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Jour Fixe (10): Die Entrückung des Traurigkeitslehrers Winterseel. Detmold und das Weinen im November

24. November 2009

Satans Neffe im Griff des Advenzkranztanzes (Foto: http://www.glogster.com/media/ 2/3/24/72/3247277.jpg Das Bild ist möglicherweise urheberrechtlich geschützt.)

Im November, dem verregneten Wonne-Monat der tausend Graustufen und der untoten Gedenktagsseelen, findet sich Arnold Winterseel, mein verehrter alter Traurigkeitslehrer, gern im Stadium einer heiter-schwebenden, irgendwie fast bekifft anmutenden Morosität und höheren Subtilverzweiflung, einem illuminierten Zustand, in dem nachtschwarze Melancholie unversehens umschlägt in einen unberechenbar hakenschlagenden Übermut, eine an den Festungen der Götter rüttelnde Hybris, in deren Schwall, Mulm oder Qualm das Irrsinnigste plötzlich das hübsche Gesichtchen der Vernunft annehmen konnte, für wenige, erleuchtete Augenblicke.

In solchen raren Momenten besinnungsfrei abhebender Erhabenheit finden es Leute plötzlich eine gute Idee, sich die Füße 20 cm oberhalb des Knöchels abzusägen und sauber parallel ausgerichtet in den Schuhschrank im Flur zu stellen; sie schenken ihren greisen Müttern Gutscheine für einen VHS-Kurs in Expressivem Nackttanz oder begehren, im gebenedeiten Gnadenstand der Volltrunkenheit wohl verwahrt, völlig unvermittelt des Nächsten Weib Adelgund, in dem sie beim Nachbarn förmlich um deren Hand anhalten. Eine verrückte Zeit! Das Schicksal gähnt verlegen, hinter einem die Gespenster des Totensonntag, vor einem reißt schon das tückische Weihnachtsfest die vielfach bezahnten hundert Mäuler auf. Schweflig grinsend zündelt Bezelbub Gemütlichkeitsglühlichter und tanzt mit Behemoth, dem Neffen des Satans, den Advenzkranztanz.

Ich sehe Doktorvater Winterseel noch vor mir, die Haut gelblich-transluzide und papiernen wie jenes Maispapier der frühen, dick-schwarzen Gitanes-Zigaretten in verrauchten Pariser Existenzialisten-Bistros, wo Schönschreib-Schenie Schang-Pol Satter und Simone de Boudoir sich leidenschaftlich anqualmten und brillante Blicke in verschiedene Richtung warfen, – Winterseel also, wie er elegisch und traumverloren in sich hineinhorchend seinen geliebten Poetry-Schluchzer Renée-Marie-Louise Rilke rezitierte:

„Die Dinge sind Geigenleiber,
von murrendem Dunkel voll,
drin träumt das Weinen der Weiber,
drin rührt sich im Schlafe der Groll
ganzer Geschlechter…“,

worauf er sich, zu unsrer grenzenlos sperrangelweit mauloffenen Verblüffung Knall auf Fall verabschiedete, und zwar, wie er noch erklärte, um eine länger ins Auge gefaßte  und bei alltours angelobte Albtraumschiffkreuzwallfahrt nach Detmold anzutreten. „Ha, Detmold! Klar, Detmold!“, krähte unser Einserjurist und von-Guttemberg-Lookalike Sven Aaron Mangold, primanerhaft die Streberfinger schnipsend – er hatte wohl auch von diesen Plätzchen probiert, die Miß Cutie mit ihrer Milchschwester Soffie aus Amsterdam gebacken hatte – „Detmold! Klare Anspielung! Grabbe!“  Hilfesuchend warf ich fragende Seitenblicke auf meinen Freund Fredi Asperger, der zwar ein Autist ist, praktischerweise aber auch einer der sogenannten idiotes savantes, die als wandelnde Logarhitmentafeln, Primzahlenverzeichnisse oder Konversationslexika unterwegs sind. „Christian-Dietrich Grabbe, Schnorrer, Säufer, Nervensäge, Literaturavantgardist des 19. Jahrhunderts. Soll gesagt haben: ‚Einmal auf der Welt, und dann als Drogist in Detmold! – was man später als Frühform nihilistischer Gottesanklage gewertet hat ...“, setzte mich Freund Fredi flüsternd ins Bild.

