Schon immer, so lange er denken, bangen und sehnen konnte, wollte Tobi ein Truchseß werden. Kein anderer Beruf kam für ihn in Frage. Sieben Jahre verdingte er sich als wandernder Vorkoster, stieg manchmal befristet zum Mundschenk auf, trug dann den hohen Hut mit Stolz und Würde. „Vorankommen!“ rief er sich schon vor Sonnenaufgang zu, „wer einmal ein Truchseß werden möchte, der rühre sich früh!“ Frisch das Schuhwerk poliert, die Wangen geschmirgelt und dann mutig heraus zum Markt der Praktikantensklaven getrabt! Traf er unterwegs vermeintliche Reichsverweser, riss er sein besticktes Mützchen vom Kopf, entbot den vorschriftsmäßigen Gruß und bekannte ihnen: „Ich lebe nämlich meinen Traum!“ Gleichgültige Blicke fochten ihn nicht an; ein flüchtiges Stirnrunzeln schon nahm er als günstiges Zeichen und Ansporn, seine Anstrengungen zu verdoppeln.
Vom Onkel, dem er ein wenig leid tat, bekam Tobi einen Schubkarren geschenkt, da schaufelte er seine Mappen hinein und schuf sie am Nachmittag zum Bewerbungspostamt, immer ordentlich mit Passbild drin, tabellarischem Lebenslauf und allem Pipapo. „Traumberuf Truchseß!“ schrieb er jeweils darüber, und „Ich bitte höflichst, einer Antwort gewürdigt zu werden“ darunter.
Abends saß er beim Schein der Petroleumlampe am Küchentisch, studierte die heiligen Benimmbücher, memorierte Königslisten (Merowinger, Ottonen, das ganze Programm) oder schneiderte an seiner selbst entworfenen Uniform, denn von einem Truchseß, daran glaubte Tobi fest, erwartete man tadellose Gepflegtheit in Kleidung und Auftreten. Wurde es spät, strich ihm wohl einmal die Mutter übers Haar und bat ihn sanft, den nötigen Nachtschlaf nicht zu vernachlässigen. „Ach, meine gute, liebe Mutter“, sprach der Strebsame dann, „ich muss doch an meiner Zukunft arbeiten, damit ich meinen Traum leben kann!“ Den von Sorgenfalten gesäumten, zu Tränen bekümmerten Mutterblick nahm er schweren Herzens nicht zur Kenntnis. „Wer eine Karriere in meinem Fach anstrebt, der muss es sich sauer werden lassen“, beruhigte er sich, und übersah geflissentlich selbst die sich anbahnenden Anzeichen seiner bestürzenden Gesundheitsverkümmerung.
Das Märchen tritt hier ein wenig auf der Stelle, deswegen führen wir rasch den Vater ein und regen an, ihn ein Machtwort sprechen zu lassen. Also poltert er, der Hierarch und gütige Wegweiser, donnernd in die Küche und aus seinem sympathischen Herrschermund entrollt sich ein Spruchband, auf dem steht in Fraktur: „Bub! Lass ab von deinem Traum! Und wisse – deinen Beruf gibt es nicht! Du gehst jetzt in die Schule wie andere Kinder auch!“
Vergeblichkeitsempfindungen brachen einigermaßen schwallartig über dem Kind zusammen. Drohend erhob sich ein Trauma. In höchster Not brachte das „Große Volksbuch der Seelischen Zerrüttungen“ im Bücherschrank Hilfe: Vatermord nach Professor Freud! Tobi eilte zurück, wo unterm Küchenhimmel noch das väterliche Spruchband hing. Hitzig schrillte es aus dem noch weichen Kindermund: „Bei meiner Seele, Herr Vater! Meinen Traum lasse ich nicht! Eher musst du sterben, und zwar nach Professor Freud!“ Mit diesen Worten der Rebellion zerschnitt er das schriftlich verbietende Spruchband und sprengte hinaus auf die Straße der Freiheit. – Wer nun also in Gottes Namen Verwendung für einen Truchseß hat, der erbarme sich doch des armen Kindes und nehme sich seiner an meiner statt an!
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