
Mal ehrlich: In Wahrheit sind wir alle ganz anders, oder? Aber Selbstmystifikation wird heute halt verlangt. Man muß sich stilisieren! Das Leben ist eine Bü-hü-hü-ne! Und nichts als Theater! Show! Bei Männern verhält es sich in diesem Zusammenhang so: Martialisches Auftreten kompensiert oft eine verschärft empfindsame Seele. Ich zum Beispiel laufe herum wie eine Mischung aus Gothic (immer alles in schwarz!), Death Metaller und Hardcore-Rocker (wenn auch inzwischen, aus Altersgründen, mit Lesebrille), – aber ich bin ja nicht im mindesten gefährlich! Ich tu doch nur so und will bloß spielen! Harmlos wie eine blass-anämische Germanistikstudentin, lese ich privat daheim mit sanfter Stimme halblaut Rilke-Gedichte, schlürfe mit Honig gesüßten Jasmin-Tee, massiere der Gattin die Füße mit Rosenöl, und als erregendstes Abenteuer meines Lebens gebe ich an: Wie ich zum ersten Mal die Anfangsakkorde von Rachmaninovs 2. Piano-Konzert im Radio hörte!
Aber so etwas offen einzugestehen brächte einen in den Ruch der Effeminiertheit, oder? Solche Zartbesaitetheit ist doch unmännlich wie Baileys-Trinken, Badminton oder Bettwäsche von Bruno Banani! Da seine schmächtige Sensibilität Kraska I. aber bizarrer- und unpassenderweise in einer beeindruckend großmächtigen, hoch wie breit gewachsenen Körperfigur steckt, würde man ihm auch bestickte Jeans-Kutte und Lederjeans mit Fransen abnehmen, zumal Bauch und graue Pferdeschwanz-Frisur bereits in Arbeit sind. – Ja, und dann? Dann traute ich mich möglicherweise in eine Kneipe hinein, die ich bislang nur neugierig mit dem Fahrrad umkreise: The Fat Mexican. Den Namen find ich schon mal klasse!
Dies ist übrigens das offizielle Vereinsheim des Duisburger Ortsverbandes („Chapter“ heißt das, für Insider!) der Bandidos, eines ursprünglich us-amerikanischen Motorradclubs ehemaliger Vietnamkriegs-Veteranen mit etwas, sagen wir mal, gemischtem oder durchwachsenen Image, weil sich Bandidos-Mitglieder gelegentlich mit ihren verhassten Konkurrenten von den Hell’s Angels Schläger- oder gar Schießereien liefern. (Hier, wo Industrie-, Gewerbe- und Rotlichtbezirk aneinanderstoßen, wird das Testosteron gleich in ganzen Tanklastwagenladungen transportiert!) Es soll bei den Streitigkeiten angeblich nicht um Ventilmodelle, Vergaser oder Sattelformen, sondern um veritabel kriminalen Drogen-, Waffen- und Frauenhandel gehen. Ich weiß das nicht. Manchmal glaub ich’s fast, dann wieder nicht. Wenn die Bandidos vor ihrem Vereinsheim Straßenversammlung haben – ich muß da ja mit meinem Rad auf dem Weg zur Arbeit immer vorbei –, komm ich allerdings oft ins Grübeln. Warum sind Motorradrocker fast jedesmal über fünfzig, tragen graue lange Haare oder, neuerdings, tätowierte Glatzen, und sehen immer so aus, als hätten sie auf Warmduscher und Schrumpf-Biker wie mich nur gewartet, um mich mal nach Strich und Faden zu vermöbeln bzw. als wachsweiches Fünf-Minuten-Ei zum späten Frühstück zu verspeisen? (Am furchterregendsten finde ich übrigens die wenigen weiblichen Bandidas. DIE machen mir ECHT Angst, und ich fürchte mich sonst nicht mal vor kampfsportgestählten Lederlesben!)
