Posted tagged ‘Nietzsche’

Differenz und Wiederholung

28. April 2012

Das bunte Treiben der Dinge!

Manchmal muss ich zur Arbeit aus dem Haus und die Dinge bleiben unbeaufsichtigt daheim und beginnen ihr notorisch obskur-klandestines, tantrisches Treiben. Abgesehen von einer gewissen gespenstischen Vermehrungslust, die man ihnen aber als erwiesenem Naturtrieb kaum verübeln kann, auch wenn sie regelmäßig damit meinen Lebensraum beengen, sind sie mir nicht eigentlich feindlich gesonnen. Im Gegenteil, sie beobachten gewissenhaft, was ich tue und versuchen es dann schlecht und recht nachzuahmen, unbeholfen zwar und drollig tollpatschig, aber guten Willens. Offenbar folgen die Dinge dabei gewissen, nur ihnen begreiflichen Moden. Momentan ist bei ihnen das „Stapeln“ total angesagt.

Wie es zuging, mag der Leibhaftige wissen; wohl hatten sie vielleicht ein ums andre Mal einen Blick darauf erhascht, wie ich zu Studienzwecken vorübergehend ein Fuder oder Bäckerdutzend Folianten akkurat auf den Arbeitstisch türmte, um den dicken Haufen Weltwissen des weiteren dann ordentlich abzuarbeiten, was sie dann aber offenbar, wer blickt schon in die Seele der Dinge, anscheinend dermaßen amüsiert hatte,  dass sie meine vermeintliche Hochstapelei als Anregung begriffen, sich nun ihrerseits beflissen und selbsttätig zu „stapeln“, wie es ihrer beschränkten, kindlichen Einbildungskraft frommte. Freilich lief ihnen, Dingen mangelt es gelegentlich an kognitiven Kompetenzen, das Unternehmen einigermaßen aus dem Ruder, dergestalt dass sie statt ordentlicher Stapel ein heilloses, wenn auch annähernd irgendwie schräg und prekär getürmtes Tohuwabohu anrichteten, das, als ich am späten Abend in meine Klause heimkehrte, unter dem plötzlich eingeschalteten Deckenlicht schamvoll erstarrte und mir ein Bild halb petrifizierten Verwüstungswerkes darbot.

Wie soll ich es zur Anschauung bringen? Vielleicht exemplarisch: Einer der Türme, ein dem pisanischen an statischer Bedenklichkeit weit überlegener Stapel, bestand etwa aus einigen Lagen frischer, schwarzer Unterwäsche, meinem Tagebuch von 1994, Nietzsches „Genealogie der Moral“, zwei Porzellantellern mit Überresten frugaler Abendmahlzeiten (Feta, Oliven, Zwiebelringe), darüber Gilles Deleuze’s schwer verdauliches, postmodern frivoles Werk „Differenz und Wiederholung“, das ich noch immer nicht kapiert habe, zwei nikotingebräunten Bänden der Euripideischen Tragödien, einem Psycho-Thriller von Nicci French, einigen CD-Jewelboxen mit Händel-Arien (ohne CDs) sowie dem neuesten Album von „Massive Attac“, bedacht von der vorletzten Ausgabe eines bekannten Hamburger Nachrichtenmagazins. Als Zwischenfundamente dienten diverse unbezahlte Rechnungen, eine voll wichtige, seit langem schmerzlich vermisste Versicherungspolice und der überflüssigerweise gefertigte Ausdruck einer drohenden salafistischen  E-Mail,  mein Wirken in der Welt betreffend und mir die sichere Hölle versprechend, sowie, den gesamten Sums notdürftig stabilisierend, ein nicht aufgegessenes Knäckebrot mit Dorschrogen-Creme von IKEA.

Mein Ohrensessel aus Rattan-Geflecht machte zu dieser Karikatur auf „Die Ordnung der Dinge“ (M. Foucault) ein betont dummes Gesicht, blicklos und glotzäugig zugleich; der Wäscheschrank kicherte breitmäulig debil und die Wäschetrommel im Bad schnappte betont beiläufig nach mir. „Dinge, mal hergehört!“ herrschte ich mein um mich versammeltes Ambiente an, „Ich bin Euer Herr! Ich bestimme!“ – Wer je unter dem respektlosen Gekicher unbotmäßiger Möbel einzuschlafen versuchte, weiß, was ich durchmachte! Nicht ernst genommen vom eigenen Hausrat! Den Stapel-Rackern! 

