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Aus dem Tagebuch eines Insomnikers (Unternehmens-Rater)

30. Mai 2011

Blauer Traum: Eine Ladung Drogerie

Heute wieder unruhige Nacht. Bei Hochsommer im Mai ja kein Wunder. Extrem langweiligen Traum gehabt: War mit meiner Ex-Frau (Ex seit 20 Jahren!) in Moskau. An einer belebten Trambahn-Haltestelle stiegen wir versehentlich in einander entgegenlaufende, jeweils hoffnungslos überfüllte Züge, sodass wir uns umgehend aus den Augen verloren. Quälende Frage (im Traum) – was jetzt tun? Aussteigen und auch in die entgegensetzte Richtung fahren? Aber wenn sie nun wiederum das gleiche ebenfalls tut? Dann verpassen wir uns ja wieder! Ausweglose Zwickmühle mit Ex-Frau erinnert mich an Samuel Becketts glorioses Dilemma: »Ein Mann liegt im Bett und möchte schlafen. Eine Ratte ist hinter der Wand, an seinem Kopfende, und möchte sich bewegen. Der Mann hört, wie die Ratte sich rührt, und kann nicht schlafen, die Ratte hört, dass der Mann sich rührt, und wagt nicht, sich zu bewegen. Sie sind beide unglücklich, einer rührt sich, und der andere wartet, oder beide sind glücklich, die Ratte bewegt sich und der Mann schläft.« – Ich denke, dass sie denkt, das ich denke, dass sie… usw. – Des weiteren (im Traum) tagelang ziellos durch Moskau gelaufen, das ein bisschen aussah wie Gütersloh oder Pinneberg. Meine Ex-Frau schließlich vor einem Moskauer Schnellgericht wieder getroffen. Man machte mir heftige Vorwürfe, was ich extrem ungerecht fand. (Warum kann denn die blöde Kuh nicht in den richtigen Zug steigen? Warum ist das denn meine Schuld?!)

Im Traum (?) dennoch depressiv geworden, weil ich immer alles falsch mache. Zerknirscht über meine heillose Unverbesserlichkeit nachgedacht; ein bisschen geweint.

 Nach schlafloser Nacht des Morgens mit viel adstringierendem Rasierwasser ein frisches Gesicht gezaubert, weil Besuch angekündigt war: die Polizei! Mensch, alles ist anders als früher: Eines Polizisten ansichtig, werfe ich nicht mehr mit Steinen oder ergreife die Flucht, sondern biete mit vorzüglicher Hochachtung Kaffee und stilles Wasser an! Der Wille zur Kooperation blitzt mir aus den bürgerlich gebügelten Knopflöchern! Geradezu freundschaftliches Gespräch mit dem uniformierten Drei-Sterne-General; er kam in vollem Ornat, als Geddo-Spezialist (zum Glück kein uninformierter Ununiformierter!) mit Schirmmütze und kleidsamen Sterne-Applikationen auf den Schultern.

Spielten dann zusammen Unternehmens-Rater: Was das wohl für ein Unternehmen sei, das neuerdings in meiner Ex-Stammkneipe residiere? Die Gäste kommen im Minuten-Takt, bleiben aber immer nur wenige Augenblicke im Lokal. Vielleicht, weil es da gar nichts zu trinken gibt? Wir Geddo-erprobten Kriminalisten kamen auf ein passendes Gewerbe und waren uns einig: Das wird ein Drogerie-Markt sein! Wieder stellte sich, diesmal in echt, die Frage: Und was jetzt tun? Der Mann will schlafen, die Ratten wollen sich bewegen. Ein Uniformträger kann ja nun schlecht in einen Coffee-Shop gehen und nach Gras fragen. Die sagen glatt, Gras wär grad aus! (Die Lösung des Problems wird aus ermittlungstaktischen Gründen nicht verraten!) Hoffe jetzt auf Razzien, weil, die finden bei uns im Viertel immer mit vollem Einsatz statt, mehr Bewaffnete als bei den Bad Segeberger Karl-May-Festspielen, Schwarzvermummte mit MPs usw., wie im Fernsehen. Wenn ich’s fotographiert kriege, lasse ich alle teilhaben! Großes Indianer-Ehrenwort!