Dabei bin ich fast sicher, daß auch bei den Bandidos das meiste auf Selbstmystifikation beruht. Die heutigen Vereinsmopedtouristen sind halt keine beinharten Kriegsveteranen mehr, da muß der Nimbus irgendwoanders herkommen. Man macht auf Brutalo-Macho. Was ich in dem Kontext schon irgendwie süß finde, sie nennen den Block in meiner Nachbarschaft, in dem sie ihre Residenz haben, also bei mir direkt um die Ecke, „Sin City“. Also The Fat Mexican in der Sin City! (Formerly known as the industrial district of Duisburg) – Cool, oder? Darauf wäre selbst ich als alterfahrener Mystifizierer nicht gekommen! Ich hätte wohl vermutlich gesagt: Ich wohn da ziemlich nebenan von diesem tristen, industriell organisierten Kasernen-Großbordell für einsame Ausländer. Nein! Nichts dergleichen! Stattdessen bin ich Resident in der ober-coolen Kult-Community SIN CITY! Klingt doch schon ganz anders!
Glaubt man, was ich eigentlich ungern tue, der gemeinen Spießerprintfresse, sind die Bandidos schlicht eine Form organisierten Verbrechens. Ein Mafia-Verein mit ungutem Geschäftsmodell. Hm. Na ja. Wenn das stimmt, ist das organisierte Verbrechen durch ein Schrebergärtner-ähnliches, brav-spießiges Vereinsleben gekennzeichnet, bei dem ständig rührende Ralleys, gemeinsame Moped-Ausritte und Reparier-Workshops organisiert werden, über die dann auch noch auf hinreißend harmlose Weise auf der Homepage berichtet wird – im Stil der „Bäckerblume“ oder einer ambitionierten Schülerzeitung. Nur, daß diese Homepage mit einer detailversessenen Liebe gestaltet ist, wie sie sonst nur Leute aufbringen, die den Kölner Dom mit Streichhölzern nachbauen. Ich kann mich natürlich verhängnisvoll täuschen, aber ich glaube fast, die Bandidos-Vereins-Moped-Fahrer sind, wie alle anderen in meiner neighbourhood, im Grunde viel lieber, harmloser und netter, als mein frisch zugezogenes Vorurteil zunächst befürchtet hat. (Peter Fox singt über Berlin-Neukölln: „Berlin ist gaanich so hart, wie du denx!“ – Das trifft auf mein Viertel wohl auch zu!) Nur – wie soll ich’s herausfinden?
Cowboystiefele ich dazu in den FAT MEXICAN zum Tresen und murmele als geheimnisvoller Fremder (etwa wie Charles Bronson in „Spiel mir das Lied vom Tod“):
„Ich hätte gern ein eiskaltes DosEques mit Limonenschnitz, einen dreifachen Tequila oder gern auch einen goldbraunen Mescal (der mit der toten Raupe in der Flasche!), dann noch eine nichtregistrierte Smith&Wesson 9mm-Parabellum mit 100 Schuß Munition sowie eine chili-scharfe, willige Latina-Virgin, nicht älter als fünfzehn; außerdem erstünde ich gern für eine Handvoll Dollars ein paar lines pur weißes, reines Columbia-Kokain für direkt hier zum Schniefen, bitte mit Spiegelscherbe und Rasierklinge!“
Tja – was wird mir der von meinem extrem maskulinen Auftreten eingeschüchterte Barmann des Bandidos-eigenen THE FAT MEXICAN antworten? Etwa: „Selpsvastänntlich, geht sofort klar, Sir, gerne der Herr, kommt alles sofort, Schnaps, Knarre, Nutte, minderjährige Latina-Schlampe, alles, sehr wohl der Herr Gast! Macht dann hunnertfummzig Dollars im Voraus!“?
Oder antwortet er eher: „Sach ma, Alter, … geeeeht’s noch? ’N Köpi kannze noch kriegen, oder’n Diebels Alt eventuell, aber dann geehsse auma schön nach Hause nache Mutti, nöch, vasteesse, sonst gibbat hier näämich Äärger!“ –
Wäre ich seeeehr mutig, würde ich vielleicht noch leise protestieren: „Aber, ich mit meim Faarrad bin doch praktisch auch’m Beiker!“ – aber dann ginge ich doch lieber. Ich will ja keinen Streit.
Nur wüsste ich halt zu gern, wie viel Lyrik-Liebhaber, Teetrinker und Frauenversteher es unter, rein statistisch, diesen mörderharten Rockern wohl gibt. Ich glaub nämlich immer weniger an Klischees! Und irgendwann geh ich in den FAT MEXICAN, bestell mir’n gepflegtes Glas Milch und sag Euch, wie es WIRKLICH da drin so ist…!
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