann ich das will! Aber nein: Da kann ich ein Gesicht ziehen, derart genervt und sauer, dass im Umkreis von drei Metern die Fliegen tot von der Wand fallen und die Wespen an ihrem Pflaumenkuchen ersticken – debil grinsend arbeitet der Akkord-Akkordeonist erbarmungslos die Terrasse ab, baut sich breitbeinig vor Selbstbewusstsein an jedem Tisch eigens und extra auf, um das dort keimende, zart knusprig Gesprächsgebäck mit dicker Dudel-Sauce zu überkippen. Das ist doch eine Unart! Ich möchte das nicht!

Richtig ärgerlich wird es dann aber erst, wenn das Drei-Stücke-Repertoire lieblos-routiniert heruntergenudelt ist und der Zieh- und Vielharmoniker nun von Tisch zu Tisch schlawinert, um dir aggressiv-herausfordernd oder unangenehm servil den Hut unter die Nase zu halten. Schmallippig hält sich mein Portemonnaie geschlossen und meine Stirn ziert eine scharf gebügelte Unmutsfalte – oft genug hat mir dies bereits dreiste, bruch-deutsche Verbalinjurien eingetragen, was mir dann wiederum deutlich die Laune verdüsterte. Ich hab es im Guten & Lustigen versucht („Haste auch eine Weiter-Ziehharmonika?“) oder unter Aufbietung angestrengter Humorlosigkeit dargelegt, ich sei weder bereit, dafür zu bezahlen, dass man mich lärmbelästigt, noch auch nur dafür, dass man damit wieder aufhört. Da kann ich richtig bockig werden. Genutzt hat es noch nie.

Natürlich wird man als artiger, toleranter, korrekt auf links gescheitelter Deutscher nicht laut oder handgreiflich, aber das Loblied auf die migrationsbedingte Vielfalt kultureller Bereicherungen in der City hört man mich dann auch nicht unbedingt anstimmen. – Ich möchte ja niemanden belästigen.