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Das Tao der Diva (Sex im Altertum)

16. Juli 2012

Weise Frau: Marlene

Für Kenner. Arte nun wieder: Mitten im Sommerloch bekam ich kostenlos einen meiner Zehn-Unsterblichen-Lieblingsfilme kredenzt: Altmanns The Long Goodbye. Dass so was noch gezeigt wird! Elliot Gould, der beste, schrägste, tragischste, jüdischste und komischste Phillip Marlowe aller Zeiten. Allein die breit ausgespielte Eingangsszene, in der er vergeblich versucht, seine Katze per ausgeklügeltem Dosenfraß-Etikettenschwindel mit falschem Futter zu betuppen, hat Beckett-Format! Beim Wiederanschauen fiel mir auf, dass Gould den bierernsten Marlowe mit der Körpersprache von Groucho Marx beseelt. Das fanden die Fans des humorfreien Humphrey Bogart damals  empörend!

In den Sexigern. Jungvolk, macht mal das Handy mit den Porno-Clips aus und lauscht, wie es früher war! Das ist lehrreich!  In der spät-adenauerschen Holzapfelzeit hießen die Mädchen zum Beispiel noch Renate, Petra, Jutta oder sogar Agnes von. Honigblonde Zöpfe trugen sie oder eine trockene Hippie-Krause und dazu noch neongelbe Nylon-Unterröcke, die bösartig statische Elektrizität verknisterten, wenn man hektisch versuchte, sie ihnen über den Kopf zu streifen. (Gibt es die Bekleidungskategorie „Unterrock“ heute noch? Ich meine – außer bei den Amish People?) Beim Spazieren-Küssen im Wald verdrehten sie die Augen, dass man nur noch das Weiße darin sah. Es war noch Goethe-Zeit und manchmal der blanke Horror. Die Beatles wollten bloß meine Hand halten. Heidrun auch. Mehr war nicht. Wilhelm Reich empfahl aus sozialpolitischen Gründen dringend sexuelle Befriedigung, sagte aber leider nirgends, wie und mit wem. Zum Äußersten, dem Geschlechter-Verkehr kam es natürlich nicht; in der Tanzschule wurde unerbittlich „Hey Jude“ gespielt, wozu man Ingrid und Gudrun andauernd auf die spitzen Schuhe trat und vor lauter purem Selbstekel auf der Oberklippe und in den Handflächen schwitzte. Man muss sich das vorstellen: Man war Zeitgenosse von Bob Dylan und Lou Reed – und ging in die Tanzschule! Slow-Fox und lateinamerikanisch Standard. Gott war offenbar tot oder senil.

Blindbacken. „Der Aufschub bildet das Wesen des Lebens.“ (Jacques Derrida) – Stimmt vielleicht, für notorische Prokrastinierer wie mich sowieso. Man könnte aber auch sagen, Leben ist wie Blindbacken. Blindbacken bedeutet, so habe ich gerade von der Gattin gelernt, dass man zum Beispiel Blätterteig hat, als Trägermaterial für etwas Leckeres, und den backt man erstmal vor und belegt ihn dabei, damit er nicht vorzeitig aufgeht, mit Blindmaterial, zum Beispiel Kichererbsen, die später keine Rolle mehr spielen, und erst dann kommt das Eigentliche auf den Teig, wobei dieser Zeitpunkt im Leben leider fast nie eintritt, denn das Eigentliche, zum Beispiel Blaubeeren, Ziegenkäse und Mango-Chutney, kommt immer zu spät. Einfacher Syllogismus: Das Leben ist im Wesentlichen halbgarer Blätterteig mit verbrannten Kichererbsen – also immer im Aufschub. Erfüllung ausgeschlossen. Die Hoffnung machts. Wir tanzen in einen Morgen, den es nicht gibt. Immerhin haben wir Kichererbsen.

Yüz yıl uyuyan masal prensesi. Etwas kompliziert auf türkisch, auf deutsch einfacher: Dornröschen. Ich hätte nie gedacht, dass Märchen für mich noch mal erkenntnisfördernd sein könnten, aber genau das ist es: Azizze, 19, Abiturientin, meine Nachhilfeschülerin, mein teilzeitweise adoptiertes Sorgenkind, ist Dornröschen! Sie tut nichts, sie weiß nichts, sie interessiert sich Null für gar nichts. Sie schläft einfach, zehn, zwölf, vierzehn Stunden am Tag, das ist ihr Existenzmodus, schön, sanft, unberührt von jeder Art Leben. Sie braucht nicht mal ein Kopftuch. Weltenentrückt im begriffslosen Schlummer, wie die narkoleptische Prinzessin aus Grimms Fantasy-Repertoire. Alles, was sie zu wissen müssen glaubt, steht im Koran. Den sie freilich nicht wirklich versteht, denn sie kann ja kein arabisch, das allerdings dann immerhin auswendig. Irgendwann, vielleicht in hundert Jahren, kommt die Erweckung resp. Erlösung. Wenn diese die Form eines Prinzen annimmt, wird das evtl. in Kauf genommen. Und ich habe sie trotzdem durchs Abi gepaukt! Ich möchte dies als dezente Eigenreklame verstanden wissen. Mag. Kraska: Ihr Mann für aussichtslose Fälle!

