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post modern blues

30. Dezember 2009

The Raven: Prof. Laurie Gane

Haah! Yeaah! Aah, Aaaaah! – oh, sorry. Jetzt seid ihr unbeabsichtigt Ohrenzeuge eine Quasi-Orgasmus geworden. Quasi, weil nicht wegen Sex, sondern musikhalber. Kennt ihr das, daß ihr ein halbes Leben lang nach einer gottverdammt obskuren, raren, möglicherweise. nicht mal existierenden, sondern bloß geträumten Platte gesucht, geforscht, gegiert habt – und dann, nach Jahrzehnten, steckt sie, aus den unermesslich gnädigen Weiten des Internet angeschwemmt, und nach dem ihr alle Hoffnung längst aufgegeben hattet, plötzlich doch noch in eurem Briefkasten. Zitternd fummelt man das Teil mit fickrigen Fingern in den Player: Oh Mann! Ob man das noch immer so geil findet wie als twentysomething?

In meinem Fall war die Sache echt kompliziert. In den Achtzigern hatte ich mal einen Trinkfreund u d Kollegen, einen Captain-Beefheart-Experten und Frank-Zappa-Freak, der, damals machte man so etwas, obsessiv Mixtapes für seine Lieben aufnahm. Oft die ganze Nacht lang; Promille-Pegel und Abgedrehtheit der Mucke korrespondierten dann hörbar. Und so bekam ich eines Montagmorgens (!) ein extrem rätselhaftes Tape von ihm, im Tausch gegen 4 Alka Seltzer, glaube ich, eine Handvoll Songs, die mich dann vom ersten Hören an absolut und für Jahre elektrisierten.

Es handelt sich um eine Art Pilotaufnahme, das Fanal einer neuen Musikrichtung, die sich dann leider nie weiter durchgesetzt hat: Postmodern (oder: „Electronic“) Blues. Strange war nun freilich, daß die Band, die das Album aufgenommen hatte (hatte sie denn?), gar nicht existierte! Es kursierte gerüchteweise zwar ein Band-Name („the enemy within“), aber erstens kannte die wirklich niemand bzw. keine Sau, und ausgefuchste Experten dementierten sogar: Dies seien vielmehr eindeutig Tracks des rettungslos dem Heroin verfallene Fleetwood-Mac-Gitarristen Peter Green; andere raunten, bei dem Gitarristen handele es sich vielmehr um den mysteriösen Anonymus mit dem Pseudonym „The Raven“. Aber wer war das, der Rabe? Manche behaupteten, dieser sei im Wahrheit identisch mit dem komplett irren Gitarristen „Snakefinger“ (stimmte nicht!), der wiederum immer mal wieder verdächtigt wurde, Mitglied der legendären anonymen US-Band „The Residents“ zu sein (stimmt wahrscheinlich), die ja auch eine Art „Postmodern Blues“ spielten, manchmal. – Also wie nun? Und wer? Und welche lade- bzw. bestellfähige Adresse? Ähnlich enigmatisch kam das Album selber daher. Dem Vernehmen nach hieß es „A touch of sunburn“. Nur tauchte es unter diesem Titel in keiner Publikationsliste auf. (Wer konnte ahnen, daß man es zu gleicher Zeit unter dem doofen Titel „Two Greens make a Blues“ hätte bekommen können? Und daß es eine andere Mischung gab, die den nicht minder befremdenden Titel „Nietzsche’s Ass“ trug?)

Gleichviel, ob leichter Sonnenbrand, Friedrich Nietzsches Arsch oder die Zwei Greens (nämlich Peter und Mick) aus der britischen White-Blues-Underground-Szene – selbst die ausgebufftesten Platten-Dealer zuckten bedauernd die Achseln. Ich zitierte flehend meine Lieblingszeilen, spielte die Riffs auf meiner Luftgitarre, grölte sogar den einen oder anderen Chorus: Niemand konnte mir helfen; sobald ich die Musik dann auch noch enthusiastisch beschrieb, tippten die meisten, die ich damit belästigte, auf Drogenmissbrauch meinerseits, und daß ich mir dieses Zeug mit Sicherheit nur eingebildet hätte. Hatte ich aber nicht!! Die Platte gibt es wirklich! Und sie ist ein Meisterwerk!

1987 schrieb der Melody Maker, die Platte klinge wie ein Duett von Dr. John und Tom Waits, der mit Dr. Feelgood jammt, nur mit halber Geschwindigkeit abgespielt. Wenn man sich dazu vorstellt, daß Captain Beefheart die Lyrics durchs Megaphon nölt und die Residents den Background-Chor geben, kommt das hin – nur funkiger, treibender, verschwitzter, härter, durchgeknallter, mit unterleibsaufwühlenden Gitarrenriffs, elektrisch verstärkter Blues-Harp und verfremdeter Schweineorgel, und ganz viel mysteriös dröhnender, pumpernder und pluckernde 80er-Casio/Atari-Elektronik, dazu neunmalklug-düstere Texte, die zwischen Caravaggio, Nietzsche und Science-Fichtion-B-Movie mäandern und vermutlich von The Raven inspiriert sind, jenem Kunstprofessor aus South Kensington, den nur seine Mutter und seine Studenten unter dem Namen Laurie Gane kannten. Über ihn heißt es im Booklet: „The Raven kann lesen und schreiben; seinen Hegel spart er sich aber für die Rente auf“.

