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Der Deutsche ist ein großes Kaninchen auf der Welt

30. März 2011

Sofort abschalten!

„Der Mensch“ sei, so schrieb einst Nobelpreisträgerin Hertha Müller, eine rumänische Redensart zitierend, „ein großer Fasan auf der Welt“. Mir hat das schon immer irgendwie eingeleuchtet. Der Deutsche, erlaube ich mir, zu ergänzen, ist hingegen eher ein enormes Kaninchen. Das Volk der Jod-Tablettenkäufer, Knut-Betrauerer und Panik-Bürger hat eine zarte, empfindsame Seele. Furchtsam zitternd wittert es in alle Richtungen, hektisch schnuppert, twittert und tickert es sich Gefahren zu, hoppelt im Zickzack, sucht manisch nach Rettung, und fürchtet sich depressiv furchtbar vor dem Tod. Das Böse lauert ja überall. Apokalyptische Reiter: Grippe, Atom, Klon, Dioxin, Islam und was noch alles! Anderen geht das auf den Sack, uns unter die Haut. Nie bekommen wir mal, was wir so dringend benötigen: Ruhe. Unserer Kernkompetenz, Mümmeln und Rammeln, können wir nur noch marginal nachkommen, denn wir brauchen erstmal INFORMATIONEN. Mit aufgestellten Löffeln gieren wir nach Aktualität: Wo müssen wir hin oder weg, Ausschüsse bilden oder Menschenketten knüpfen, Sachen boykottieren, Vorsichtsmaßnahmen ergreifen? Man kann doch nie wissen! Was, verdammt, dürfen wir denn noch essen? Wenn da nun Atom drinne ist oder Gene? Vegetarier dürfen doch keine Gene essen!

Selbst das ziellose Hoppeln wird zum Problem. Wir hängen am Tropf medialer Aktualität. Raserei des blinden Augenblicks. Aktualität ist für das Kaninchen das, was bedrohlicherweise gerade passiert, aber nicht zu begreifen ist. Die online-Medien antworten mit dem liveticker, dem „Wahlfolgen-Ticker“ (!), „Eilmeldungen“ und breaking news sowie jetzt, neuerdings in SPIEGELonline, dem „Minutenprotokoll“.  Mindestens minütlich müssen wir ja wissen, woher der Wind weht und was Böses oder Schmutziges er für kleine Nagetiere bringt. Wir brauchen Frühwarn-, nein, sogar Brühwarm-Systeme! Sonst bleibt keine Zeit mehr fürs Wegducken. Andere Nationen grinsen und spötteln über die German Angst. Aber die sind auch keine Kaninchen, oder, um dass Personal des Kinderbuchklassikers „Winnie te Pooh“ zu zitieren, Ferkel. Ferkel ist ein etwas großmäuliges, aber extrem furchtsames Tierchen. Als es zur Jagd auf den rein imaginären „Heffalumpp“ geht, sorgt sich Ferkel nicht darum, was ein „Heffalumpp“ überhaupt ist, sondern grübelt bloß: „Ist es auch gut mit Ferkeln?

Manchmal zwickt die Medien der Übermut, und sie ziehen auf die Straße, um ihr Publikum zu veralbern. So fragten kürzlich ZDF-Reporter in der Einkaufszone, was die Leute denn jetzt von der Braunschweiger Atom-Uhr hielten. Eine gut gekleidete, eher bildungsbürgerlich wirkende Dame, von der German Angst schon ganz grau-grämlich, greinte in die Kamera: „Ja, die muss man jetzt wohl auch abschalten…“ – Wenn ihr mich fragt: DAS ist deutsch!

