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Die Hose – Ein Albtraum

11. April 2013
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Auf dem Bazar in Afghanistan: Der Autor lässt die Schwedinnen Skizzen zeichnen, damit sie zur Reinigung finden…

 „Ich aber habe mich wegen der Widrigkeiten, die ich erlebt habe und weiterhin habe, in meine Villa zurückgezogen, und manchmal erinnere ich mich einen Monat lang nicht mehr, wer ich eigentlich bin.“

(Niccolò Machiavelli, Brief vom 8. Juni 1517)

Dies trifft voll und ganz auch auf mich zu, das kann ich unterschreiben, insbesondere das mit den Widrigkeiten, weniger freilich die Sache mit dem Villenbesitz, dessen ich nämlich, entgegen anderslautenden Gerüchten, durchaus und noch immer entrate, – und wer ich eigentlich bin, habe ich im Grunde noch nie gewusst, es daher wenigstens auch nicht monatelang vergessen können. Einen Monat lang und mehr indes versäumte ich, etwas zu schreiben. Angesichts der „Welthirnjauche“ (Karl Kraus) von Ennui, Überdruss und Weltekel übermannt, mehr noch, wie „zernichtet“ (Lenz), ja innerlich verwüstet und leer, fehlte nicht mehr viel zur strikt katatonischen Lähmung, zur umfassenden Blödigkeit, zum Karpfentum nunmehr gänzlich nonverbaler Existenz als stumm wesendes, illiterates Gemüse!

Außerdem weilte ich in Afghanistan. Ich verbringe meine frühmorgendlichen Albträume gern in Krisen- und Kriegsgebieten. Jedenfalls glaubte ich, dass es sich um Afghanistan handelte: eine ungepflasterte Ödnis voller unverkleideter Berge, zugig und staubwüst, der Marktflecken aber quirlig und bunt mit allerhand orientalischen Lebensbezüglichkeiten ausgestattet und voll zwielichtigen Volks, Turbanschaffner, Bartfärber, Müll-Mullahs. Emotionalienhändler rollerten auf Onlinern durchs Gassengeviert und schrien Erregungsangebote aus; man bot wohl auch Drogen auf rein pflanzlicher Basis feil, Frauen trockneten Aprikosen unter Schonbezügen (also die Frauen), landestypische Parfums durchwehten die Lüfte – Knoblauch, Ziege, Hühnerkot. Es ging zu wie auf einem Bazar. Was sage ich? Es war ein Bazar! Was von Vorteil ist: In meinen Albträumen kann ich immer total gut laufen! Ich war nämlich mal wieder auf der Flucht, weil die ortsübliche Bevölkerung ihr Bedürfnis ausdrückte, mich massakrieren zu wollen. Kinder und Greise schwangen blutige Messer, man schoss Vorderlader-Flinten auf mich ab und hängte mir Zettel mit Schimpfnamen auf den Rücken.

Die Flucht dauerte und dauerte, der ganze Traum im Laufschritt! Etwaige landschaftliche Schönheiten zu bewundern, blieb keine Minute. Gebirge und Wüsten stellten sich mir in den Weg, talibanesische Söldnersoldaten bewarfen mich mit heiseren Rachen-Schwüren und verlangten auf Urdu hustend mein Blut. Zwar hatte ich keine Angst, aber nach schnödem Ermordetwerden in einem doofen Land stand es mir nun auch nicht. Also weiter, weiter! Durch die Schluchten des Hindukusch! Ich hatte schon einen ganz trockenen Mund. Und dann musste ich auch noch aufs Klo! –

Als ich wieder im Bett war, hatte irgendjemand den Traum für mich weiter geträumt, denn mittlerweile war ich abgehetzt, verschwitzt und ungeduscht in Kabul angekommen, oder Kunduz vielleicht auch, und es hatte sich gerade eine Möglichkeit aufgetan, mich rettungshalber auszufliegen, in ein Land meiner Wahl. Schon wollte ich erfreut auflachen, als eine neue Beklemmung mich überfiel. Siedend heiß fiel mir nämlich ein, dass ich vor Tagen in Kabul, Kunduz oder wo eine Hose in die Reinigung gegeben, aber, wie immer und typisch für mich, den Abholzettel verbummelt hatte. Die Zeit drängte doch! Sollte ich zur Botschaft, einen neuen Zettel beantragen? Konnte ich befreundete Westler bitten, die Hose abzuholen und mir nachzusenden? Einer schwedischen Reisegruppe versuchte ich, mein Problem zu erklären, zugleich eine Skizze verfertigend, den Weg zum Reinigungsladen betreffend, und andererseits in einem Wörterbuch mit zunehmender Verzweiflung und ausbleibendem Erfolg das afghanische Wort für ‚Abholzettel‘ nachschlagend. Leider beherrschte ich auch das Schwedische nicht und endloses Gestikulieren, Skizzieren und In-der-Gegend-Herumdeuten brachte uns nicht weiter. Langsam wurde es wirklich albern!