„I made a call at the endzone / but there was nothing to hear / as just a pre-recorded message: / no one at home…“ raunt es verstörend aus einer von heulendem Wüstenwind untermalten menschenleeren Zukunft. „Post modern blues“ beschrieb eine Zukunft, in der die Menschen keine persönlichen Erinnerungen mehr besitzen, nur gemeinsame Fernseh-Erinnerungen; sie bewohnen ihre Häuser als Touristen und haben allen Grund für zeitgenössischen Blues.

Alles in allem wurde die Zukunft dann doch etwas weniger schlimm: Der Kunstprofessor und Psycholinguist Prof. Laurie Gane vom Roayal College of Art ist sogar über facebook erreichbar. Ob er schon Hegel liest? Ich hab ihm mal geschrieben – vielleicht erinnert er sich noch an die Zeit, als er der Rabe war? Oder wird nur der Anrufbeantworter dran sein, der durchs Megaphon röhrt: No one at home…?

I finally got the post modern blues


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Bubikopf, Einschlafbier, demokratischer Fisch-in-Tomatensauce (Ein Gespräch über Madonnas Achselhaare)

10. Juli 2009
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Stilikone Madonna in der Neigungsnische (Foto: Lee Friedlaender, PLAYBOY 1985)

Innerfamiliär schätzen wir das bekannte Gute Gespräch. Neulich beim Abendbrot haben wir uns in der Runde z. B. lange über Madonnas Achselhaare unterhalten. Einig war man sich insofern, daß Madonnas Style heute – also dieser Typ abgemagert-hager-sado-sehnige Fitness-Tucke – uns ja nun überhaupt nicht anmacht. Die Frau sieht aus wie eine sm-hardcore-lederlesbische Turnlehrerin im Stadium fortgeschrittener Unterleibsverbitterung! Dassisdonnich schön! flöteten wir unisono.

Ich gab dann damit an, daß ich mal das PLAYBOY-Heft von 1985 besessen habe, worin nachträglich Aktfotos der 17-jährigen Karriere-Beginnerin abgedruckt waren, die da noch  Madonna Louise Veronica Ciccone hieß und ein reizendes italienisches Pummelchen-Frollein war, dazu südländisch-mediterran, also ungemein großzügig körperbehaart. Auf den künstlerischen (ha!) Schwarzweißfotos, ich erinnere mich erschauernd noch heute, stach ihr flamboyantes, lockig-buschiges, pechschwarzes Achselhaar einigermaßen provokant ins Auge. Unvorsichtigerweise gestand ich, dies damals „irgendwie auch sexy“ gefunden zu haben, worauf die 21-jährige Tochter des Hauses pantomimisch einen Kotzwürganfall andeutete und mich mit weit aufgerissen-überquellenden Augen puren Ekelentsetzens anstarrte, als hätte ich gerade zugegeben, von Sex mit Königspudeln zu träumen. So kamen wir auf das Thema Haare.

Nebenbei, Schwarzweißfotos und Haare: Frau Gülcan Kamps (26, Abitur in Lübeck) hat nicht nur im Fernsehen ihren Brötchen-Prinz geheiratet, sondern auch an der Quizsendung „Was denkt Deutschland?“ teilgenommen. Ausweislich eines Radiomitschnitts ist herausgekommen, was die VIVA-Moderatorin selber denkt. Sie denkt, auf Schwarzweißfotos sind weiße Haare schwarz und schwarze Haare weiß abgebildet. „Du meinst Negative“ hält man ihr daraufhin vor. „Nee, überhaupt nicht“, antwortet sie da, „ich mein das gar nicht negativ…!“

Haare gehören zu den evolutionär eigentlich längst überholten Sachen, um die Menschen ein dennoch riesiges Gewese machen. Es wird unentwegt gestylt, gelockt, getönt, gesträhnt, geföhnt, gegelt, gescheitelt, wachsen gelassen, abgeschnitten (stufig!) oder wegrasiert, aufgetürmt, verfilzt (dreadlox), kunstverstrubbelt (Schlingensief), geflochten und noch weißderteufelwas. Manche, wie der Internet-Prominente Sascha Lobo, gelen sich das Haupthaar zu einem feuerroten Irokesen und können ganz gut davon leben. Andere fühlen sich morgens suizidal, weil „einfach die Haare nicht sitzen“. Der aus haarigen Verhältnissen herausgewachsene Herrenfrisör Udo Waltz ist zur Kanzler-Beraterin und gefragten Society-Tucke aufgestiegen, weil er sich gut mit Ministerinnenfrisuren auskennt.

