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Ethik-Dilemma im Geddo (The long good-bye IV)

9. Juli 2012

Der Parfumeur-Performer: Im Geddo keine Hilfe

Man darf mich für kapriziös halten, für einen Snob oder gleich für ein voll schwules Weichei, aber neulich saß ich halt im Geddo in der Grün-Oase auf meiner Lieblingsbank, von der ich den schwunghaften Ganja-Handel und den Basketball-Court gleichermaßen im Blick habe, und las Rilke. Sonette an Orpheus, glaub ich. Mir war danach und es ist ja ein freies Land. Manche desillusionierten Kritiker halten Rainer Maria Rilke für einen sprachlichen Parfumeur-Performer, der immer mehr oder minder hart an der Kitschgrenze entlang schrammt. Kann gut sein, aber als obsessiver Olfaktoriker schätze ich erlesene Düfte, auch wenn sie mehr versprechen, als sie je halten können. Ist es denn mit schönen Frauen anders? (Rhetorische Frage, bitte nicht antworten!) Und dennoch verehrt man sie und schaut ihnen traumverloren hinterher. Also bitte, Rilke. Gerade buchstabierte ich halblaut skandierend mein Lieblingssonett mit seinem unnachahmlich buddhistischen Flair:

„Sei allem Abschied voraus, als wäre er hinter / dir, wie der Winter, der eben geht.  / Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter, / dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.“

Hach, herrlich, oder? Und so tief gedacht, nicht wahr? – „Du scheiß Votze, ich hau dich zu Brei, dich brauch ich nicht, du Drecksnutte, kriegst gleich in die Fresse, du blöde fette Sau!“ – Was ich da hören musste, erzeugte bei mir zusammen mit der Rilke-Lektüre etwas, das der Fachmann mit gewissem Recht eine kognitive Dissonanz nennt. Ich meine, in den Kreisen erlesen edelblütenhafter Gräfinnen, in denen – also den Kreisen! – der zart besaitete Dichter verkehrte, war „Ich ersterbe, wenn ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis ihre Hand küssen darf“ ungefähr das Verwegenste, was man einer Dame gegenüber äußern durfte. Wenn überhaupt.

Hier aber hatte ich, keine fünf Meter von meiner Kontemplationsbank entfernt, einen nach Schweiß stinkenden Gorilla mit abschreckender Akne-Fresse, hennagefärbtem Islamisten-Bart und muckibudengestählten Bergen kalten Fetts vor mir, der das bleiche, verhärmte Mädel, das er am Halsband führte, an den dünnen, schweißnassen Haaren zog und Schattenboxhiebe gegen ihre Brüste vollführte, sie unentwegt unflätig bedrohte, drangsalierte und genussvoll demütigte. Man konnte sehen, wie ihm dabei in seiner ballonseidenen Trainingshose fast einer abging. Über seinem Bauch spannte sich ein T-Shirt mit der Aufschrift „Thug life“. Ohne Frage schlug der Schläger-Typ in die Kategorie von Männern, denen ich gern ein finales Anti-Gewalt-Training verabreicht hätte – die nötigen Werkzeuge hatte ich ja immerhin in der Fahrradtasche dabei: einen 80.000-Volt Elektro-Taser, einen CS-Gas-9mm-Beretta-Nachbau, der fast wie echt aussieht, sowie ein rasierklingenscharfes, tückisch gekrümmtes vietnamesisches Krabbenausbeinmesser, mit dem man renitente Bluthochdruckpatienten, wenn man sich beeilt, blitzschnell Erleichterung verschaffen kann. Das übliche Geddo-Besteck halt.

Ehe ich mich versah, befand ich mich aber nun in einem mittelschweren Dilemma, wie man es aus dem Ethik-Unterricht in der Elften kennt: Einerseits kann man ja wohl nicht weiter einfach Rilke lesen, wenn nebenan in der lieblosen Realität eine Frau bedroht wird, andererseits war der gottgefällige Mohammedaner und fromme Frauendompteur mit ca. 30 Jahren eindeutig fitter als ich, bei dem, mit knapp sechzig, die Kampfsportzeiten schon so lange zurückliegen, dass ich mich kaum noch erinnern kann, welche Farbe damals mein Gürtel hatte. Außerdem war noch keine Straftat begangen worden, die wirklich drastische Notwehr gerechtfertigt hätte. Was also tun? Die Bullen rufen? Ha ha. „Die Bullen“ sind in der Geddo-Wache zwei (2) liebenswürdige ältere Herren knapp vor der Pensionsgrenze, deren einzige Waffe in dem Glauben besteht, ihre Uniform könne evtl. irgendwie eine abschreckende Wirkung zeitigen. Bei elfjährigen Roma-Jungen klappt das auch ganz gut. Sie (die Bullen) sind in den Dienstzeiten von 8.30 bis 16.00 Uhr telefonisch erreichbar. Soweit zur Staatsgewalt und ihrem Gewaltmonopol.

