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Alles geben. Die Wahl in NRW

9. Mai 2010

Als Schule noch bunt war... (Codex Manesse. Leher in Esslingen)

Eine neue (?) Blödsinnsphrase fällt mir in letzter Zeit verschärft auf den Wecker. Zwar leben wir in einer gnadenlosen Wettbewerbsgesellschaft, in der jeder Raffzahn vom Stamme Nimm so viel an sich zu reißen versucht, wie eben reingeht, aber alle betonen, sie hätten jedenfalls „alles gegeben“! Der VFL Bochum ist abgestiegen, weil, so der Trainer, die Mannschaft „im Endeffekt“ (!) eben nicht „alles gegeben“ hätte; dabei hieß es auf der letzten Pressekonferenz doch noch, für den Klassenerhalt wollen man auf jeden Fall unbedingt „alles geben“!

Im Früh-Radio gurren schon die von Heidi Klum säuberlich dressierten Disco-Mietzen, deren Sinnlichkeit, scheints, wohl nie schläft. Sie „geben alles“, zu jeder Zeit und rückhaltlos, um bei Viva oder wo ihr Schnütchen zu spitzen. Halsbrecherisch stöckelt das Leben stotternd auf Stöckel-Pumps: Vorzugsweise traumatisierte Traumfiguren in Spitzenspitzenunterwäsche! Ich möchte eigentlich gar nicht „alles“ von ihnen, mir reichte es schon hin, wenn sie mal etwas Ruhe gäben auf ihrem cat walk. Nicht auszuhalten, das Maunzen und Miauen!

Die aus der Bundeshauptstadt eingeflogenen, auf meiner Dachrinne aufgereihten Besserwisser haben jetzt ihren Song-Einsatz. Bitteschön, die Damen und Herren Schlaubeger: „Denn mach domma einfach det Jerät aus, Mann!“ Ja, danke, Spitzentipp, ditte, aber ich brauch doch Nachricht, wann in Griechenland die Revolution ausbricht! Benötige ich meine Euros noch, oder soll ich alles rechtzeitig verschleudern? Mir sagt doch keiner was! Ich hab schon den Mauerfall und die Wiedervereinigung verpeilt und verbaselt, weil ich da gerade Liebeskummer hatte. Nun möchte ich bei der gesamteuropäischen Revolution wenigstens nichts verpassen. Wenigstens einmal möchte ich Zeitzeuge eines historischen Ereignisses sein, anstatt im breiig-bleiernen Einerlei des Alltäglichen herumzuwaten.

Andererseits bin ich seit meinen maoistischen Steineschmeißerzeiten staatsbürgerlich gereift. Deswegen hab ich heute morgen auch schon „alles gegeben“, nämlich meine Erst- und meine Zweitstimme. Prinzipiell sympathisiere ich mit einem Staat, in dem man auch Piraten wählen darf. Als von fern her verschwägerter Schwipp-Nachkomme des entlaufenen Theologen Magister Wigbold, dem nachmaligen Strategen Klaus Störtebeckers, liebäugele ich nämlich schon mit einem kleinen weißen Totenschädel im schwarzen Feld unserer Nationalflagge! Das wär mal ein kleidsames Staatswappen, oder?

Trotzdem, Politik ist zwar heute weder „ernst“, noch auch nur „die wichtigste Nebensache der Welt“, nein, Politik ist heiter Spaß und Spiel und Narretei, aber trotzdem doch kompliziert wie Hallen-Halma und Hüpfburg-Husten. Zum Beispiel warnte unser liebenswürdig verschusselter, treuherzig verlogene, irgendwo aber auch wieder hochsympathische schwarz-gelbe Landesvater uns unmündig-übermütige Landeskinder heute morgen beim Frühstück noch einmal dringendst davor, mutwillig eine „rot-rot-grüne“ linke Diktatur zu wählen, denn diese bedeute „Schulchaos und Schulden“. Schulchaos und Schulden ist aber nun exaktemang genau das, was wir gerade haben. – Also wie jetzt? Den Wechsel wählen, um das Chaos zu bewahren? Oder mehr vom selben, damit sich was ändert? Als wankelmütig-windelweichem Wechselwähler bricht einem der Examensnotschweiß des intellektuell Überforderten aus: Was ist bloß die richtige Antwort? Und, wie immer, man darf noch nicht mal beim Nachbarn abgucken oder spicken!