Habe dem Beamten, leutselig geworden, überflüssigerweise noch gebeichtet, dass ich vor dreissig Jahren selber gekifft hätte; unsicher, ob das schon verjährt ist, hab ich vorsichtshalber hinzugefügt, ich hätte das Zeug aber nie vertragen. Und das stimmt wirklich! Andere hatten von Dope & Gras die herrlichsten Bewusstseinsexaltationen, lediglich mir wurde nur schlecht, dann wurde ich schläfrig und am Ende hatte ich tierischen Hunger. Wegen solcher Effekte eigens teure Drogen zu konsumieren, halte ich heute für unökonomisch. Habe eben gelernt, mit meiner Behinderung zu leben (THC-Unverträglichkeit).

Sonst an der panisch japanisch-spanischen Front alles ruhig. Still schmelzen die Kerne, und die Gurken gurken halt vor sich hin, oder, um mit Lewis Caroll („Alice im Wunderland“) zu sprechen: Sie rottern gorkicht im Gemank. – Sind wir noch zu retten? Wir sind ja die Prügelknaben des Erdballs: Man ascht mit seinen Vulkanen auf uns herum, schickt uns Fisch-Stäbchen, die im Dunklen leuchten und eine EHECrise haben wir auch noch! Wie es in Kommentarspalten gerne heißt: „Armes Deutschland!“

Der Tag ist rum. 23.00 Uhr, und noch immer 26° C. Ein afrikanischer Wind weht. Ist DAS der Grund, warum GERADE JETZT soviel Schwarze auf der Straße sind? Eine Frage, die ich ohne Polizei klären muss. Genauso wie das Problem, ob das Schlafgesetzbuch mir für heute erholsamen Nacht-Schlaf annonciert. Nach der doofen Moskau-Tour wär das mehr als gerecht.  Na ja, zur Not nehme ich mir einen richtig teuren, guten Schlafverteidiger, wie der wüste Kachelmann, der ja bis morgen (und danach, wie es aussieht, mangels Beweisen ohnehin) als unschuldig zu gelten hat.

Liebes Tagebuch, entschuldige: So viele Fragen, so wenig Antworten. Und apropos Drogen: Aus Serbien-Montenegro avisiert man mir eine frisch eingetroffene apotheken-frische Lieferung Viagra. Soll ich zuschlagen? Ach egal, ich mach eh alles falsch! Nur blöd, dass ich deswegen nicht schlafen kann… Ich seh schon, dieser Text findet keine Pointe. Tut mir leid, Ihr Lieben! Wieder ein ereignisreicher Tag, an dem nichts passiert ist. Aber wenn mal echt was los ist, Leute! Dann seht Ihr hier Sterne splittern! Bis dahin: schlafbedürftig, Euer Magister K.

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Sudden death / over and out

26. Juli 2010

The day after – Aufräumen in der Todesfalle (Foto: apn)

Ganz plötzlich, als wollte das Wetter auch noch seinen Kommentar abgeben, ist es grau und kühl geworden in der Stadt, die sich, wie ein Kind, das man beim verbotenen Spiel ertappt hat, eilends wieder abgeschminkt. Die Stimmungskanonen schweigen, die Spass-Schlacht ist vorbei, das Wort hat die Staatsanwaltschaft. Ein müder, gleichgültiger Regen spült die Spuren des Horrors davon. Wenige versprengte TV-Journalisten stehen noch pflichtgemäß „vor Ort“ herum und stochern lustlos im Geröll ihrer leeren Worthülsen. Daß es nichts zu sagen gibt, ist natürlich keine echte Nachricht. Das Leben tut derweil, was es notgedrungen immer macht, es geht weiter und wälzt seine Lawine aus Dummheit, Schmerz, Trivialität und dem üblichen Ereignisschrott vor sich her. „Man kann nicht weitermachen…“, sagt Samuel Becket, „… man muß weitermachen. Man kann nicht weitermachen.“