Während ich über diese Mitteilung noch nachgrübelte, schwoll im Salon bestürztes Gemurmel an: Winterseel war ohne weiteres Wort* (*bzw. soll sein letztes Wort gelautet haben: „Folget mir nicht nach!“) durch die Tapetentür entwichen und entrückt, und hatte uns somit ohne weiteres Beratungsangebot oder Therapieversprechen allein gelassen. Wie nun? Und wie weiter? „Mhhmmm, vlleich eersmoah nbüschen ein’ antütern?“ schlugen Hauke und Hinnerk, die Aquavitzwillinge, schüchtern vor. Ihre verschwiemelten Gesichter, die wie Synchronschwimmer in perfekter Harmonie einen Ausdruck glühweingetränkter Zuckerwatte angenommen hatten, verrieten jedoch, daß sie bereits, und zwar ohne ersichtlichen Nutzen für uns, ziemlich stark „angetütert“ waren, sodaß ihr Vorschlag, bei manchen nicht ohne Bedauern verworfen wurde. Unerwarteterweise war es dann ausgerechnet Miß Cutie, deren Attraktivität sich nach ihrer Nasenbegradigungs-OP ins nahe zu Überirdische gesteigert hatte und bei jüngeren Mitgliedern des Jour Fixe oft genug Anfälle priapistischer Konvulsionen auslöste, Miß Cutie löste sich jedenfalls plötzlich aus der ziemlich schwüllesbischen Umarmung ihrer sinnlich-innigen Milchschwester und durchschnitt unser stickig-verstocktes Schweigen mit ihrer glockenhellen Hochfrequenzschneide-Stimme: „Leute! Hört mal! Was wir brauchen, in dieser dunklen, bedrängenden, gemütsverdüsternden Zeit, dassis… Rauschgold! Rauschgold, Leute! Mut! Courage! Allons enfants! Lasset uns ausschwärmen, um Rauschgold zu schürfen!“

Halb schon getröstet, wenn auch nicht ohne eine gewisse wattige Leere in den Köpfen stob die Versammlung auseinander, um die Parole des engelhaften Beautie-Kids zu befolgen. Allerdings, wird das Projekt, die Mission gelingen? Wir Deprimierten, wir Prokrastinierer, ADSler, Autisten und elegische Borderliner: Wo finden wir denn Rauschgold, jetzt, im Schluchzen der krass naßkalten Novemberschluchten?

Fredi Asperger und ich nahmen die U-Bahn-Linie 7, ein Umweg, aber dafür genügend Zeit, die Wange jeweilen an die Schulter des Freundes gelegt, zu weinen, viel, ausgiebig, ja sättigend zu weinen. Wir weinten, wie es nur Männer vermögen: entschlossen, rückhaltlos und offensiv. Ach, das Weinen im November!

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Ich bin ein Pionier der Gentrification, denn ich finde mein abwrackreifes Ghetto „sexy“

16. August 2009

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SPÄTSOMMERBLUES NACHTS IM VIERTEL…

Manchmal, ich weiß auch nicht, sticht mich der Hafer, dann tu ich ignoranter, als ich eigentlich bin. Nur so „aus Daffke“, wie der Berliner früher sagte. Auch ich habe schroffe Seiten. Also nenne ich Aphrodite, den Hund der Alk-Fraktion im Erdgeschoß, einen Mops. „Na?“, sage ich beispielsweise sarkastisch zu Elli, der Hausbesorgerin, „watt machsn fürn Gesicht? Hat die Alk-Fraktion ihren Mops wieder erschöpfungshalber zum Scheißen bloß in den Garten geschickt?“ Der Ton in meinem neuen Ghetto ist halt rau, aber warmherzlich, ich kann nix dafür. Und natürlich weiß ich in Wirklichkeit sehr gut, daß Aphrodite kein Mops ist, sondern eine schwarz-weiß gescheckte französische Bulldogge, mit arttypischen Fledermausohren und dem wissenden, abgründig dunklen, unendlich todtraurigen Blick eines schwarzen, baumwollpflückenden Blues-Sängers. Ich nenne sie aber solange einen Mops, bis die Alk-Fraktion aufhört, mich durch nächtliche Gesänge oder Krakeelereien zu ängstigen! Man kann sich doch, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, auch mal still betrinken!