Verkompliziert wurde die Situation dadurch, dass das kujonierte Mädchen gegen seine entwürdigende Behandlung nicht etwa protestierte, sondern die ganze Zeit bloß jammerte: „Gib mir wenixens meine Kippen!“ Noch mal: Was jetzt tun?

Rilke riet: „Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung, / den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, / daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.“ – Also, eine wirkliche Hilfe war das nun auch nicht!

 

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Als Osten jung und schön war und eine rauchige Stimme besaß

31. Juli 2009
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Doris Treitz alias "Alexandra" (1942-1969)

Mein Favoriten zu dieser Zeit waren Jimi Hendrix, die Rolling Stones, Ten Years After oder Psychodelisches wie Vanilla Fudge, dann Cream, Blind Faith oder Juli Driscoll, Bob Dylan, David Bowie und Carlos Santana, Alice Cooper und Thin Lizzy, Eric Burdon, The Fugs, Chikago Transit Authority, The Doors und Edgar Braughton Band. Gehörte damals alles zum straight stuff, und war das Gegenteil von Mädchenmusik (Beatles, Melanie, Joan Baez, Donovan, etc.) Zur deutschen Schlagerszene unterhielt ich keine Kontakte, höchstens zur deutschen Schlägerszene (Rocker).

 Trotzdem machte mich dieser Tod betroffen: Am 31. Juli 1969, vor vierzig Jahren also, fährt ein elfenbeinfarbener Mercedes 220 SE mit Münchner Kennzeichen über die Landesstraße 149 bei Tellingstedt, Nordfriesland, und stößt, unter Missachtung des Stopp-Zeichens, in die Kreuzung mit der B203 vor. Von rechts donnert ein mit Gehwegplatten beladener LKW heran und rast ungebremst in den Mercedes, zermalmt diesen und fetzt die Trümmer 20 Meter durch den Straßengraben. Im Mercedes sterben Valeska Treitz und ihre am Steuer sitzende 27-jährige Tochter Doris, die ganz Deutschland unter ihrem Künstlernamen kennt: Alexandra. Alexandras Sohn Alexander, zum Unfallzeitpunkt sechs Jahre alt, überlebt wie durch ein Wunder fast unverletzt.

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Alexandras Mercedes nach dem Unfall

Ungefähr im Konfirmandenalter hatte ich mich in die schöne Alexandra ein bißchen verliebt, in ihr slawisch geprägtes Gesicht mit den traurigen braunen Augen und in ihre tiefe, rauchige Stimme, mit der sie zumeist, zur eigenen Erbitterung, unsäglich sentimentale, slawisch-folkloristisch eingebutterte Kitschlieder („Zigeunerjunge“, „Sehnsucht“, „Im frühen Morgenrot / Mein Freund der Baum“) sang, weil die Platttenfirma es so haben und den Markt derjenigen bedienen wollte, die noch den Ostfeldzug mitgemacht und im Wohnzimmer das Bild einer feurigen Zigeunerin überm Plüschsofa hängen hatten.

 Alexandra konnte mehr und hatte das Zeug zum Star. Schon als Kind hatte sie vielfältige Talente entwickelt, spielte Klavier und Gitarre, zeichnete später, designte Mode und modelte. Sie schrieb und komponierte selbst, kam in Kontakt mit Gilbert Bécaud, Ives Montand und Charles Aznavour und spielte in Brasilien mit dem großen Antonio Carlos Jobim („The girl from Ipanema“) – ihre beste Zeit.

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Von Fans errichteter Gedenkstein am Unfallort

Die Melancholie Alexandras war allerdings keine Pose. Dem Druck des Musikmarktes und der Plattenindustrie war sie nicht gewachsen; ihr Privatleben verlief unglücklich; der Liebhaber der geschiedenen alleinerziehenden Mutter erwies sich als Heiratsschwindler sowie als us-amerikanischer Geheimagent. Schwer zu sagen, was schlimmer war. Sie fühlte sich unter Druck, verfolgt, ausgelaugt. Ihr Vertrag mit der Phonogramm lief aus, die Zukunft schien offen und beängstigend. Auf dem Weg in den Sylt-Urlaub, der Erholung bringen sollte, schlug der Tod zu.

 Alexandras geheimnisvoller Nimbus, die zum Teil undurchsichtigen Umstände ihres Todes und das Bedürfnis der Menschen nach populären Mythen brachten eine Menge Verschwörungs-, ja sogar Mordtheorien in Umlauf, die unter Fans noch heute diskutiert werden. Wahr ist wohl keine; die junge Frau war erschöpft, übermüdet, gestreßt – den Rest besorgte der Zufall, der mit dem Tod befreundet ist. Schade. Armes, schönes, trauriges Mädchen. Alexandra hätte eine deutsche Chanson-Sängerin von Rang werden können. Dafür wurde sie zum Mythos.