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Das Menschsein / Autoreifen / Anenzephale Menschenfrösche

25. Juni 2009
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Menschenfrosch im Weckglas: Anenzephaler Embryo

Trennungen und Scheidungen mögen das Dasein würzen, sie haben aber den Nachteil, daß man oft nicht nur Sorgeberechtigungen für Kinder, Hunde und Fahrräder, sondern auch bis zu 50% seiner Plattensammlung zurücklassen muß. Hinzu tritt erschwerend die sog. Altersvertrottelung, die nicht, wie der irreführende Name andeutet, „im Alter“ geduldig auf einen wartet, sondern schon mit den allerersten Filmrissen nach durchzechter Nacht ihr Zersetzungswerk beginnt, sodaß einem beispielsweise Bandnamen und Albumtitel komplett entfallen. Einfach weg, futschikato, leider unwiderruflich gelöscht!

Meine diversen Ex-Frauen werden natürlich den Teufel tun, anstatt mir mal auf die Sprünge zu helfen mit diesem einen Song, den ich in den 80ern besaß: Also, ich glaube, es war ein Duo; der elektronische Automaten-Beat ziemlich schlicht, technisch anspruchslos, und dazu greinte ein Mann in gedehntem, weinerlich-nörgelndem, näselnd-schnarrendem Grinzing-Wienerisch ungefähr folgende Zeilen:

 „I wär sso gerrn aan Autoreifn,
i wär so gern a Bonbonnng,
i wär sso gerrn a Briefmarkn
i wär sso gerrn a Tresorrr,
 norr das Menschsein,
das Meeeenschsein peinigt mich gar sehrrr.
 Aan jedr Autoreifn hat an Profil (i hoab koaans, i hoab koaans)
Aan jedr Bonbonng hat G’schmack (i hoab koaan, ich hoab koaan)
A jede Briefmarken hat aan Ziel ( i net, i net)
A jedr Tresorr hat oan Geheimnis (i waas koans, i woas koans…)
 Ja, das Meeenschsein, das Meeenschsein,
das peinigt mich gar sehrrr!“

 Immerhin konnte ich mir diese Zeilen noch merken! Wahrscheinlich, weil’s stimmt: Menschsein peinigt! Nicht wie Zahnschmerz oder Liebesblues, sondern wie in dem einen Traum von mir, wo ich, als Sechsjähriger im Frotteeschlafanzug, unter Aufsicht von Professor Theodor W. Adorno im Kinderzimmer eine Philosophie-Klausur schreiben sollte, aber auf nur zweilagigem Toilettenpapier, mit abgebrochenen Wachsmalstiften, auf einem groben Sisalteppich als Schreibunterlage, und unten am Couchtisch warteten meine aufgeregten Eltern und tranken mit Adorno Portwein oder Stachelbeerlikör, weiß nicht mehr, kurz: eine kaum lösbare Aufgabe, ein hoffnungsloses Unternehmen! Menschwerdung: Vergiß es! Menschsein? Kaum denkbar. Menschbleiben: Schön wärs!

 Um sich mal das ganze unsagbare Ausmaß des Jammers vor Augen zu führen, der katastrophalen Bedrohlichkeit und fortwährenden, eminent beängstigenden Gefährdung zerbrechlichen Menschseins, empfiehlt es sich, gerade für Hypochonder wie mich, den josefinischen Narrenturm in Wien inwändig zu besichtigen – genauer, die pathologisch-anatomische Sammlung, die man dort, im festungsähnlichen ehemaligen Irrenhaus von 1784, Interessierten zeigt: Ein melancholisches Panoptikum der Missbildungen und Verkrüppelungen, der Geschwüre, Infektionen und Tumoren, der Seuchen, Epidemien, Mangel- und Armutskrankeiten, aber auch der mörderischen Scharlatanerien und bestialischen Quacksalbereien, mit denen man einst, voll guten Willens und Gewissens, Kranke traktierte. Draußen das morbide Wien im Dauerregen, drinnen blasse junge Mediziner in weißen Kitteln, die dir mit wissenschaftlicher Leidenschaftslosigkeit (und im gedehnten Zentralfriedhofs-Wienerisch der Berufsmelancholiker) den Horror organischer Existenz präsentieren, die Schrecken von Rachitis, Tuberkulose, Syphilis, Lues und Lupus, Krebs und Beulenpest; lepröse Nekrosen, morose Karzinome, groteske Geschwülste, wucherndes, fressendes, faulendes Gewebe, in Weingeist oder Spiritus, als Schnittpräparat, Skelett oder Paraffin-Moulage von Körperteilen, die von eigens dafür angestellten Pathologen liebevoll mit den Symptomen unaussprechlicher Hautkrankheiten bemalt, bepustelt, gesprenkelt, gefleckt, gescheckt wurden. Dann weiter, die Herrschaften, immer Dr. Frankensteins gepiercten, bleichen Gehilfen nach. Der weiße Kittel sei das Fanal!