Der übliche, von Selbstgerechtigkeit nie freie Volkszorn gegen „die da oben“ tobt sich, nachdem er gestern noch gegen OB Sauerland, der am Unglücksort Blumen niederlegte, tätlich wurde, nunmehr vorwiegend im Netz aus. Es herrscht, sei es aus Ohnmacht, sei es auch aus abgründiger Lust auf Rache, ein bisschen brenzlige Lynch-Stimmung. Man will Köpfe rollen sehen, rituelle Bußgesten, Rücktritte. Würden allerdings alle zurücktreten, die das eigentlich müssten, gäbe es nach hinten heraus schon wieder Stau und Massenpanik. – Ich spüre die dumpfe Wut auch in mir selbst, obwohl ich gut weiß, dass „rollende Köpfe“ lediglich eine theatralische Beschwichtungsmaßnahme fürs vergessliche Publikum darstellen. Solche Bußgesten sind nicht weniger hohl und albern als das hilflos-mechanische Gerede von „Tragik“ und „Tragödie“.

Die Toten von Duisburg sind das Resultat eines Systems, eines unüberschaubar komplexen strukturellen Geflechts von Instanzen, Behörden, Parteien, Medien, Unternehmen, von ökonomischen und Marketing-Interessen, von kommunaler Geldnot und opportunistischer Durchstecherei, überprofessionalisiertem Expertentum und demokratiebedingten Dilettantismus, von Bürokratismus, systemimmanentem Erfolgszwang, politischer Strategie und korruptem Kompromißlertum. Ein System, in dem die meisten Akteure Mittäter und zugleich auch Opfer sind – Opfer politischen Drucks, ökonomischer Erfolgspflicht und, gewiß, auch persönlicher Geltungssucht und narzisstischer Selbstüberschätzung. Die bockigen, verängstigten Funktionärs-Individuen, die man jetzt widerstrebend ins Blitzlicht der Pressekonferenzen zerrt, wissen nicht recht, wie ihnen geschieht: Sie haben doch nur ihren Job gemacht! Und vermutlich stimmt das sogar.

Oberbürgermeister Adolf Sauerland ist ein jovialer, weicher, empfindsamer Mann aus der Region. Die natürliche Arroganz eines intellektuellen Überfliegers geht ihm genauso ab wie wohl auch der von Berufspolitikern entwickelte undurchdringliche Panzer aus Zynismus und Abgebrühtheit. Er spricht mit zittriger, brüchiger Stimme, hörbar gequält, mühsam nach Worten suchend. Er ist ein gebrochener Mann. Sein Rücktritt wird eine Frage der Zeit sein. Wird damit irgendetwas gewonnen werden? Altkatholische Bußrituale („mea culpa, mea maxima culpa“) ändern nichts an den Strukturen, und nichts am angeblich unverzichtbaren Motor unserer Gesellschaft – der Profitgier; im Gegenteil, die Rituale gehören zum  System dazu.

Mir persönlich, aber das mag am Alter liegen, war, von der Musik mal ganz abgesehen, die obsessive Megalomanie, der narzisstische Körperkult und die aufgesetzte Party-Orgiastik der Loveparade immer etwas unheimlich – aber zweifellos ist sie, gerade in ihrer Kommerzialisierung, ihrer karnevalesken Ekstatik und ihrer drogengestützten Exaltiertheit ein stimmiger Ausdruck unserer Zeit. Zu den ganz wenigen Privilegien älterer Jugendlicher (Ü50) gehört, diese Zeit nicht mögen zu müssen.

