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Beim Angstarzt

22. Januar 2012

Traumberuf Chefarzt

Kurz vor Anbruch der Morgendämmerung war ich wohl ein junger Arzt. Ich habe  triftigen Grund, dies anzunehmen, denn eine ältere Dame, die vor meinen Augen mit Krämpfen aus dem Bett fiel, gab zu wissen, dieses Ungemach geschehe unter meiner Obhut, und, sofern sie jetzt evtl. stürbe, sogar auf meine Verantwortung. Ooh ooh! Jäh erschüttert rief ich geistesgegenwärtig nach dem Chefarzt der Klinik. Er eilte herbei, eine Aura von Wichtigkeit um sich verströmend. Ob er aber auch wirklich ein Arzt war, daran gab er mir Anlass zu zweifeln. Hilflos umstanden wir nämlich gemeinsam, wenn auch vertikalhierarchisch um Meilen getrennt, eine geraume Weile konsiliarisch die verkrampfte Dame, die sich hilfeheischend auf dem Boden wand. Ich registrierte flüchtig, dass sie eine mit faustgroßen roten Rosen bedruckte Kittelschürze trug, verwarf diese Wahrnehmung jedoch als medizinisch irrelevant. „Wir sollten eine Infusion legen!“ schlug ich vor, denn in Krankenhaus-Serien sagen junge Ärzte so etwas, zumeist zwischen Wissensstolz und Befangenheit vor dem großen Chef schwankend. Dieser indes trat vor Wankelmut und unterdrückter Inkompetenz förmlich bebend von einem Fuß auf den anderen und replizierte: „Och, ich weiß nicht, sagen wir, na – vielleicht morgen mal irgendwann?“ – „Nein!“, stieß ich mit aufbrausender Selbstsicherheit hervor, „kommen Sie, Chef! das machen wir jetzt sofort! Morgen könnte es angesichts des desolaten Zustandes der unserer Obhut überlassenen älteren Rosen-Dame bereits zu spät sein!

Diffuses murmelnd und mit sichtlichem Widerwillen lud mir der Chef diverses Gerät in die Arme, Ständer, Stative, Stangen, Stäbe sowie ca. zwei Pfund Schlauch & Kabelsalat. Freilich, wie alles zusammengesteckt, geschraubt und verkabelt werden sollte, zumal unter lebensbedrohlichem Zeitdruck,  diese ominösen Schläuche, Kabel und außerdem noch die notorisch schicksalshaften Pieps-Dinger, wie sie auf Intensivstationen gebräuchlich sind, und die, falls man Pech hat, mit monotonem Geräusch den leider eingetretenen, beklagenswerten Tod des Patienten anzeigen, nun, das wusste er nicht und ich auch nicht.

Die ältere, uns anvertraute Dame machte sich derweil schon durch eindringliches Röcheln vernehmlich. Es klang beunruhigend nach etwas, was der Fachmann Agonie nennt. Der Chef legte seine überaus gepflegten, perfekt manikürten, bewundernswert fokussierten Arzt-Hände mit den Fingerspitzen konzentriert auf den Tisch und sprach: „Ich sollte jemanden anrufen, warum und wie so was geht, hier, Dings, das mit der Impfusion…“, und seine pianistisch-virtuosen Chirurgenhände wählten sensibel den Notdienst an der Pforte. Währenddessen fand ich, einem heilenden Instinkt folgend, die richtigen Schlauchschraubverbindungen doch noch und infundierte der kollabierten Dame flugs und entschlossen zunächst erst einmal Beruhigendes, dann Hilfreiches. – Aah, sie atmete!

Normalerweise ist Atmen kein Anzeichen für etwas medizinisch irgend  Besonderes, durfte in diesem Fall aber als Genesungszeichen wohlwollend gewürdigt werden! Die geblümte Dame erholte sich zusehends und die Kittel-Rosen erblühten zu neuem Leben. – „Puuhhh!“ hörte ich mich sagen, „Chef! Da haben wir uns aber mal echt als Ärzte erwiesen!“ Denn, so ist’s nun mal, was hilft, hat Recht! Unter uns Fachleuten heißt das „evidenzbasiert“, was bedeutet, wenn es hilft, war es gut, sonst möglicherweise leider nicht so.

Aus diesem Arztangsttraum erwachte ich mit Selbstzweifeln. Verhält es sich denn so? Befähigt das gewissenhafte Anschauen von Arzt-Serien im Fernsehen wirklich zu lebensrettenden Maßnahmen? Ganz sicher bin ich mir nicht, und ich weiß auch nicht, ob ich im Sterbenskrankheitsfalle mir selber in die Hände fallen möchte. Andererseits, der Kittel stand mir gut und ich machte eine insgesamt ja  kompetente Erscheinung.

Die geblümte Dame, deren Leben ich, nicht zuletzt durch Mut, Zivilcourage und Wagelust gerettet hatte, war übrigens Frau Frerkes! Ich habe sie dann aus Dankbarkeit geheiratet. Unsere Fernbeziehung – Frau Frerkes lebt ja in Argentinien – würzt unser Geschlechtsleben ungemein. Letzteres möchte ich jedoch als private Mitteilung, gegen entsprechende Gebühr, nur im Privatfernsehen mitgeteilt wissen! Das gebietet die ärztliche Schweigepflicht! Und Arzt, das war ich ja nun mal, im meinem Traum, ist ja nicht ohne! Mein  vielleicht nur vorgespiegelter Chefarzt hat übrigens in der Nähe von Buenos Aires ein Restaurant aufgemacht. Er behauptet auf einer Ansichtskarte, die er mir schickte, es läge „direkt am Jakobsweg“! – Nur: Kann man „Ärzten“ trauen?

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