 Regale voller Einweckgläser, Abteilung Missgebildete: Da schwimmen sie im imaginären Fruchtwasser grünlich trüber Traumlosigkeit: Anencephale Föten, hirnlose Menschenfrösche, blicklos ein-äugende Zyklopen-Babys, stumm versunken für alle Zeit im Abgrund zwischen Tod und Leben, kleine, sanfte Albtraumkarpfen, die das Menschliche knapp nur verfehlten, Nimmerlein-Aliens von Nirgendwo, wesenlose Schwebewesen, eingelegt in Vergangenheit, die nie Gegenwart wurde. – Und dort, in den Vitrinen: Namenlose Knochenqual, Skelettgrotesken, schaurig verdreht, verkrüppelt, rachitische Körperkarikaturen, die sich noch als Gebein wie in Höllenqual drehen, winden und die kleinen Krüppelfäuste schütteln gegen einen schweigenden Himmel und einen sadistischen Gott. Meine Damen und Herren – Das Menschsein! Ein Krampf, ein Gekröse, Gekrüppel und Gekrebse. Mann, Mann, mir wird blümerant! 

 Was die allgemeine Hinfäligkeit, Kränklichkeit und Skrofulösität des Organischen im allgemeinen, Hunger, Aremut und Dreck im besonderen nicht schaffen, den Rest also, den besorgten die Ärzte: Wenn sie die Kavernen tuberkulöser Lungen mit Amalgam (!) oder flüssigen Wachs verfüllten, wenn sie Kranke zu Tode röntgen oder vermeintlich renitente Irre mit Wasser-, Kälte- oder Zentrifugenfolter torturierten.

 Wieder draußen. Mir war nach starckem Weinen. Ach, ach: Wir armen Menschen. Meine Tränen mischten sich mit dem niederösterreichischen Dauerregen. An diesem Abend mußte ich viel Wein trinken, bis ich breit war – wie ein Autoreifen. Das Menschsein!

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Traumlos im Fruchtwasser: Eingelegt in Vergangenheit, die nie Gegenwart wurde

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Ostern: Ein Vorschlag zur Güte

9. April 2009
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Ich bin gegen Kreuzigungen!

ICH MÖCHTE DAS BITTE NICHT!

Ich bin, schon von Berufs wegen, eigentlich aufgeschlossen, aber ich fürchte, an mir würden tausend Missionare zu schanden werden, ein Burn-Out-Syndrom, eine Sinnkrise oder das nackte Grausen bekommen. Glasperlen, Rosenkränze, gute Worte und frohe Botschaften scheinen an mir verschwendet. Ich bin da gar nicht stolz drauf. Ich meine, meinen Beruf ergreift man ja nicht, wenn man nicht einen Faible für komplett abgefahrene, spinnerte, irre oder um mehrere Ecken herum gedachte Hirngespinste besitzt. Ich fieberte bei den Abenteuern von Hegels „Weltgeist“ mit, auf seiner langen Reise „zu sich selbst“. Von Leibnitzens irgendwie seifenblasenartigen „fensterlosen Monaden“ hab ich geträumt; mit Descartes’ Captain Cogito hab ich auf der Brücke der Körpermaschine gestanden, mit Husserl das „reine Bewußtsein“ gesucht und mit Heidegger auf „das Sein“ und dessen Raunen gelauscht. Mit Nietzsches „Übermensch“ bin ich um die Häuser gezogen, hab Sartres „Ekel“ verspürt, in Ernst Blochs „Dunkel des gelebten Augenblicks“ einen Filmriss erlitten, ich habe gegen Marcuses „eindimensionalen Menschen“ gekämpft und bin mit Theodor W. Adorno in der Dämmerung dem „Nicht-Identischen“ begegnet.