Tja, was soll ich sonst über mein Viertel sagen? Verkehrssprache ist hier ein basales Pidgin-Turk-Deutsch. Jungmännerdialog zwischen Osman und Tolgan (gestern im Rheinpark mitgehört) geht hier in etwa so: „Oh, Alter, Bruder, Weiber ey, isch sach dir! War Tussi an Händi!“ – „Escht? Scheise, Mann. Unnn? Haddse gestreitet?“ „Nee, war’m Heuln! Schwör! Die willmisch! Die Alde steht voll auf misch!“ „Schwör? Öylemi? Escht am Heuln, Ağabey?“ „Ja, Bruder, schwör! Ferttich war die, Mann, voll datt Opfer, eh, vallahi!“ „Boah, voll Missgeburt, Mann, äy! Issie scheis Jude, oder was?“ „Näh, die is auch Duisburger!“ „Abba Madonna is Jude, und, ey, die Alte da, in dem Film, wie heiß noch, Halle Berry…“

Thema der Woche bei der allabendlichen Hausgemeinschaftsbesprechung war, neben dem Dauerbrenner, daß die Alk-Fraktion immer das Treppenhaus versaut, das alljährliche Fest der Stadtwerke hier im Viertel, an diesem Wochenende. Wie früher die römischen Kaiser mit ihrem Zirkus, spendiert man fürs Volk Belustigungen. Hausbesorgerin Ellis Ehemann Pitti hat sichs schriftlich geben lassen und säuberlich aus dem Anzeigenblättchen ausgeschnitten: Costa Cordalis kommt! Und Olaf Hennig! Nach dieser Nachricht muß Pitti erstmal zur Bude, Frischbier holen, was mir Gelegenheit gibt, mich unauffällig zu erkundigen, wer die genannten Gaststars denn seien und welcher Lebensleistung sich ihr Ruhm verdanke. (Es handelt sich um einen ur- und einen mittelalten Schlagerheini mit Appeal zum Schlichtpublikum!) „Aber auch Sweet!“ trumpft Anneliese, der 60er-Spätlese-Teenager aus dem Nachbarhaus auf, „Sweet kommt auch! Die aus den 70ern! Fox on the run und so! Damdam dadada-damdam!“ Das Stadtwerkefest heißt übrigens „Energiespaßtage“, und ich bin ganz froh, nicht der herzlose Diktator von Deutschland zu sein, weil ich dann bestimmt zur Abschreckung ein paar Werbefuzzis für ihre scheiß Wortspiele ins Arbeitslager schicken würde.

Das friedliche Zusammenleben der Ethnien und Nationen wird bei uns nicht zuletzt durch sorgfältig getaktete Zeitkorridore geregelt. Alle haben ihre Zeit, die bulgarischen Menschen- und die serbischen Waffenhändler, die breit watschelnden, schnatternden anatolischen Kopftuchmuttis, die pakistanischen oder srilankesischen Krickett-Spieler, die verkniffenen altdeutschen Blockwarte, die beinharten russischen Putin-Doppelgänger und BMW-Kabrio fahrenden Bodybuilder vom Großpuff. An einem warmen Spätsommerabend wie gestern gehört seltsamerweise das Viertel ab 22.00 Uhr dem schwarzen Mann. Ich muß das leider so pauschal sagen, denn von außen sieht man ja nicht, ob einer jetzt Afro-Deutscher, Afroamerikaner oder Originalneger aus Mother Africa ist. Das hat mit Rassismus nichts zu tun! Ich kann von weitem sehen, ob einer Pole, Ukrainer, Kroate oder Slowenier ist, aber Hutu, Tutsi, Bantu oder Xhosa kann ich kaum unterscheiden! Ist hier aber auch nicht wichtig, nehm ich an.