Solchermaßen vorverwirrt, betrottet man sein „Wahllokal“ für die Bezirke 2808 und 2807, und steht unmittelbar, wie bei einer Geisterbahnfahrt, inmitten der beschworenen Schul- und Schuldenkrise. Hier wird sie erlebbar. Das Mercator-Gymnasium nämlich, in dessen kalten, grauen, angststarren und mittelmäßig verwahrlosten Wänden der Bürger zur Stimmabgabe schreitet, präsentiert sich als architektonischer Archetypus der Lieblosigkeit, Geldknappheit und klandestinen Jugendverachtung. Wer hier was lernen soll, lasse mal erstmal alle Hoffnung fahren. Von den neon-grau kränklich beleuchteten Wänden tropft das Kondenswasser des Schülerangstschweißes. Man meint, die schrill überschnappende Stimmen demotivierter Lehrerinnen widerhallen zu hören, das dumpfdumme Gelaber von Murat, Aaron und Basti, das müde Gekicher der Mädchen. Gott, können NRW-Gymnasien hässlich sein! Es riecht nach Mathe-Arbeit, nach Verzweiflung und nach Hormonen. Immerhin, am Horizont leuchtet es: Im Sekretariat gibt es schon Abiballkarten…

Draußen hingegen tirilieren Nachtigallen, Feldlerchen, Amseln und Sperlinge tschilpen, Maienluft fächelt kühlen Sonnenduft um frisch Ergrüntes! Warum, warum nur wählen wir denn nicht im Freien, in Parks, am Rheinufer auf den Wiesen und Auen, oder in den Wäldern? Weil da alles schon grün ist?

Leute, bitte, schimpft morgen nicht über die Bevölkerung von NRW: Ich jedenfalls hab bei dieser Wahl alles gegeben!

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„Spätrömische Dekadenz“? Westerwelle im Amok-Koma

26. Februar 2010

Im dekadenten Rom gab es noch intelligente Politiker: L. Ae. Senbeca (ca. 1-65 n. Chr.)

Seine Tollität Prinz Guido! Was man alles von ihm lernen kann! Das Geheimnis des Erfolges zum Beispiel: Nie, aber wirklich niemals darf dir irgend ewas peinlich sein: Entblöße dich als unterirdischer Ego-Krüppel, nerve deine Mitmenschen ohne Gnade und Rücksicht mit dummem Geschwätz, krähe den allerletzten populistischen Mist in die Mikrophone – aber stehe dazu! Finde dich selber grandios, dann tuts der Depp auf der Straße auch! Herr Dr. jur. Guido Hetzerwelle wird schon wissen, was es mit der „spätrömischen Dekadenz“ auf sich hat. Warum soll die sympathische Aknehackfresse aus dem Rheinland das denn nicht wissen? Er war doch auf dem Gymnasium, wenn auch nur als Klassenclown. Außerdem sieht er selbst ein bißchen aus wie Nero, oder wenigsten wie Blondie, Hitlers berühmter kruppstahlblauäugiger Pitbull-Pudel. Spätrömische Dekadenz! Da gings zu wie bei Hempels! Da aß man die Wurst ohne Brot, und das arbeitslose Pack fraß Kuchen! Da versoff man skupellos Oma ihr klein Häuschen, ernannte sein Pferd zum Senator, hofierte Hoteliers und Apotheker, und die dekadenten Politiker waren alle schwul! Ent-setz-lich! Genau fast wie heute!

Da nach Karl Kraus manche Sätze so falsch sind, daß nicht einmal ihr Gegenteil stimmt, habe ich mal in meinem Archiv gekramt und einen Vortrag hervorgeholt, der sich etwas präziser mit jener Zeit beschäftigt, mit den Verhältnissen unter dem brutalen Tyrannen Nero, und mit welcher Taktik man zu überleben versuchte. Im Mittelpunkt steht der berühmte Philosoph Lucius Annaeus Seneca, Lehrer, Mentor und zweitweilig politischer Stelltvertreter des Kaisers. Senecas stoische „Lebenskampfkunst“, eine subtile Defensivstrategie zur Bewältigung des Terrors und der Angst unter der Diktatur, ist noch heute spannend und aktuell. Daß man – gerade zur Zeit der „spätrömischen Dekadenz“ – Politiker und trotzdem intelligent, wenn nicht sogar weise sein konnte, Seneca bewies es…

Der Text von Reinhard Haneld steht im denkfixer-Blog als pdf-Datei zum Herunterladen und Ausdrucken bereit. Es gelten die üblichen OpenSource-Bedingungen.