 Marlene. Manchmal ist das Leben wie der MDR: Ein Idiotenprogramm für überalterte Debile mit habituellen kognitiven Defiziten. Ein jeder kennt das gut: Es gibt Tage, da glaubt man, von lauter Schwachköpfen umgeben zu sein. Aber, bitte, Vorsicht: Eine gefährliche Situation! – man vergisst nämlich darin leicht, dass man selber auch keineswegs die hellste Birne am Leuchter ist. Dieser Irrtum ist so verbreitet, weil er im Alltagsleben einfach unmittelbar plausibel erscheint: Ein vom Hirn-Schimmel bedrohter katholischer Klotzkopf bekommt den Büchner-Preis, obwohl er nachgewiesenermaßen nicht einen einzigen korrekten deutschen Satz zustande bringt. Ein Philosophieprofessor macht Weltkarriere, während er zerebral seit Jahren oder Jahrzehnten im Koma liegt. Ein lausiger Gurkenhobel-Propagandist, der seine Weltlaufbahn vor dem Neuköllner Karstadt begann, wird millionenschwerer TV-Moderator und gefeierter Quizmaster. Nur man selbst, das genuine Originalgenie, bleibt zurück, wird nichts, verdient nichts, und keiner kennt einen. Ist das nicht empörend? – Ach, eher nein. Machen wir uns nichts vor: Ruhm ist für Idioten. Als Maximilian Schell das Kunststück vollbrachte, eine Film-Doku über die Dietrich zu drehen, ohne eine einzige Bild-Aufnahme von ihr zu haben, teilte die Diva mit brüchiger Stimme am Telefon mit: „Über mich wurden schon 50 Bücher geschrieben, Ich lese die nicht. Ich gehe mich einen Dreck an.“ Womit ihr Genie endgültig bewiesen ist.

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Schöner Sterben: Operntod mit Kuschelrock

30. Januar 2010

Gestern am späten Abend habe ich arte eingeschaltet. Gar nicht mal, um mich hochkulturellen Bedürfnissen hinzugeben, sondern weil ich eigentlich die dritte Staffel der von mir geschätzten Krimi-Serie „KDD“ sehen wollte, die man ins arte-Nachtprogramm verbannt hat, damit das nur Spezialisten gucken und die Quote hübsch niedrig bleibt. Man will die Serie nämlich wegen Intellligenzüberschuß einstellen. Egal – es lief aber jedenfalls noch eine Übertragung aus der Pariser Bastille-Oper, und weil Oper eine so schön bizarre Kunstform ist, blieb ich daran hängen. Es gab „Werther“ von Jules Massenet.

Man befand sich bereits im III. Akt, also, wie es im Sport heißt, „in der Schlussphase“. Titelheld Werther, von der Unerfüllbarkeit seines Liebesleidenschaftsbegehren, das schöne, aber vergebene Fräulein Charlotte betreffend, gründlich erbittert, hatte bereits die Selbstentleibung erwogen und sich zu diesem Zweck mit Pistolen totgeschossen. Der neue deutsche Star-Tenor Jonas Kaufmann brachte diesen beklagenswerten Zustand vollendeten Suizids nicht zuletzt durch die angemessene Blutüberströmtheit seines weißen Hemdes hervorragend zum Ausdruck! Auch die billigen Plätze hinten oben, und selbst wir Fernsehzugeschaltete im Ausland konnten uns von der irreversiblen Vergossenheit des Wertherschen Herzblutes zweifelsfrei überzeugen.