Frisuren sind derjenige Teil einer Weltanschauung, den man sehen kann: Glatzen (Skins, Neo-Nazis, Werbe-Fuzzis) und Vokuhilas (Zuhälter, Fußballprofis, Muckibuden-Betreiber) können bei der sozialen Einordnung des Gegenübers helfen; auf Heavy Metal-Konzerten sieht man im Schnitt 35% mehr Haare als bei einem Gig von Placebo oder Jan Delay. Ob Haare als hip oder gar „sexy“ empfunden werden, hängt von der Stelle ab, wo sie wachsen, und auch noch von Mode. Ich wuchs in Zeiten auf, als der Schnauzbart en vogue war, den später nur noch Polizisten trugen, leistete mir dann, weil es mit meiner Nasenlänge harmonierte, einen Bart à la Frank Zappa; noch später erwog ich die Anpflanzung eines Grunge-Ziegenbärtchens, was mir aber meine Frau geschmackvollerweise untersagte.

In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts hielten es die subtilsten Erotiker der Republik für ungemein erregend, wenn eine Dame einen sog. Bubikopf trug. Es gab eigens von irgendeiner Hochkulturzeitschrift eine Umfrage unter Geistesgrößen, was man von so einer neumodischen Kurzhaarfrisur denn zu halten habe. Sogar Thomas Mann hat es sich damals nicht nehmen lassen, einige verschwiemelte Gedanken hierüber ins Schriftdeutsche zu stelzen. Noch Ernest Hemingway, der alte Männlichkeitshaudegen, Entenjäger, Kriegstrinker und Frauensäufer, kriegte sich erotisch gar nicht mehr ein, wenn er davon schrieb/träumte, mit einer Kurzhaarfrisur tragenden Frau zu schlafen. Es kam vermutlich seinen krypto-schwulen Neigungen entgegen; das Irisierende, Oszillierende und Irritierende von Mädchen mit Jungshaaren hat ihn genauso wie Thomas Mann schwer angefackelt.

Heute finden Mädels aller Frisurklassen und Haarkreationen die verdiente erotische Beachtung, vorausgesetzt, sie beherrschen den Umgang mit einem lady shaver. Das allerdings soll ein Muß sein. Die Rasierklingenschmiede und Rasierschaumschläger reiben sich schon seit einiger Zeit die geschäftigen Hände: Die großflächige Epilation haarwuchsverdächtiger Körperregionen wird im 21. Jahrhundert zur zivilisatorischen Selbstverständlichkeit und ästhetischen Hygienepflicht! Eine befreundete Vielbeschäftigte, die sich freimütig gewisse exzentrische Entspannungshobbys leistet, berichtete mir jüngst, im zeitgenössischen europäischen Porno-Film seien mittlerweile auch die meisten Männer bereits Vorreiter glattrasierter Rundumtadellosgepflegtheit, und zwar durchaus auch, wie die Freundin mit hochgezogenen Brauen erläuterte, „unten rum“! Der ethno-anthropologische Beobachter registriert diese Entwicklung mit wohlwollendem Interesse.

Ein anderer Freund überraschte mich mal mit der emphatischen Behauptung, es sei für ihn „Demokratie“, daß er das verbriefte Recht hätte, nachts um drei Uhr noch eine Dose Fisch-in-Tomatensauce zu öffnen und zu seinem Einschlafbier genüsslich auszulöffeln. Als ich einwendete, meines Wissens hätte noch kein Diktator der Welt Fisch-in-Tomatensauce verboten, noch auch den Nachtverzehr desselben reglementiert, patzte er zurück, ich hätte eben einen anderen Freiheitsbegriff. – Für mich ist eher Demokratie, daß in der offenbar strikt geordneten und durchkategorisierten Welt der Internet-Pornographie inzwischen schon wieder auch für passionierte Behaarungsinteressierte eine Nische mit Bildern und Filmchen bereitgehalten wird, die Frauen von der Art der jungen Madonna Ciccone beinhalten. Vorbei die Zeit der genormten Einheitserregung! Laßt hundert Blumen blühen! Bzw. Neigungsnischen locken. Übertrieben finde ich bloß, wenn Männer sich neuerdings nicht nur die Beine rasieren, sondern auch die Brauen in Form zupfen. Solch effeminierten Spleen pflegte man meines Wissens zuletzt in der römischen Spätantike, und was aus dem Imperium dann geworden ist, wissen wir ja.

Den PLAYBOY mit den Madonna-Bildern habe ich irgendwann eingetauscht, gegen eine Mundharmonika. Zum Glück kursieren die Fotos aber noch im Internet.