Auf meiner Spätpatrouille entdecke ich vor „Gino’s Nachtcafé-Bistro“ die dicke Mandy, die, glaub ich, in Wirklichkeit Magdalena heißt und aus Kiew stammt. Es heißt, sie habe Architektur studiert oder Pharmazie. Auf jeden Fall macht ihr in Sachen Superblondheit keiner was vor. Ihr himmlisch weißbrotfarben schimmerndes Dekolletée erleuchtet die Straße wie ein dreidimensionaler Doppel(fast)vollmond; sie verhandelt auf der Straße mit zwei bejammernswert dürren, langen Schwarzen, und es sieht aus, als käme man ins Geschäft. Überhaupt kapier ich Naivling allmählich, daß die nachts überall an den Ecken herumstehenden, oft überraschend hübschen Mädchen gar nicht auf den Bus warten. Ich hab mich schon gewundert, weil hier nämlich gar keiner fährt!

Am Brückenplatz, der tagsüber der internationalen Alk-Fraktion gehört, sind in der Nacht alle Männer schwarz. Es müssen Afrikaner sein, denn sie frönen überwiegend ihrer, wie es aussieht, in der Fremde einzig kultivierten Obsession: Nach Hause telefonieren! „Hello?! Helloo?! Can you hear me?“ schallt es aus Rostlauben, Billigkneipen und Telefonierkabinen. Yes, we can! Die Dorfgemeinschaft daheim will schließlich informiert werden, was im deutschen Paradies so läuft. Ob man auch von Mandy erzählen wird?

Am Brückenplatz befindet sich die m. W. einzige Trinkhalle (für Nicht-Ruhris: Das ist ein Kiosk für Trinker- und Raucherbedarf mit extrem dehnbaren Öffnungszeiten) Duisburgs, die, ausweislich einer Reklameinschrift, auch jederzeit Zahngold und Unterhaltungselektronik ankauft.

Den südlichen Teil des Platzes beherrscht die bei mir hochrespektierte Duisburger Bäckereikette Bolten, die hier einen Brötchenladen mit angeschlossenem Café betreibt. Bolten ist gut: Deren Baguette z. B. kann ich warm empfehlen! Warm schmeckts jedenfalls am besten. Im Café sitzt die Bevölkerung der Postmoderne. Kaftan-Islamisten geben hier ihre zwei, drei Burkassen zur Aufbewahrung ab, wenn sie Koranlesen gehen; blasse, dünne Frauen aus Osteuropa ruhen sich hier aus, die all night long vergeblich auf den Bus gewartet haben; Herren aus aller Männer Ländern buchstabieren stirnrunzelnd ihre Zeitung, und manchmal trifft man auch mich hier, über esoterische Fragen nachgrübelnd, wie die, warum Konditoreimädel oft wirklich wahnsinnig und kinofilmreif süß sind, Fleischereifachverkäuferinnen hingegen überdurchschnittlich oft einen Hang zum Wurstigen und Grobfleischernen zeigen. Bei Bolten im Café sitzend und das Treiben im Viertel betrachtend, hat man die Wahl: Wahnsinnig werden, Amok laufen, oder still, bescheiden und konzentriert einer milden, wohlwollenden Melancholie verfallen.

Vielleicht bring ich Aphrodite mal ein Zipfelchen Wurst mit?

Vierzehn Arten, den Regen zu ertragen

23. Juni 2009
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...und der Regen regnete jeglichen Tag

EINE METEOROLOGISCHE ELEGIE IN GRAU-MOLL

Soundtrack: Hanns Eisler, „Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben“, Kammer-Suite für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Klavier, op. 70, (1941), Arnold Schönberg zum 70. Geburtstag

