Die Stimmung war gut, nämlich voller Schadenfreude: Man hatte Hauke und Hinnerk, den Aquavit-Zwillingen, weisgemacht, nach dem Endspiel der Frauenfußball-EM würde im Sportfernsehen live das Trikottauschen übertragen, und unsere beiden nordfriesischen Dorftrottel hatten tatsächlich volle neunzig Minuten Stillsitzen durchgehalten, in nervöser Ruhigstellung wie Zappelphillip auf Ritalin, nur um sich dann, düpiert und betrogen, unter schallendem Gelächter des Salons mit Erdnüssen bewerfen lassen zu müssen.
Traurigkeitslehrer Arnold Winterseel, mein verehrter Mentor, warf, wie immer leise und melancholisch in sich hineinhorchend, aber doch perfekt artikulierend, eine Frage in den Raum, die uns alle stutzen machte: Ob der Missverstand der Aquavit-Zwillinge denn nun „tragisch“ zu nennen wäre? Hm. Mehrheitlich drehte man den Kopf nach Sven Aaron Mangold, unserem Einserjuristen und Bescheidwisser, der auch sofort aufstand und, als stünde er vor Jörg Pilawa und würde gleich Millionär, herunterschnarrte:
„Das Tragische ruht daher ebenso wie das Komische auf einem Kontrast desjenigen, was geschieht (des Ungerechten im Tragischen), mit dem, was eigentlich geschehen sollte. Der wesentliche Unterschied zwischen Tragik und Komik ist, dass das, was geschieht, im Tragischen ein Leiden, im Komischen dagegen nur eine Torheit ist. Da nun – nach der Theorie des Aristoteles – Tragik im wesentlichen durch die Einsicht in diesen Kontrast entsteht, so muss ein gemischter Eindruck entstehen. Das unverdiente Leiden und der Untergang der tragischen Person, der Sieg des Geschicks (oder der „neidischen“ Götter), ist ein Triumph der Ungerechtigkeit und bringt als solcher das Gefühl menschlicher Ohnmacht dem „großen, gigantischen Schicksal“ gegenüber hervor.“
Die Kategorie des unheilbar Doofen hat Aristoteles leider nicht untersucht. Unmöglich hätte er, so ließ sich Winterseel vernehmen, voraussehen können, daß der Begriff des Tragischen (ebenso wie übrigens etwa der Begriff „Ikone“) im 21. Jahrhundert endgültig unter die analphabetischen Press-Quatschkindsköpfe gefallen und dort inflationär der völligen semantischen Verwahrlosung anheimgefallen sei bzw. wäre, je nachdem. Jeder Unfall nämlich, jedes tödlich endende Mißgeschick, und sei es noch so lachhaft, albern oder bescheuert, so Winterseel, werde heute „tragisch“ genannt. Heute würde man mit Sicherheit selbst den Tod von „Mama Cass“, der dicken Sängerin der 60er-Jahre-Singsang-Gruppe „Mamas & Papas“ („California Dreamin’“), die im Suff an einem Schinkenbrötchen erstickte, „tragisch“ nennen! Wenn einem Menschen heutzutage versehentlich das Sterben unterläuft, gleichviel, auf welche bestürzend triviale Weidse, muß das ja einfach „tragisch“ sein. „Dumm gelaufen“, „idiotisch“, „unnötig“, „selbst schuld!“ – das sind alles Bezeichnungen, die man da nach sterbepolitischen Korrektheitsmaßgaben keinesfalls verwenden darf.
Obwohl es Dr. Winterseel in der Regel verschmäht, seine apodiktischen Behauptungen zu belegen, raschelte er diesesmal vernehmlich mit seiner online-Zeitung. Hier, bitte, sprach er und rezitierte eine dpa-Meldung:
„Tod beim Gassi gehen
Dogge zieht Frauchen vor heranfahrendes Auto
Im luxemburgischen Esch ist eine Hundehalterin auf tragische Weise ums Leben gekommen. Die 54-Jährige führte ihre Dogge aus, als diese plötzlich mit Macht an der Leine zerrte und die Frau direkt vor ein herannahendes Auto riss.
Esch/Alzette – Eine 54-Jährige ist in Esch in Luxemburg von einem Auto überfahren worden, weil ihr angeleinter Hund sie plötzlich auf die Straße gezogen hatte. Das teilte die Polizei mit. Die Dogge hatte einen Hund angebellt, der auf der anderen Straßenseite lief, und war dann losgestürmt. Die Frau konnte das große Tier nicht zurückhalten und wurde mitgerissen. Ein heranfahrendes Auto konnte nicht mehr bremsen. Die 54-Jährige starb noch an der Unfallstelle. Der Hund überlebte, sagte ein Polizeisprecher.“
Ja, eine Tragödie, oder? Eine dumme Kuh, zu schmächtig, einen Pinscher zu halten, kauft sich eine Dogge und wundert sich jetzt, daß sie tot ist! Besonders tragisch, daß der Hund überlebt hat und nicht die dusselige Kuh! Und schade, daß Aischylos, Euripides, Sophokles & Co. diesen Plot nicht gekannt haben! Was hätten sie für erschütternde und unsterbliche Tragödien daraus gehäkelt oder gestrickt!
Fredi, also mein schweigsamer Autisten-Freund Fred Asperger, und ich sind nachher mit den Aquavit-Zwillingen noch einen trinken gegangen, um sie wieder aufzumuntern. „Aber bloß EINEN Eierlikör!“, hatte Hinnerk sich erst geziert. Na, es wurden denn doch eine ganze Menge Jubiläums-Aquavit. Wir haben schön gequatscht und viel gelacht. Nur – tragischerweise haben wir dadurch dann die letzte S-Bahn verpasst…
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