Der Tod ist nie tragisch – oder er ist es immer und zu jeder Zeit. Wir entgehen ihm nicht, so laut wir die Musik auch aufdrehen, so viel wir auch tanzen, trinken und gegen ihn angrölen. Irgendwann muß jeder von uns die Party verlassen. Daß das Ende für elf junge Frauen und acht Männer so brutal früh und so plötzlich kam, zerreißt uns das Herz.  Wir trauern dabei auch über uns selbst: Die Zerbrechlichkeit und Hinfälligkeit unseres Lebens wurde uns einmal wieder drastisch vor Augen geführt. Die Loveparade, so konnte man an ihrer Inszenierung in den Medien (EinsLive) fasziniert beobachten, lebte vom frenetischen Jubel über sich selbst, die eigene Jugend, Schönheit, sexuelle Potenz und subjektive Unsterblichkeit. Orgiastische Party-Exzesse gehören zu unseren kulturstiftenden Ventilen: Wir hielten es sonst wohl nicht aus. – Ich glaube nicht, dass solche Veranstaltungen künftig nicht mehr stattfinden. Ich glaube auch nicht, dass wir etwas lernen. „Man kann nicht weitermachen. Man muß weitermachen…“

Über Samuel Beckett

26. Mai 2010

Samuel Beckett 1906-1989 (Foto: Jane Brown)

Bestseller waren Becketts Romane gerade nicht, sind es auch zu keiner Zeit geworden. Es sind Romane, wie das Jahrhundert sie verdient. Beim breiteren Publikum eilt ihnen der Ruf voraus, schwierig, langweilig, sogar unlesbar zu sein. Ein Vorurteil, das sich bei der heutigen Lektüre nicht unbedingt bestätigt. Becketts Romane sind voll von abgründigem, rabenschwarzem Humor, sie entfalten eine ganz eigentümliche, bizarre Poesie und der illusionslose Sarkasmus des Autors erlaubt diese ungerührten, hellsichtigen und zwingenden Einblicke in das Groteske, Heillose und Verstörende der menschlichen Existenz, wie sie zuvor nur Dostojewski und Kafka zustande gebracht haben. Beckett ist im Grunde ein großer Realist: seine Helden, Lebensversehrte und Halbkrüppel, sind allesamt so gut wie tot, stammeln eine Menge albernes sinnloses Zeug und begehen kraftlose, konfuse Handlungen, die zu nichts führen – sind sie also nicht wie du und ich? Der Blick auf die condition humaine ist nüchtern und unverstellt, aber immer hochkomisch. »Nichts ist komischer als das Unglück«. Man kann die Welt anders ansehen als Beckett – aber sicher nicht ehrlicher und illusionsloser.

Das Personal des Becketschen Prosawerks besteht aus Virtuosen des Unglücks, seltsam eigensinnigen, gleichmütigen Vergeblichkeitsartisten und Sinnverweigerern, verkrüppelt, von Schmerzen geplagt – Randgänger und komische Heilige, um ihr Ziel gebrachte Sucher und seit Ewigkeiten Wartende. Becketts frühe Romane sind Meisterwerke artistischen Sprachwitzes, abgründige Grotesken von einem Humor, so schwarz – um eine Lieblingssprachfigur von Beckett zu benutzen –, so schwarz also, daß schwarz schon nicht mehr das richtige Wort ist…

JETZT NEU IM „denkfixer„-BLOG (http://reinhardhaneld.wordpress.com):

Ein Vortrags-Text, der die Prosa-Werke Samuel Becketts vorstellt und erläutert – als PDF-Datei zum kostenlosen Downloaden!

News from the ghetto. Die Stimme des Volx

12. August 2009
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Sitz der Uno. Amtssprachen sind hier Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch. In meiner Straße würden diese Sprachen zu Verständigung reichen...

Obschon ich aus beruflichen Gründen oft einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken versuche – ich weiß ja auch nicht ALLES! Um Euch mühseliges Telefon-Jokern, Googeln oder Studieren an der Wikipedia-Uni zu ersparen, kläre ich drei Fragen vorab.