 Der Wetterbericht: Über Wien, um Wien herum und an der Wien entlang regnet es seit 49 Stunden ohne Pause, ohne Luft zu schöpfen oder neues Wasser zu holen, es regnet ruhig, sehr ernst und stetig, gleichsam wie selbstbewusst, also ergiebig und überaus gelassen, mithin nicht etwa leidenschaftlich, platzregenhaft, nicht sintflutend, nicht wie der Zorn Gottes, in Wasserfarben gemalt, sondern in der ausdruckslosen, mechanischen Gleichgültigkeit einer Duschbrause, unter der ein am Schlaganfall verstorbener Badender den Hahn nicht mehr hat zudrehen können, sodaß seine seit Tagen gnadenlos benetzte und begossene Haut bereits einen grünlichgrauen Farbton ungesunder Wasserleichenhaftigkeit annimmt; ein Regen ohne Melodie, ohne An- oder Abschwellen, ohne Modulation, bloß so ein schlichtes, maues, schauriggraues Schaurauschen: drucklos, aber üppig überlaufend lassen die fetten Wolken einfach unter sich, einen gewissermaßen inkontinentalen Regenwaldregen, der zum Fort- und Fortregnen gleichsam regional verpflichtet ist; ein im übrigen kühler, nässender, erkältender Regen ist das, nicht etwa ein lauer, sommerlicher, duftigerregender Erotik-Regen, der einen dazu treiben könnte, barfüßig und kindisch lachend, mit jungen, leicht bekleideten Mädchen über Wiesengründe zu hüpfen, also kein kleiner Frühstück-bei-Tiffany– oder gar Singing-in-the-rain-Regen, sondern eine auf längere Sicht eher frühherbstlich Frösteln machende 400%ige Luftfeuchtigkeit aus undurchdringlichem, vielfach tiefgestaffeltem Himmelsgrau, eine Form meteorologischer Melancholie generierend (regen-erierend?), wenn nicht schon Depression, ein nicht endenwollender feuchter Alptraum, denn, wer jetzt keine Arche hat, der baut sich keine mehr, dem regnet es ungeschützt ins Gemüt, dem hilft nicht Knirps noch Pellerine mehr, allenfalls der Besitz von Friesennerz und Gummistiefeln, doch die sind – wir hatten auf den Sommer gewettet – fern, daheim, jenseits des Regenbogens, der hier, mangels Sonnenlicht, nicht zu entdecken ist, kurzum,  es plätschert, plästert, pladdert, pütschert, pisst, pullert, pieselt, its raining cats and dogs, einen gradlinig faden Schnürlregen, der die Siebenschläfer hinter den sieben Bergen in ihren Schlafnestern ertränkt, ein in seiner Leidenschaftlosigkeit und Indolenz gegenüber allem Lebendigen schon geradezu erhabenes, grandioses Scheißwetter, so schlecht, das Wetter schon nicht mehr der richtige Begriff ist, denn Wetter kann sich per definitionem ändern, aber hier regnet es fürderhin einen jeglichen Tag, noch und noch, für und für, hundert Jahre Regenwetter, der ungnädigen Himmel weitoffene Schleusen oder Unterhosen changieren zwischen stein-, blei- und blaugrau, was sagt uns das, nun, Gott hat eine feuchte Aussprache, ihm ist tausendjähriges Pisswetter wie ein Schauer am Nachmittag, amen, jetzt bricht der Tag an für die Stiefkinder der Evolution, modrige, morose, morastige Molche und mollige Mollusken erheben das Haupt, quirlige Quallen quellen qualvoll quietschend unter quarrenden Quadratlatschen, bei jedem Schritt, Fische flösseln schlüpfrig kichernd durchs Treppenhaus, pelziger Schimmel schlägt auf in den Vorstädten, Landunter, landunter! unwetterwarnt das Unterwasserwarnamt blubbernd, Blasen steigen auf zwischen fallenden, stürzenden, rieselnden, rinnenden Tropfengüssen (gießt es noch oder schüttet es schon?), alles fließt, panta rhei, sickert, strömt, löst sich, sprudelt, strudelt, schäumt, schlammschlawinert schneckenschleimig matschig patschend, Rinnen, Gräben, Bäche, Flüsse nährend, das Wassermannzeitalter einläutend, einnässend, apathisch aquatisch, eine chinesische Wasserfolter, water boarding, in submariner Marinade Badende waten vage winkend ins Uferlose unwägbarer Feuchtgebiete, hinab in den sumpfigen Schoß der Urmutter, die Stufenleiter der Wesen wieder abwärts, zum Regenwurm, zum Unwettergeziefer, zum Geschmeiß und Geschnetz, zum initialen Originalurschleim, zum Geisseltierchen, zum Naßzeller, und weiter noch, bis dahin, wo das Urmeer den Urkontinent Gaia umspült mit Milliarden Tiefdruckgebieten…

Ich glaube, ich leg mich wieder ins Bett.

