Posted tagged ‘Delirium tremens’

Polaroid aussm Geddo (Gott und ich sehen uns bei „Hart aber fair“)

3. April 2011

Die Gattin und ich gucken "Tatort"...

Nachtschicht im Geddo. Hatte, masochistisches Sonntagsritual, „Tatort“ geguckt bei der Gattin. Nach gefühlten fünf Stunden Thriller fragt eine Figur im Film verzweifelt: „Warum dauert das denn so lange?!“ Die Gattin und ich wechseln einen bedeutsamen Blick mit augenbrauen-induziertem Ausrufezeichen. Wir sind mal wieder Waldorf und Stattner, die ätzenden Grantler aus der Muppet-Show, kommunizieren allerdings nicht mehr durch Aperçus, sondern schon nur noch durch bloßes Augenrollen, verstehen uns aber dennoch blendend. – Dann halt nett „Gute Nacht“ gesagt und aufs Rad. Das Wohnbüro wartet ja, mit Arbeit zudem. Der Magister ist im Dienst. Muss noch einen Vortrag schreiben über „Aufklärung“. – Die Roma im Viertel schleppen den letzten Müll auf die Straße; die Ratten machen sich dran, alles – in den Keller der verschimmelten Bruchbude – wieder herein zu tragen. Ex- und Import, wie immer. Und wie immer frage ich mich, woher, zum Teufel, sie den ganzen Müll herhaben, eine Frage, die, wie die nach Gott, aus metaphysischen Gründen unbeantwortet bleibt. Zur Strafe für einen einzigen sonnigen Frühlingstag (gestern) regnet es jetzt natürlich in Strömen. Der Regen hat gewartet, bis ich auf dem Fahrrad bin. Hundert Meter und ich bin durchnässt. Super. Die Frage wiederum, womit ich das bitte verdient habe, bleibt ebenfalls offen. Gott und ich treffen uns nächste Woche bei „Hart aber fair“.

Mist, ich will bloß nach Hause, aber am Platz vor der Bude liegt „laughing Joe“, wie ich ihn mal getauft habe (obwohl er oft gar nicht lacht, sondern seine Wut ungezielt in die Nachbarschaft brüllt), unser Stadtteilpsychotiker halt, im schlammigen kalten Dreck und lächelt versonnen. Er  lächelt noch wegen der Sonne von gestern, weil er nämlich nach einem Drogenunfall immer ein bisschen zeitverzögert reagiert. Er ist indessen, was ihm erst morgen klar geworden sein wird, bereits kurz vorm Delirium tremens, außerdem total dehydriert und derbe auf Entzug. Schnellschnell einen mittleren Jägermeister gekauft, medizinische Nothilfe geleistet, Filterzigaretten zugesteckt, die ich zu diesem Zweck mit mir führe und dann dem Joe, ich kann ein verdammter Zyniker sein, noch eine schöne Nacht gewünscht. Er lächelt mir nach, meint mich aber nicht (Gott?).

Das Licht an meinem Fahrrad ist kaputt. Ich werde von einem Daimler mit bulgarischem Kennzeichen in der Kurve beinahe umgenietet. Mit dem Licht hatte das aber nichts zu tun. Mit Licht hätte er mich auch über den Haufen gefahren. Gott, vielleicht mit schlechtem Gewissen, rät mir, geistesgegenwärtig einen Haken zu schlagen. Davon gekommen! Beschämt Undankbarkeit gegenüber Gott registriert. Daheim versuche ich, mein Fahrrad in den Hof zu bugsieren. Dort geistert seit Stunden Pitti herum, der ehemalige Hausbesorgersgatte, der, seit seine Frau kürzlich an Darmkrebs verschied, auf würdige Weise von der Rolle ist und still, aber zielstrebig an seinem Untergang arbeitet. Er gespenstert mit wattigem Grinsen durchs dunkle Treppenhaus und referiert mir ungefragt seinen Tagesablauf: „Ehrss geh ich nache Bude, denn bin ich inner Kneipe, dann geh ich nochma anner Bude, denn wieder Kneipe und aahms nomma Getränke holen. Gezz geh ich ma rüber zu die Serben, aber, weisse, ich mach die Musik da nich so…“ Einwurf Magister: „Ich weiß, Pitti, ich weiß!“ „Und denn…“ verrät mir Pitti, dessen Nase eine ungesunde blaue Färbung angenommen hat, „denn zieh ich misch den Schlafanzug an und trink noch’n Bier! Muss morgen um sieben nachm Arzt! Wegen meim Gesicht!“ Ich grüble, durchaus auch in eigenem Interesse, was für Ärzte einem ab einem gewissen Alter mit dem Gesicht zu helfen vermögen, finde aber zu keinem Ergebnis.

Während ich mein Fahrrad verstaue, starrt Pitt im Hausflur auf seinen Briefkasten. Leise resigniert flüstert er mir zu: „Ich krieg ja nie Post. Die Post is immer für die Frau. Aber die is doch tot!“ Ich pack mein Herz auf Eiswürfel und sag: „Yo, Pitti, so ist das wohl. Denn mal noch einen schönen Abend!“ – Ich bin wirklich ein Herzchen! Oben in der Mönchsklause gieße ich mir ein Getränk ein und rufe verabredungsgemäß noch mal kurz die Gattin an. „Na?“ sagt die, „gut nach Hause gekommen?“ „Klar“, antworte ich, „keine besonderen Vorkommnisse“. Dann sind Gott und ich allein. Wie immer haben wir uns nicht viel zu sagen. Schätze, Er und ich werden wieder keine gute Nacht haben.

