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Albtraumatlanten

4. Februar 2012

Weiße Flecken in Schwarzafrika

Ich besitze als Erbstück einen gediegenen, sommernachtsblauen Atlanten von 1905, in dem die Welt noch weiße Flecken der Unerschlossenheit enthält, vor allem in Schwarzafrika. Es handelt sich, obwohl er bescheiden unter dem Titel „Handatlas“ firmiert, um einen fast hundsgroßen, mit Goldprägung versehenen 40-Pfünder, über dem zu träumen einen massiven Ohrensessel und sehr starke Knie erfordert. Manchmal weiß man bei einem weißen Fleck auf der Karte nicht auf Anhieb, ob die entsprechende Gegend noch nicht erforscht oder bloß unbewohnt ist. Mich würde dies speziell für das Land Oklahoma interessieren, denn dorthin wanderten die Gebrüder Reinhold und Christoph H., meine Ur-Ur-Großonkel väterlicherseits, aus, und zwar aus Birnbaum, woher sie gebirtich; heute liegt das verträumte Örtchen an der Warthe-Schleife, um Juden und Deutsche sorgsam bereinigt, in der Woiwodschaft Wielkopolskie, Rzeczpospolita Polska, und heißt nun Międzychód. Damit aber genug der geographischen Pedanterien!

Meine beiden Ahnen sind, mangels Wildwesttauglichkeit, leider umgehend, kurz nach ihrer wohlbehaltenen Ankunft, in der Prärie verschollen. Verschollen, das ist übrigens 2. Partizip von „verschallen“, ein Wort, das längst nicht mehr erklingt. Es ist also seinerseits verschollen, das schöne Verb. Ich male mir gern aus, dass die auswanderlustigen Brüder von edelwilden Indianern der Marke Sioux massakriert wurden. Nicht dass ich ihnen das direkt gewünscht haben möchte, aber es wäre irgendwie romantisch und verliehe einem doch ein gewisses Flair, wenn man auf Partys, nachts in der weinseligen Küchenrunde, von einer Familiengeschichte zu erzählen wüsste, in der es von Tragischem und Exotischem wimmelt bzw. strotzt, z. B. von skalpierten Ur-Ur-Großonkeln väterlicherseits. Man wäre berechtigt, kurz und männlich beherrscht aufzuschluchzen, wonach einen möglicherweise Frau Frerkes an den wogenden Busen risse und einem mütterlich tröstend über den Kopf striche!

Wenn ich heute von der Lust überfallen würde, meinem Vaterland den Rücken zu kehren, fände ich Zuflucht auf den Hebriden, wo ich ein Stück Land besitze, einen Quadratmeter Schafsnasengrasnarbe in Küstennähe, eine Parzelle im Nirgendwo, die ich mal als Werbe-Gimmick drauf zu bekam, als ich im Internet eine Flasche sehr teuren schottischen Whiskys erstand. Er schmeckte ungeheuer authentisch nach verbranntem Torf, Salzwasser und Schafsexkrementen – ein Schluck, und man wähnte sich auf den sturmzerzausten Hebriden! Was man trinken muss, um da wieder wegzukommen, ist pauschalschriftlich nirgends erwähnt; man kann sich also ganz individuelle Trinkrouten ersinnen, zum Beispiel mit der MS Verpoorten nach Eierland, von dort den Rumgrogzug nach On-the-Rocks nehmen und dann gemütlich mit dem Riesling-Express wieder nach Hause in den Ohrensessel, wo man traumtrunken erwacht, um sich gnadenreich vage an erlittene Reise-Unbill zu erinnern.

Ein vierzigpfündiger, fast hundsgroßer Atlas eignet sich nicht zum Handgepäck, weswegen ich ohne ihn unlängst eine Traumreise in die Residenz Moers unternahm, um Fleisch und Hemden zu kaufen, ein Marktflecken, der in meinem Traum freilich nicht nur Ausmaße ungeheuerlichster Unübersichtlichkeit angenommen hatte und mit exaltiert Walt-Disney-haften Sakralbauten vollgestellt war, sondern auch einen labyrinthischen Grundriss besaß, so dass ich mein Fahrrad nicht mehr fand und den Weg verlor; unter anderem begegnete mir ein Mensch mit einem grässlichen, rosa-schleimig glitzernden Elefantenfuß, ferner, in einem Kinderwagen, ein Kopf ohne Körper, der jämmerlich vor sich hin greinte, sowie eine Menge durchweg freundlicher Einwohner, die mir den Weg erklärten, nur jeweils immer einen anderen. Wäre ich nicht vom dringlichen Dingdong der Türglocke erwacht, ich würde heute noch, die Hände voll rohem Fleisch und flatternden Hemden, in Moers herumirren.

Als ich jedoch nichtsahnend die Tür öffnete und davor meine beiden in karierte Reise-Plaids gehüllten Ur-Ur-Großonkel standen, mit blutüberströmten Schädeln und einem verlegenen Grinsen im Birnbaumer Bauerngesicht, da schwante mir freilich, der Traum sei noch nicht zu Ende, sondern drohe zum Alb auszuarten.

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