Die Schönheit und Melancholie der Dinge

17. April 2009
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吉田 兼好; Yoshida Kenkô (* um 1283, † 1350)

Daß ein religiöser Mensch ausnahmsweise auch klug, gesittet, bescheiden, still und fein empfindend sein kann, bewies zum Beispiel der buddhistische Mönch Yoshida Kenkô (jap. 吉田 兼好; * um 1283, † 1350) mit der folgenden elegischen Betrachtung:

„Würde man nicht hinschwinden wie der Tau auf dem Adashi-Feld und nicht flüchtig vergehen wie Rauch auf dem Toribe-Berg, sondern ewig leben – wie könnte man da die zaubervolle Melancholie erfassen, die in allen Dingen webt? Gerade ihre Unbeständigkeit macht die Welt so schön. Unter allen lebenden Wesen ist des Menschen Lebensdauer am längsten. Die Eintagsfliege wartet nur auf den Abend, um zu sterben, und die Sommerzikade weiß nichts von Frühling und Herbst. Wie sorglosen Herzens lassen aber wir ein ganzes Jahr vorübergleiten? Und doch können wir uns, wenn wir uns gierig und ohne zu ermatten, ans Leben klammern, der Empfindung nicht erwehren, es sei nur der Traum einer einzigen Nacht. Was rechtfertigt denn unseren Wunsch, in dieser hinfälligen Welt unsere unerfreuliche Gestalt für immer zu bewahren? Je länger man lebt, desto mehr Gründe ergeben sich, bestürzt über sich selber zu sein. Man sollte sterben, bevor man noch vierzig Jahre alt geworden ist. Lebt man länger, so verliert man die Fähigkeit, sich seines Aussehens zu schämen, man sehnt sich danach, sich mit den anderen noch umherzutreiben, bringt seine letzten Jahre damit zu, sich in die eigene Nachkommenschaft zu vergaffen, und möchte deren Erfolge unbedingt noch miterleben. Immer gieriger klammert man sich nun vollends an die Welt und kann die Schönheit und Melancholie der Dinge nicht mehr empfinden – es ist jammervoll!“ 

[Tsurezuregusa, dtsch: „Betrachtungen aus der Stille“]

Mein Herz ist zu etwa 80% voller Zustimmung. Ich würde die Betrachtung evtl. etwas vom erreichten Alter lösen: Zum einen wünschte man auch manchen deutlich jüngeren Zeitgenossen etwas von der Fähigkeit, „über sich selbst bestürzt zu sein“, zum anderen hat sich, wenigstens bei mir, die Fähigkeit, mich „meines Aussehens zu schämen“, erst weit nach meinem vierzigsten Lebensjahr sprunghaft entwickelt. Auch Meister Yoshida Kenkô wurde ja immerhin 67 Jahre alt. Trotzdem bemühe ich mich, seinem Weg zu folgen: Ich nehme meine „unerfreuliche Gestalt“ zunehmend aus der Schußlinie, sehne mich nicht mehr danach, mich „mit den anderen noch umherzutreiben“ – und meine werte Nachkommenschaft kann mir ebenfalls aus guten Gründen derzeit gestohlen bleiben. So. Habe ich mich vom Anhaften an weltliche Dinge gebührend gelöst?

Noch nicht restlos. Am Samstag gibt es hier in der Oper Händels „Giulio Cesare“, und die Gattin und ich haben zwei gute, teure Karten. Da möchte ich schon noch gern hin – schließlich geht es bei Händel letztlich auch nur darum: um die Schönheit und Melancholie der Dinge…

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Edle Dame, die Abendkühle geniessend