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Birnbaums Früchte…

25. März 2009
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Feuerwerks-Hauptmann der 14. kaiserl. Artillerie-Brigade R. A. W. Haneld (1842-1910), Träger u. a. des Roten Adler Ordens 4. Klasse

 

In memoriam:

Hermann Tietz (1837-1907)

Noch immer wühle ich in alten Familienpapieren, betrachte ausgeblichene Photographien und dann Daguerrotypien von preussischen Militärs, die meine Vorväter waren, blättere in Offizierspatenten und Ordensurkunden, Personaldokumenten, Passierscheinen und Zeugnissen. Ein Schulzeugnis von 1854 bescheinigt meinem Urgroßvater, zwar „gut“ in Religion und Singen, indes nur bloß „sehr mittelmäßig“ in Geometrie und Zeichnen gewesen zu sein – er wurde später Artillerieoffizier, Topograph und Karten-Zeichner. Mit dem Roten-Adler-Orden ausgezeichnet für die Belagerung und Beschießung von Paris im Krieg 70/71. Schau an, sein Polnisch war auch nicht gut! Polnisch?

Ja. Meine Familie stammt väterlicherseits aus Birnbaum, einem Kleinstädtchen, das heute Międzychód heißt und in der Woiwodschaft Großpolen liegt. Seit mindestens 1772 waren meine Vorväter dort ansässig. Ein paar von ihnen, z. B. die Urgroßonkel Wilhelm und Christoph Reinhold, wanderten nach Amerika aus, nahmen auf seiten der Nordstaaten am Bürgerkrieg teil, fielen vielleicht (ich kann das Träumen und Mystifizieren nicht lassen!) möglicherweise sogar Indianerüberfällen zum Opfer. Jedenfalls hat bislang kein reicher Onkel aus Amerika vor meiner Tür gestanden, um mir sein NewYorker Geldhaus zu vererben. Ich weiß auch gar nicht, ob ichs nehmen würde. – Zurück zu Birnbaum, das vom Wiener Kongreß 1815 Preußen zugeschlagen wurde und unter deutscher Herrschaft bis 1919 blieb. Gern würde man sagen, Polen, Deutsche, Katholiken, Protestanten und Juden hätten in Birnbaum friedlich zusammengelebt. Doch es scheint Spannungen gegeben zu haben, Repressionen, Pogrome, Aufstände. Seit jeher war Polen ein Beutestück der europäischen Großmächte gewesen, die an ihm herumzerrten wie Hyänen an einer toten Ziege.

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Vor der "Arisierung"

Fünf Jahre vor meinem Urgroßvater, 1837, wird im 6000-Seelen-Städtchen Birnbaum einer seiner berühmtesten Söhne geboren: Hermann Tietz. Hermann und seine Neffen Leonhard und Oscar (geb. 1849 und 1858 in Birnbaum),  Sprößlinge einer deutsch-jüdischen Kaufmannsfamilie, werden als erste in Deutschland die neue amerikanische Erfindung der Kaufwarenhäuser umsetzen und verwirklichen. Hermann Tietz baut mit Fleiß, Intelligenz und unternehmerischem Geschick den Hertie-Konzern auf, Leonhard und Oscar Wertheim und den Kaufhof-Konzern. Weltstädtische Konsumpaläste wie das Wertheim am Alexanderplatz, das KaDeWe oder das Alsterhaus am Hamburger Jungfernstieg lassen die Metropolen des Deutschen Reiches Anschluß an Paris und London finden.

Der Erfolg der Tietzes weckt den Haß der Nazis und die Begehrlichkeiten der deutschen Banken. Schon lange hetzen die Faschisten in Berlin gegen die „Judenkaufhäuser„. Kaum an der Macht, organisieren sie am 1. April 1933 einen „BoykottTag„. „Kauft nicht bei Juden! Rettet den deutschen Mittelstand vor dem Weltjudentum!“ heißt es auf Schildern. Banken ziehen Kredite zurück, die Presse hetzt, Kunden und Geschäftsfreunde werden durch Terror eingeschüchtert. Vor den Warenhäusern kommt es zu blutigen Zusammenstößen. Plünderungen drohen. Jetzt geht es Schlag auf Schlag, im Eiltempo. Die jüdischen Direktoren werden hinausgeworfen, die Besitzer enteignet. Die „Arisierungs„-Geier kreisen über den Kaufhaus-Konzernen, die fast 40.000 Menschen Arbeit geben. Die drei deutschen Großbanken, die Deutsche, die Dresdener und die Commerzbank, treiben die Tietzes in den Ruin. Sie müssen ihre zig Millionen schweren Aktienpakete für ein Spottgeld an „arische“ Interessenten (u. a. den berüchtigten „Kaufhaus-Räuber“ Helmut Horten) abgeben. Den kümmerlichen Erlös von 800.000 Reichsmark müssen sie auch noch zurücklassen, als sie noch 1933 Hals über Kopf aus Deutschland fliehen müssen. Schon am 5. April 1933 sind alle Warenhäuser in „arischem“  Besitz – und die Kredite der drei deutschen Großbanken sprudeln wieder…

Hermann Tietz und seine beiden Neffen haben diesen geschichtlich beispiellosen, durch Staatsterrorismus gedeckten Milliardenraub an ihrer Lebensleistung nicht mehr mit ansehen müssen. Hermann Tietz starb 1907 und liegt auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee begraben. Wie ins Leben, so folgte ihm mein Urgroßvater ihm auch in den Tod mit kurzer Verzögerung. Sein Sohn, mein Großvater, krepierte 1916 nach der Marne-Schlacht als 40-jähriger im Antwerpener Lazarett. Sein Sohn wiederum, mein Vater also, hat ihn nicht mehr kennengelernt. Birnbaum, inzwischen deutsch- und judenfrei, hat alle seine nicht-polnischen Bewohner vertrieben. Es soll heute, dank wunderschöner landschaftlicher Umgebung, ein florierender Ort sein, ein Dorado für Angler-Touristen.

Heute ist alles längst Geschichte. Die Toten sind begraben. Das Leben, wie man so sagt, geht weiter…

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