PS:  Vielleicht trage ich zur Kalmierung der Bevölkerung bei, wenn ich desalarmierend beruhige: Die Gefahr einer Kernschmelze besteht bei der Braunschweiger Atom-Uhr kaum. Sie abzuschalten empföhle sich ohnehin nicht. Für Länder ohne natürliche Zeit-Ressourcen ist Atom-Zeit leider unverzichtbar, sonst bleiben irgendwann die Kuckucksuhren stehen, Eier könnten nicht mehr auf den Punkt gegart werden und alle verschlafen. Auch erneuerbare Quellen wie Sand- und Sonnenuhren können den enormen Zeit-Bedarf einer modernen Industrie-Nation nicht decken!

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Vom liveticker gefickt

20. März 2011

Schon nicht mehr live: Älterer Ticker (Quelle: Siemens/Wikipedia)

Eine neue Cerebralsklerose, ein neuer Hirn-Herpes verbreitet sich durch mediale Tröpfcheninfektion und verpeilt resp. „verperlt“ (Dittsche) ganze Landstriche: der Liveticker. Schon das Wort bewirkt Bluthochdruck. Ich habe doch längst einen, denken viele – meine Wanduhr von Tchibo nämlich, die in stillen einsamen Stunden der  Depression lauthals tickt und dir auditiv vor Ohren führt, wie dein unbedeutendes, ereignisloses Leben verrinnt, tick-tak-tick-tak. Sekunde für Sekunde. Sekunden sind Kleinvieh, aber aus ihnen setzt sich der Mist zusammen. – Aber das ist nicht gemeint. Der „Liveticker“, etwa bei n-tv oder SPIEGEL online, das ist informationelle Vollkaskao-Vollkorn-, quatsch, Vollverkostung mit Null Prozent Kalorien. Fast food, der nicht dick macht, geschweige denn klug. „+++ 17.03 Uhr: Bengasi: Ein Panzer biegt um die Ecke. Noch ist unklar, wer drin sitzt. Ist es der Gaddaffe, der King Kong der durchgeknallten Diktatoren? Oder eine terroristische Al-Quaida-Ratte? Diplomatische Beobachter runzeln die Stirn.+++“ “ +++ 18.69 Uhr:  Fukoshima: Auch der dritte Reaktor riecht irgendwie komisch. Näheres wollten die Betreiber zunächst nicht bestätigen.+++ „ So tickt life, und du bist live dabei, nur ohne Radioaktivität oder Blei in der Luft. Herrlich! Darauf ein Senfglas Senfgas!

Ursprünglich war der „Liveticker“ mal eine einigermaßen passable Ersatzkasse für Leute ohne Radio und Fernsehen, die ein Bundesliga-Spiel verfolgen wollten: „89. Minute. Kaiserslauterner Stürmer steckt Nase in den gegnerischen Strafraum. Olli Kahn beißt  sofort zu. Gelbe Karte!“ Inzwischen ist der Liveticker zur bescheuertsten, weil komplett sinnfreien Illusionsmaschine des Journalismus verkommen. Ich musste schon immer lachen, wenn man Auslandskorrespondenten vor dem Weißen Haus oder dem Kreml postiert, als würde die Aura des Gebäudes ihnen irgendwie besonders privilegierte Nachrichtenströme senden. Dabei lesen die auch nur Zeitung. Aber der Liveticker ist natürlich um Längen heißer, mega-aktueller und dranner an der  so called reality. Oh Mann, sekündlich weiß ich, was los ist – wenn ich mir dann noch gefühlte tausend Sondersendungen, specials (Schpäschels) und Breaking-News-Gewitter antue, Experten-Auftritte reinziehe und Bescheidwisserrunden mit Peter Scholl-Latour und Heiner Geißler verfolge, dann bin ich mal so richtig durch—informiert. Als wäre ich live dabei, was Gott natürlich lieber verhüten möge. Wer möchte jetzt schon in Fukushima 1-4 oder in Bengasi sein.

Schon eine tolle Erfindung: Liveticker. Jetzt wünsch ich mir nur noch, dass Videokameras aus Rettungswagen und Jagdbombern Livestreams senden. Ich meine: Nuklearkatastrophen und chirurgische Luftschläge – das ist ja nun definitiv geiler als Verkehrsunfälle. Get your kicks by liveticker!