 Aber es ist Ostern, das mich verwirrt und melancholisch stimmt. Speziell der Karfreitag, weil, Ostersonntag gibt’s ja Lamm, es wird Frühling und alles hat mit Recht gute Laune. Aber Karfreitag? Leute! Ich meine, die Vorstellung von einem gütigen Gott ist ja auf den ersten Blick recht hübsch, aber dann wird der auf eigenen Entschluß hin Mensch und zwar ausgerechnet auch noch als sein eigener Sohn, läßt sich alsbald auf grausamste, viehischste Weise zu Tode foltern, und zwar, wie ich gerade wieder lesen muß, das alles, um mich von meinen Sünden zu erlösen?! Also bitte! Das wäre doch nun nicht nötig gewesen! Ich will gar nicht mit Logik kommen, aber, wenn ich Schuldgefühle möchte, dann halte ich mich an meine Mutter, die es im Erwecken von Schuldgefühlen  mit jeder jüdischen Mamme spielend hat aufnehmen können. Ich möchte nicht, daß wegen meiner Sünden – Ladendiebstahl (verjährt), leichtes Übergewicht, zuviel Alkohol, Eitelkeit und Hoffahrt – jemand zu Tode kommt! Schon gar nicht auf so entsetzliche Weise! Da muß einer gar nicht unbedingt Gottes Sohn sein – ich bin prinzipiell und aus ganzem Herzen gegen Kreuzigungen. Ich will so etwas nicht!

 Und warum sagt Gott beim Jüngsten Gericht angesichts meines im Weltmaßstab eher bescheidenen Sündenkontos nicht einfach „Schwamm drüber!“ und setzt meinetwegen meine Strafe für 500 Jahre zur Bewährung aus, in denen ich auf Erden als Engel herumspuken muß und dabei helfen, Ehen zu kitten, verlorene Geldbörsen wiederzubeschaffen und armen Kindern Fahrräder zu schenken, beispielsweise? Das wäre wenigstens nützlich. Aber so? Ich glaube 50% meiner kindlichen und präpubertären Albträume gehen auf den in Kirchen stundenlang beglotzten zerschundenen Leichnam Jesu Christi am Kreuz zurück. Fürchterlich! Unter dem Einfluß von Kirchen-Liedern wie Paul Gerhardts unvergesslichem Hit „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ wurde ich zum morbiden schwarzen Romantiker, bekam eine schiefe Weltsicht und versäumte, u. a. aus Schuldgefühlen, viel guten, früh-adoleszenten Sex. Ich hätte eventuell sogar die himmlisch süße Angela aus dem Konfirmandenunterricht küssen können, wäre mir Jesu Blut und Wunden nicht dazwischen gefunkt!

 Ich hätte da einen Vorschlag. Zeit scheint ja keine Rolle zu spielen bzw. reversibel zu sein. Wenn Jesus für meine Sünden gestorben ist, die ich erst zweitausend Jahre später werde begangen haben sollen, könnte man das dann nicht auch irgendwie umdrehen? Also ich sündige nicht mehr, mäßige meinen Weinkonsum, treibe mehr Sport und bin charmant zur Gattin – und dafür läßt ER diesen ganzen Geißelungs- und Kreuzigungsscheiß, lebt schön weiter, heiratet seine Maria Magdalena, und Ostern feiern wir ganz einfach wieder Frühling, Fruchtbarkeit und den Beginn der Spargelsaison? Ich finde, damit wäre uns doch allen gedient! – Aber das ist jetzt naiv, oder?