Was soll ich sagen? Über die Angelegenheit mit der bescheuerten Hose verpasste ich schließlich nicht nur mein Flugzeug, sondern auch den ganzen weiteren Krieg, der inzwischen wohl zu ende gegangen war, denn das zerklüftete Land war nun planiert, asphaltiert und von unangenehmen Bevölkerungen gesäubert. Man hatte aus der gesamten Höllenregion einen riesigen Parkplatz gemacht, allerdings bewacht und gebührenpflichtig. War das nun die ganze Hatz wert? – Als ich beim Frühstückkaffee der Gattin brühwarm von meinem Traum erzählte, erfrischte mich erneut ihr pragmatischer Sinn. Nachdem sie mich angehört und über meine Abenteuer nachgedacht hatte, fragte sie, nach kurzem Schweigen: „Und? Was ist jetzt mit deiner Hose?“ – „Ach“, versetzte ich wergwerfend, „pah! War bloß eine schwarze Stoffhose – sowas ziehe ich doch eh nicht an…

Als Nutzanwendung des Traumes notierte ich in mein Sudelbuch: Blaise Pascal zufolge rühre alles Unglück in der Welt daher, dass die Menschen nicht mehr ruhig auf ihrer Stube bleiben könnten. – Ich möchte diese Einsicht verschärfend übertrumpfen: Das Unglück beginnt schon, wenn Männer aus den Hosen steigen!

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Herrlich Getue und Summen der Nachtigall

12. Januar 2010

Hier summt die Nachtigall...

Wieder mal beziehe ich tiefere Einsichten aus meiner Lieblingszeitschrift „Ohrenkuss“. Ich habe über diese wunderbare Blatt schon 2008 auf Qype berichtet; getextet wird es von jungen Menschen mit Down-Syndrom. Angeblich sind Menschen mit dieser genetischen Besonderheit kognitiv zurückgeblieben und im sprachlichen Ausdruck behindert. Wenn man den „Ohrenkuss“ liest, zweifelt man manchmal, ob das in allen Belangen so zutrifft. Ich erliege dem poetischen Charme der Beiträge immer wieder. In der neuesten Ausgabe, die das Thema „Paradies“ behandelt, schaffen es zwei Autoren mit Trisomie 21, geschätzte 25.000 Qype-Beiträge in zehn Zeilen zusammenfassen. Glaubt Ihr nicht? Wetten das? Hier, bitte:

Nr. 1 (Text: Stefan Zajak)

„… weil ich gerne wandern gehe und da treffe ich bei der Hütte Oben alte Bekannte und dann mache ich einen schönen Radeltour. Dann fahre ich mit dem Schiffsfähre aufs Land hinaus. Und in den Hütten da habe ich ein Mittagessen verdient, dann bin ich mit der Schiffsfähre wieder zurück gefahren. 
Im Urlaub da lese ich am Strand liegend und ich geniesse das Meer das die Wellen schlägt. Und den abend den Sonnen Untergang wenn ich ein Glas Rotwein Trinke da bin ich wie im Paradies! 
Und DANN Wenn ich im Hotelzimmer schlafe da Summt die Nachtigall.“

Nr. 2 (Text: Lars Breidenbach)

„Sonnenuntergang im Meer, schöne Vogelgefischert. Geräusch von Meer, auch Muschel Geräusch, Wasser, labala-Tanzen, (Leute) auch mit bunte Feder, Feder in Haare stecken oder mit Hawaikranz. Herrlich Getue, gibt auch Hotel, Paradieshotel. Gute Essen und Trinken, schöne Ort, nette Leute romantisch, auch sexy, auch Freundschaft. Freundschaft ist gut, ist wichtig Punkt.“

Ja, Punkt. Was auch sonst noch? Gute Essen und Trinken, schöne Ort; wenn’s richtig hoch kommt, noch ein Hotel mit Nachtigall-Gesumme und ein wenig herrliches Getue mit Hawaikranz. – Die Texte antworten übrigens darauf, wie das persönliche Paradies aussieht.

Und wo bleibt die Einsicht? Nun, ich stelle gerade fest, falls Archäologen des 10. Jahrtausends n. Chr. von unserer Kultur kein anderes Zeugnis hätten als Qype-Beiträge, müßten sie da nicht denken, sie blickten in ein verlorenes Paradies? Dessen wohlhabende, anspruchsvolle, gebildete und weitgereiste Bewohner schienen keine anderen Sorgen zu haben als höchstens mal pampigen Service, zu fettes Essen oder eine Erbse unter der Matratze. Ansonsten kultiviert man den kritischen Genießer und Shopper, trifft nette Leute beim labala-Tanzen, trinkt – romantisch, aber auch sexy – Rotwein bei Sonnenuntergang und lauscht dem Summen der Nachtigall. Herrlich, dieses Getue! Da, denkt der Zukunftsarchäologe, würde ich gern leben – auf den paradiesischen Qype Islands, im immerwährenden Paradies der wohl verdienten Mittagessen!

Diese Einsicht ist keine Kritik. Natürlich ist Qype kein Verbraucherportal für Landminen-Krüppel, AIDS-Patienten, Bürgerkriegsopfer und Hungernde, denen vermutlich selbst ein mit nur einem Stern bewertetes Essen noch schmecken würde. Paradies-Vorstellungen sind eben halt auch sehr relativ. Ich empfehle „Ohrenkuss“ Nr. 23/2009, „Paradies“.

Die liebenswürdigste,  philosophischste, an Blaise Pascal und Lao-tse gemahnende Paradiesvorstellung formuliert für mich dies:

Nr. 3 (Text Mandy Kammeier):

Ich lege mich auf den Sofa und schliesse mir die Augen zu singen. Singen ist Mein Paradis. Wenn ich mir die Augen öffnne lache ich über mich selbst weil mir das spas macht. In meinem Zimmer finde ich immer mein Pradedise.“

Auf dem Sofa die Augen schließen, singen, über sich selbst lachen, weil einem das Spaß macht: Wem dies das Paradies bedeutet, der gehört wahrlich schon zu den Erleuchteten…