Im milden Westen viel Neues: Heuer nix mit Winter. Definitiv Eis-Abstellgleis: Winter fährt hier nicht mehr. Wir bitten um Verständnis. Babyblau und vertraulich zwinkert der Stadthimmel aus windzerzausten flauschigweißen Wolkenwindeln. Sonne brilliert als Debütantenball. Das ortsübliche Kleingeflügel macht schon Höllenlärm, es meiselt, finkelt und funkelt auf dem Balzplatz, als gäbs kein Morgen, bzw. eben schon ganz viel Morgen, Frühling, Aufbruch usw., Elstern in Paarungsplanung ziehen aufgeregt keckernd gen Norden, zu IKEA, Naturholzzweige fürs Nest. Ich steh derweil auffm Balkong, rauch mein Kaffee und fühl mich irgendwie so Rilke, vielleicht auch bisschen Benn dabei. Wieder mal leide ich unter meiner Unflexibilität: Ich hasse es, wenn ich mich auf etwas einstelle, und dann kommt alles ganz anders. Schon im November hatte ich den Kopf grottentief zwischen die Schultern geschraubt, doppelt Pulloverpower, orntlich Rotwein eingekellnert, Streusalzstreuer aufgefüllt, vorsorglich Depression (SAD – seasonal affective disorder) eingeübt – und was ist? Keine Nacht traut sich unter Null, prunkt dafür aber mit Sternbildern, die ich gar nicht kenne, im Park rotieren die Rentner-Rollatoren um blühende Japankirsche, grellbunte Velozipedisten rauschen durch den Rajon, und keiner sagt mir, wie diese Jahreszeit hier heißt.
Aber mir sagt eh keiner was. Menschen, die mir nahestehen, verabscheuen mich in der Regel, schneiden schnöde Schnuten und meiden mich nach Kräften. Eine unerklärliche Anziehungskraft übe ich hingegen, wie, ich schwör, immer, immer schon, solange ich denken kann, nur auf Hunde, kleine Kinder und Irre aus. Kind und Hund wird man ja wohl noch sagen dürfen? Irre ist vermutlich nicht pc. In der Sache stimmt es aber: Kaum sitz ich mal auf der Parkbank, legen mir wildfremde Hunde treuherzig die nasse Schnauze aufs Knie und Kleinkinder strecken mir hoffnungsvoll schwanzwedelnd ihre klebrigen Wurstfingerchen entgegen, um sich herzen zu lassen. Die Tugend entschlossener Höflichkeit ist hier gefragt; nicht immer beherrscht man sie ohne Beanstandungen. Was die Verpeilten, Verstörten, Psychonauten und Schizonosen an mir finden, weiß ich nicht. Sehen sie in mir einen Seelenverwandten? Eigentlich habe ich nichts Therapeutenhaftes an mir, im Gegenteil. Mit aus Eiszapfen gebildeten Buchstaben steht auf meiner Brust: Hier bitte keine Herzen ausschütten! Nützt es was? Kaum.
Eine treue, mir allerdings gänzlich unbekannte und bestürzend schwerverwirrte Freundin etwa, eine reichlich bizarre Lady Gaga aus den kalten Weiten des Internetzes, schickt mir seit Wochen und Monaten pro Tag oder Nacht ca. ein Bäckerdutzend Mails mit Verwünschungen, Drohungen, Obzönitäten sowie knapp 60% absolut unverständlichen verquasten Verbalquatschtextmüll. Stalking on the wild side: Brieffreundschaft auf blackmail.de. – Was soll man da machen? „Kann man da denn nix machen?“ fragt die Gattin stirnrunzelnd, „Polizei oder so?“ Ich resigniere pantomimisch. „Oder deine Russenfreunde?“ insistiert sie. „Also erstens“, stelle ich richtig, „sind das ja nun mal keine Russen, sondern bloß Serben, und außerdem werde ich ja wohl, was die mir schulden, nicht für die Einschüchterung einer ungezogenen Pampelmuse verplempern…“ – Sie schüttelt missbilligend den Kopf. – „Du weißt, Liebelein, ich bin Taoist, da muss man nicht immer was MACHEN“ füge ich noch hinzu, ganz Oberschulrat Schlaumeier. „Und was MACHST du, wenn du NICHTS machst?“ fragt die Gattin, die nicht umsonst Kriminalhauptkommissarin auf der Visitenkarte stehen hat. „Ich lese ergeben den ganzen Schrott weg, als sei das meine Aufgabe, für die ich auf der Welt bin, wackle bekümmert mit dem Kopf und antworte … nichts.“ Ihr „Aha!“ nahm ich mal als bedingte Zustimmung. Wie ich nämlich mittlerweile erkannt habe, beruht gedeihliches soziales Miteinander auf Duldsamkeit und Nicht-so-genau-Hinsehen.
Ich fürchte, ich werde herzensliebe Künstlerfreunde verprellen, wenn ich behaupte, genaues Hinsehen wird überschätzt. Man liegt stundenlang auf dem Bauch im Garten, kiloschweres, schweineteures optisches Gerät im Anschlag und: sieht genau hin. Was sieht man dann da überhaupt? Besagtes singendes Kleingefügel, wenn man schnell genug ist, mit dem 200er aber auch schon Vertreter der Kerbtierwelt, und mit der nächsten Anschaffung dann wird man das Leben der Mikroben, Fibrillen, Spirillen, Mycoplasmen, Spirochaeten, Clostridien und anderer Repräsentanten des Prokary0tentums ans Licht zerren. Will man das denn? Dieses ganze Geschmeiß, Geziefer und Geschnetz?
Die alte Mume Wikipedia wispert: „Ein Mensch besteht aus etwa 10 Billionen (1013) Zellen, auf und in ihm befinden sich etwa zehnmal so viele Bakterien.“ Schon bei der Vorstellung, wie 100 Billionen Exemplare eklen mikrobiellen Gewürms „auf und in“ mir herumwuseln, wird mir blümerant, da brauch ich gar nicht noch genau hinsehen! Frauen sind nach meiner von Bonhommie gesättigten Erfahrung ja am schönsten bei Kerzenlicht, Sonnenuntergang, etwa 1,80m Abstand, ohne Brille und durch ein Glas Spätriesling betrachtet. Beim candle light dinner schreit doch auch keiner: Machma das Neonlicht an, ich muss da mal genau hinsehen! Ich persönlich liebe es verschwommen, verschleiert, verwischt und verhuscht. Eben so aus den Augenwinkeln bloß. Übrigens: Männer sind am schönsten im Dunklen. Überhaupt Männer! Man kann nie mit ihnen reden! Und wenn, dann brechen sie das Gespräch mitten im.
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