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Sex & Metaphysik: Platonische Perversionen leicht gemacht

30. Januar 2010

Schwer verkopft: Erotologe Platon, der Herr ohne Unterleib

Lange Zeit, seit 2003, kursierte sie nur als Gerücht, als vage Erinnerung an einen Skandal, an eine unfassbar unseriöse, unverschämte und dreist verständliche  Vorlesung, bei welcher der Dozent seine ZuhörerInnen angeblich nicht nur mit Mengen billigen Weins betrunken und wehrlos machte, sondern sich, die Zuhörerschaft schwindelig redend, auch noch anmaßte, den großen Gipsheiligen Platon, den Oberpriester und Standeshalbgott der Philosophen-Zunft, vom Sockel zu holen und zügellos der Lächerlichkeit preiszugeben. Dieses legendäre Symposion über Platons „Symposion“ machte das mutmaßliche psychopathologische Elend eines antiken Neurotikers sichtbar, der aus Angst vor dem Tod den Selbstmord empfahl und mit seiner kranken Metaphysik das erotische Leben Europas für Jahrhunderte vergiftete.

Und jetzt die Sensation: Das Manuskript der Skandal-Vorlesung ist jetzt öffentlich zugänglich! Und zwar auf dem Blog „denkfixer“:

http://reinhardhaneld.files.wordpress.com/2010/01/platon22.pdf

– man kann es sich als pdf-Datei herunterladen und sich bei ein, zwei Glas Wein zu Gemüte führen. Die akademische Welt steht natürlich Kopf: „Dieser Herr ist eine Schande für den gesamten Denkerstand! Verbrennt seine schändlich respektlosen Texte!“ heißt es allenthalben, aber Digitales brennt ja zum Glück nicht. Höchstens auf den Nägeln – wie dieser Vortrag über einen mumifizierten, aber immer noch infektiösen Denkleichnam beweist. Das Schönste: Zum ersten Mal wird einem mal verständlich, amüsant und ohne falschen Respekt erklärt, was es mit der sogenannten „platonischen Liebe“ denn eigentlich auf sich hat! Guckt mal rein, Ihr hellen Köpfe!

post modern blues

30. Dezember 2009

The Raven: Prof. Laurie Gane

Haah! Yeaah! Aah, Aaaaah! – oh, sorry. Jetzt seid ihr unbeabsichtigt Ohrenzeuge eine Quasi-Orgasmus geworden. Quasi, weil nicht wegen Sex, sondern musikhalber. Kennt ihr das, daß ihr ein halbes Leben lang nach einer gottverdammt obskuren, raren, möglicherweise. nicht mal existierenden, sondern bloß geträumten Platte gesucht, geforscht, gegiert habt – und dann, nach Jahrzehnten, steckt sie, aus den unermesslich gnädigen Weiten des Internet angeschwemmt, und nach dem ihr alle Hoffnung längst aufgegeben hattet, plötzlich doch noch in eurem Briefkasten. Zitternd fummelt man das Teil mit fickrigen Fingern in den Player: Oh Mann! Ob man das noch immer so geil findet wie als twentysomething?

In meinem Fall war die Sache echt kompliziert. In den Achtzigern hatte ich mal einen Trinkfreund u d Kollegen, einen Captain-Beefheart-Experten und Frank-Zappa-Freak, der, damals machte man so etwas, obsessiv Mixtapes für seine Lieben aufnahm. Oft die ganze Nacht lang; Promille-Pegel und Abgedrehtheit der Mucke korrespondierten dann hörbar. Und so bekam ich eines Montagmorgens (!) ein extrem rätselhaftes Tape von ihm, im Tausch gegen 4 Alka Seltzer, glaube ich, eine Handvoll Songs, die mich dann vom ersten Hören an absolut und für Jahre elektrisierten.