 

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Arnold Winterseels Jour Fixe (IV): Zwei, drei Flaschen Wein gegen die Gottesferne

20. März 2009
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Maulana Dschelaleddin Rumi: Wein der Unsterblichkeit?

ÜBER GOTT NUR IN DER ICH-FORM!

Freund Fredy Asperger  tüftelte zuhause an einer kniffligen Fern-Mikado-Aufgabe und erklärte sich am Telefon „mit freundlichen Grüßen“ (!)  für „derzeit unabkömmlich“. Die charmante Miß Cutie indes war angeblich kellnern – sie trachtete seit Frühlingsausbruch das Geld zusammenzubekommen, um sich „endlich mal die Nase machen zu lassen“. Hauke und Hinrich, die Aquavitzwillinge, waren zur alljährlichen Windjammerparade nach Kiel, glaub ich, und Oma Hager ließ sich von Sven-Aaron Mangold, unserem Einserjuristen und Gelegenheitsgigolo, zum Frisör kutschieren, um sich eine frische silberfuchsblaue Haarhaube verpassen zu lassen. Ich machte mir also gewisse Hoffnungen auf ein Privatissimum bei meinem Traurigkeitslehrer Dr. Winterseel. 

Tatsächlich waren im Salon außer einigen mir unerheblich dünkenden Komparsen nur Nachbarschaftsmystiker Enver Konopke und Literaturpapst Blankenvers zugegen. Man diskutierte über die These des Sufi-Süffels, der tägliche Konsum „von etwa zwei, drei Fläschchen Wein“ sei in der Lage, die allenthalben beklagte und und ja auch durchaus  beklagenswerte moderne Gottesferne zu mindern. Er stütze sich, so Konopke, da im wesentlichen auf den mittelalterlichen Derwisch Maulana Dschelaleddin Rumi – die Aussprache des Namens meisterte er wie ein gefährliches Abenteuer sowie unter Aufbietung einiger entbehrlicher La-le-las –, und rezitierte dessen unsterblichen Vers: „Bevor es Garten, Weinstock oder Traube gab in dieser Welt / War unsere Seele bereits trunken vom Wein der Unsterblichkeit“.  – Die bereits pränatale Betrunkenheit Konopkes wollte Blankenvers nun zwar gern konzedieren, bezweifelte das mit der Unsterblichkeit aber energisch. Als Vertreter des medizinischen Materialismus, so der Magister, halte er Konopkes des öfteren vermeldete mystische Visionen eher für „Anzeichen eines handfesten Korsakow-Syndroms“, wie es für chronische Alkoholiker typisch sei; auch werde er, bevor er „Gott sähe“, es wohl erst einmal mit ekligen kleinen Tieren an der Krankenhauszimmerdecke zu tun bekommen, prophezeite er gallig. Weitere herzlose Gehässigkeiten des Magisters, Leberzirrhose und Delirium tremens u. ä. m. thematisierend, induzierten bei Enver Konopke ein derart vernichtend intensives, anfallartiges Erlebnis der Gottferne, ja untröstlichen Gottlosigkeit, daß er vor metaphysischer Erschütterung einen Weinkrampf (!) erlitt. Dieses Schauspiel erreichte bereits das Stadium der definitiven Unerfreulichkeit, als mir der wohlgefüllte silberne Flachmann in meiner Jackentasche einfiel, den ich dem in Tränen aufgelösten Gottsucher Konopke umgehend anbot. Er nahm einen tiefen, langen Schluck vom Scotch, stutzte kurz über den ungewohnt rauen Geschmack, entspannte sich dann aber, sah mich mit noch tränenblinden, aber glutvoll verliebten Augen an, stürzte auf mich zu und verabreichte mir unversehens einen nassen, durch den borstigen Schnauzbart in seinem Gesicht noch unausweichlicher ausfallenden Kuß auf den Mund, wandte sich dann um, mit ausgestrecktem Arm und vor Erregung zitterndem Finger auf den Lyrik-Lektor weisend, indem er mit fürchterlicher Stimme schrie: „Da sehen Sie es! Da sehen Sie es!“ Mit diesen Worten stürzte der kleine kugelige Mann – unter Mitnahme meines Flachmannes –  aus dem Zimmer, um, so vermute ich, die neu gewonnene Gottesverbindung nicht gleich wieder abreißen zu lassen.

An diesem Abend, Blankenvers empfahl sich, von dem Zusammenstoß mit Konopke noch konsterniert, schon früh, sprach ich dann in der Tat lange allein mit Arnold Winterseel. Er sagte mir ungemein Kluges, Trostreiches und Beherzigenswertes über die Anmut des Scheiterns, die Blindheit der Gewinner und über die hellsichtigen Untergeher und Wandler am Abgrund; er sprach von den herrlichen Dichtern, die es verschmäht hätten, auch nur eine Zeile zu veröffentlichen, und erzählte von helläugigen Mystikern, die von Gott nur in der Ich-Form gesprochen hätten, weil „sowieso alles Eins“ wäre und Gott in der dritten Person zu nennen schon den Frevel des Dualismus heraufbeschwöre. 

Zum Schluß verriet er mir noch das gnostische Geheimnis, wie man es durch Autosuggestion und Atemkontrolle  vermeiden könne, zu wirken, als sei man von allen guten Geistern verlassen; leider, zu meiner nicht geringen Ernüchterung schloß Winterseel jedoch mit den Worten: „Aber, mein lieber Bruno, das bleibt unter uns, nicht wahr?“  – Tut mir leid, Freunde!