 Wer war Yoshida Kenkô? Genaues weiß man nicht. Vermutlich war er Offizier der kaiserlichen Leibgarde oder der Palastwache, im japanischen Mittelalter. Weil er das schwerterschwingende Samurai-Ding irgendwann leid wurde, quittierte er jeglichen Dienst und wurde buddhistisch-taoistischer Mönch. Als er starb, fand man in seiner einsamen Berghütte eine Menge von Zetteln, achtlos an die Wand gepinnt: „Betrachtungen aus der Stille“ nannte man diesen Zettelkonvolut – heute eines der berühmtesten Bücher der japanischen Literaturgeschichte. Kenkô war ein Virtuose in der Kunst des Verschwindens; er lobte die Schönheit des Vergänglichen und spottete (mit LEISER Ironie!) über den menschlichen Ehrgeiz, mehr sein zu wollen als eine Eintagsfliege.

Und Samuel Beckett? Hochdepressiver Dubliner, frankophil, Experte für Whisky, Marcel Proust und Suizid durch Getränke-Mißbrauch, Resistance-Kämpfer gegen die Nazi-Besatzung, Autor unsterblicher Theater-Knaller („Warten auf Godot“, „Endspiel“, „Glückliche Tage“) und von genialen Erzählungen und Romanen („Mehr Prügel als Flügel“, „Molloy“, „Malone stirbt“, „Der Namenlose“) , die das breite Publikum langweilig und/oder „schwierig“ findet, die aber in Wirklichkeit zum Brüllen komisch sind, jedenfalls wenn man ein Faible für die Komik von Beerdigungen, Verkehrsunfällen, mißglückten Selbstmordversuchen und Katastrophen aller Art pflegt. Beckett, der immerhin den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte, starb 1989 einsam und unbeachtet in einem Pariser Altenheim – alle seine Fans (ich zumindest!) hatten gedacht, er sei schon lange tot! Beckett war ein weiser Mann: Er wusste, daß das Leben zwar tragisch, aber zugleich auch unerträglich albern ist.

Nun die 100.000,00-Euro-Frage: Wer war Ion Tichy? Na? Naa? Oooooh neiiiin! Tut mir leid!  Falsch! Schade! Das war NICHT der erste Trainer des blond-bewimperten Tennis-Idioten Boris Becker! Der hieß Ion Tiriac! – Ion Tichy ist vielmehr eine literarische Figur, erfunden vom polnischen Philosophen, Literatursoziologen, Futurologen und Romancier Stanislaw Lem. Ion Tichy ist „Weltraumpilot“, ein ausgewiesener Bastler, Pfuscher und Schwadroneur, der auf einer extrem erdfernen Umlaufbahn sehr, sehr sonderbare Abenteuer erlebt. Ein paar der skurrilen Ion-Tichy-Geschichten wurden von einem deutschen anarcho-independent-orientierten Filmstudenten-Kollektiv verkurzfilmt, und ausgerechnet die alte Fernseh-Tante ZDF war so wahnsinnig, das bizarr-psychodelische Machwerk – wenn auch zu nachtschlafener Zeit – zu senden! In den schräg-witzigen Kurzfilmen sieht Ion Tichys Raumschiff von innen aus wie meine derzeitige Junggesellen-Zweiraumwohnung, und von außen ähnelt es bedenklich einer Presskaffee-Kanne oder einem Haarfön aus den 80ern. Ion Tichy erzählt seine Stories aus dem Off, merkwürdigerweise in einem extrem gebrochenen, künstlich verfremdeten polnisch-deutschen Idiom („’Chab ich gemacht Verbastelung mit elektro-Herd, so ist jetzt Küchenmöbelei gleichzeitig Beschleunigkeitssoperator von Raumschiff, sofern ich drücken richtige Knopf von E-Herd-Energiesparlampe “), – und sehr viel Logik haben die Geschichten auch nicht. Ion Tichy kommt auf seinen Weltraumreisen nur selten in Erdnähe, und wenn, befällt ihn nicht Heimweh, sondern eher bestürztes Befremden.