Es handelt sich um eine Art Pilotaufnahme, das Fanal einer neuen Musikrichtung, die sich dann leider nie weiter durchgesetzt hat: Postmodern (oder: „Electronic“) Blues. Strange war nun freilich, daß die Band, die das Album aufgenommen hatte (hatte sie denn?), gar nicht existierte! Es kursierte gerüchteweise zwar ein Band-Name („the enemy within“), aber erstens kannte die wirklich niemand bzw. keine Sau, und ausgefuchste Experten dementierten sogar: Dies seien vielmehr eindeutig Tracks des rettungslos dem Heroin verfallene Fleetwood-Mac-Gitarristen Peter Green; andere raunten, bei dem Gitarristen handele es sich vielmehr um den mysteriösen Anonymus mit dem Pseudonym „The Raven“. Aber wer war das, der Rabe? Manche behaupteten, dieser sei im Wahrheit identisch mit dem komplett irren Gitarristen „Snakefinger“ (stimmte nicht!), der wiederum immer mal wieder verdächtigt wurde, Mitglied der legendären anonymen US-Band „The Residents“ zu sein (stimmt wahrscheinlich), die ja auch eine Art „Postmodern Blues“ spielten, manchmal. – Also wie nun? Und wer? Und welche lade- bzw. bestellfähige Adresse? Ähnlich enigmatisch kam das Album selber daher. Dem Vernehmen nach hieß es „A touch of sunburn“. Nur tauchte es unter diesem Titel in keiner Publikationsliste auf. (Wer konnte ahnen, daß man es zu gleicher Zeit unter dem doofen Titel „Two Greens make a Blues“ hätte bekommen können? Und daß es eine andere Mischung gab, die den nicht minder befremdenden Titel „Nietzsche’s Ass“ trug?)

Gleichviel, ob leichter Sonnenbrand, Friedrich Nietzsches Arsch oder die Zwei Greens (nämlich Peter und Mick) aus der britischen White-Blues-Underground-Szene – selbst die ausgebufftesten Platten-Dealer zuckten bedauernd die Achseln. Ich zitierte flehend meine Lieblingszeilen, spielte die Riffs auf meiner Luftgitarre, grölte sogar den einen oder anderen Chorus: Niemand konnte mir helfen; sobald ich die Musik dann auch noch enthusiastisch beschrieb, tippten die meisten, die ich damit belästigte, auf Drogenmissbrauch meinerseits, und daß ich mir dieses Zeug mit Sicherheit nur eingebildet hätte. Hatte ich aber nicht!! Die Platte gibt es wirklich! Und sie ist ein Meisterwerk!

1987 schrieb der Melody Maker, die Platte klinge wie ein Duett von Dr. John und Tom Waits, der mit Dr. Feelgood jammt, nur mit halber Geschwindigkeit abgespielt. Wenn man sich dazu vorstellt, daß Captain Beefheart die Lyrics durchs Megaphon nölt und die Residents den Background-Chor geben, kommt das hin – nur funkiger, treibender, verschwitzter, härter, durchgeknallter, mit unterleibsaufwühlenden Gitarrenriffs, elektrisch verstärkter Blues-Harp und verfremdeter Schweineorgel, und ganz viel mysteriös dröhnender, pumpernder und pluckernde 80er-Casio/Atari-Elektronik, dazu neunmalklug-düstere Texte, die zwischen Caravaggio, Nietzsche und Science-Fichtion-B-Movie mäandern und vermutlich von The Raven inspiriert sind, jenem Kunstprofessor aus South Kensington, den nur seine Mutter und seine Studenten unter dem Namen Laurie Gane kannten. Über ihn heißt es im Booklet: „The Raven kann lesen und schreiben; seinen Hegel spart er sich aber für die Rente auf“.

„I made a call at the endzone / but there was nothing to hear / as just a pre-recorded message: / no one at home…“ raunt es verstörend aus einer von heulendem Wüstenwind untermalten menschenleeren Zukunft. „Post modern blues“ beschrieb eine Zukunft, in der die Menschen keine persönlichen Erinnerungen mehr besitzen, nur gemeinsame Fernseh-Erinnerungen; sie bewohnen ihre Häuser als Touristen und haben allen Grund für zeitgenössischen Blues.

Alles in allem wurde die Zukunft dann doch etwas weniger schlimm: Der Kunstprofessor und Psycholinguist Prof. Laurie Gane vom Roayal College of Art ist sogar über facebook erreichbar. Ob er schon Hegel liest? Ich hab ihm mal geschrieben – vielleicht erinnert er sich noch an die Zeit, als er der Rabe war? Oder wird nur der Anrufbeantworter dran sein, der durchs Megaphon röhrt: No one at home…?

I finally got the post modern blues