Doch anders als in Goethes Romanvorlage ist dieser Werther hier offenbar kein Sensibelius und Weichei, sondern ein harter Hund. Gescheitert, ungeliebt und totgeschossen läuft er erst zu richtiger Form auf, schüttelt die jungdunkelblonden, Frauen zum Schmachten bringenden Locken und es ist ihm – im Grunde gewissermaßen post mortem! – nach Singen zumute! Das ist erstmal nichts sooo Ungewöhnliches. In Opern wird beim Sterben meistens und gern noch ein wenig gesungen, allein oder mit anderen. Die edelmütige Nobel-Kurtisane Violetta Valéry (Diagnose Lungen-TBC im Endstadium) singt beim Hinscheiden, nachdem sie einen schweren Hustenanfall absolviert hat, im III. Akt von Verdis „La Traviata“ noch eine üppig herzbetörende Arie resp. ein finales Trio mit Alfredo und Vater Germont. Bon. – Bei Massenets „Werther“ wird’s aber selbst mir ein bißchen zu bunt: Der so gut wie schon lange tote Werther, man faßt es nicht und muß beinahe lachen irgendwann, singt und singt und singt, bis endlich, von der Sterbesingerei alarmiert, Charlotten hinzukommt, Werthern gesteht der Verstörten singend seine grenzenlose Hingegebenheit, das Fräulein beginnt daraufhin nachdenklichkeitshalber ebenfalls zu singen, es kommt, nach einigem motivischen Hin und Her, zum innig-sinnlichen Singe-Duett stimmlicher und sozusagen nachträglichtragischer Liebesverschmelzung, die hinwiederum singend und sterbend gefeiert wird, wobei das musikalische Liebessspiel nach Beendigung der Schlussphase, um mit dem Sport zu sprechen, nun aber doch schon deutlich in die Verlängerung geht.

Überschlägig dauert es bei Werther und seiner nun reumütig doch rückhaltlos zurückliebenden Lotte eine geschlagene Viertelstunde vom Todesschuß bis zur Einsicht, daß nun mit dem Gesang aber auch mal gut sein muß!

Jemand, der mein Interesse teilt, aber mehr Zeit hat, sollte mal ein Ranking entwickeln, meinetwegen fürs Fernsehen mit Jörg Pilawa oder Günter Jauch aufbereiten, in dem die bekanntesten Opern mal nach der jeweiligen schieren Länge ihrer vokalmusikalisch begleiteten Sterbeszenen geordnet werden. Gern erstünde ich dann einen Zusammenschnitt: Sterbeoper statt Kuschelrock. Soviel Morbidität muß sein, und man hat gleich den passenden Soundtrack parat für verschiedene ausgefallene Lebenssituationen.

Zum Beispiel könnte die Platte mit dem Sterbegesinge laufen, während man am Küchentisch vom Laptop seine E-mails liest, in deren einer man, wie ich kürzlich, aufgefordert wird, in Doktor Roger Kuschs Sterbeverein „SterbeHilfeDeutschland e.V.“einzutreten. Das soll 100,00 Euro im Jahr kosten oder, für Kurzentschlossene, „einmalig 1000,00 Euro bis zum Lebensende“, was dann, hihi, händereib, wahrscheinlich ja schon recht bald eintritt. Was man für dieses Geld genau bekommt, wird nicht recht deutlich, auch nicht auf der Homepage der Sterbe-Freunde&Helfer. Die Website www.kuschsterbehilfe.de (ich hatte erst „Kuschelbeihilfe“ gelesen!) wird auch nicht konkreter.

Feststeht, der Herr Dr. Roger Kusch, ehedem Justizsenator in Hamburg und nachmaliger semiprofessioneller Sterbehelfer, hat in der Öffentlichkeit einen Ruf, der, hm, sagen wir: verbesserungswürdig erscheint. Andererseits wird in den Medien natürlich gegen jeden gehetzt, der nicht der perfiden christlichen Ideologie vom Freitodverbot anhängt.

Bleibt vorerst festzustellen: Die Geschäfte des Herrn Kusch sind nach Verbraucherschutz-Kriterien schwer zu bewerten: Kunden, die damit positive, befriedigende Erfahrungen gemacht haben, werden naturgemäß aus eigenem Erleben keine Sternchen mehr vergeben können. Ohne dem Dr. Kuscheltod etwas Explizites anhängen zu wollen: Mir wäre es lieber, es müßte solche obskuren Vereine bzw. Geschäfte gar nicht geben. Ich persönlich lebte (und stürbe) am liebsten in einem freien, laizistischen Staat, in dem es freundlicherweise mir selbst überlassen bliebe, wie und wann ich abtreten möchte, ob nun versehentlich („natürlich“), mit einer Plastiktüte über dem Kopf, einem Opiumpfeifchen zwischen den blauen Lippen, oder, im Extremfalle, blutüberströmt, unter Absingen einer eindringlichen, mit einem Pistolenschuß eingeleiteten Opernarie.