So. Der Gewinn aus diesem ermüdenden Schulungskurs kommt jetzt: Ihr versteht nun mühelos, wenn ich schreibe: Ich fühle mich derzeit wie eine Mixtur aus Yoshida Kenkô, dem mittleren Sam Beckett und Ion Tichy! Aus der Realität bzw. wenigstens der alltäglichen Normalität katapultiert, wurde ich an den Rand einer Umlaufbahn geschossen, von der ich nicht ahnte, daß sie jemals  meine eigene Neighbourhood werden würde! – Es heißt ja immer, in Duisburg lebten Menschen aus 120 Nationen. Früher wollte ich das kaum glauben, heute schon, denn das sind alles meine neuen Nachbarn in der Straße. Man kriegt gar keinen Überblick. Herr Ezme, Alleskönner, Faktotum und melancholischer Philosoph, drückt es so aus: „Die meisten Türken hier sind noch nicht mal welche!“ Und das stimmt wohl auch, er muß es wissen. Übrigens gibt es bei mir in der Straße noch Restbestände des waschechten Duisburger Montan-Proletariats. Und dieses ist immer noch so liberal wie vor 30 Jahren! O-Ton: „Isch hab donnix gegen Türken! Isch will die bloß nich im Haus haben, isch trau die Brüder nich… Außer natürlich den Ahmet und den Herr Ezme, die sind ja vernünftich. Und noch die Familie Karatas mit ihre ganzen Blagen von nebenan. Aber die sind in Urlaub bei sich zuhause inne Türkei…“

Eindeutig türkisch sind die drei Holzkohlen-Grills an der Kreuzung Wanheimerstraße / Ecke Eigenstraße, die sich alle drei „Urfa Oçakbaşı“ nennen, aber verschiedene Besitzer haben. Über zwei dieser begnadeten Etablisments habe ich schon berichtet. Weil von diesen eines leider ausgebrannt ist (Herr Ezme sagt, wahrscheinlich waren die sogar zu blöd, ’ne Propangasflasche anzuschließen), bin ich jetzt mit der Gattin zum dritten, kleinsten „Urfa Oçakbaşı“ gegangen. Ich glaub, wir sind die einzigen Deutschen, die hier schon mal essen, jedenfalls kannte man mich bereits. Eigens würde der besitzereigene Opa („Dede“) umgesiedelt, damit wir noch einen Tisch auf dem Bürgersteig besetzen konnten. Sofern es einen nicht stört, daß auf der Straße die Großfamilienkindergeld-finanzierten Daimler vorbeidonnern und der Nachwuchs der 120 Nationen einem um die Füße wuselt, ist es ganz reizvoll, hier einen Hackspieß, einen Lahmaçun oder einen Kuzu Şış Dürüm (überraschend hervorragendes, zart saftiges Lammfleisch!) zu schnabulieren. Die Bedien-Frau spricht nur türkisch; ich hab aber nicht verraten, daß ich sie verstehen kann. Auf Bierchen, Wein oder Rakı muß man auch hier Verzicht tun, da sind die Islamerer dagegen.

Aber selbst dies ist der liberale Duisburger Proletarier wohlwollend zu würdigen bereit. „Weisse, die Türken“, gibt mein Nachbar Pitti zu bedenken, „die siesse wenixens nich mitter Bierflasche auffer Straße, un die pullern denn aunich im Suff inne Büsche, weil da ihre Fraun sitzen und pichnicken…“ 

Wer die anderen beiden Teile der Trilogie über türkische Holzkohlen-Grills lesen möchte, hier die Links noch mal:

http://www.qype.com/place/639350-Urfa-Alt-n-i-Ocakba–Duisburg

 

http://www.qype.com/place/639541-Has-Urfa-Ocakbba–Duisburg