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Winterseels Jour Fixe (9): Tragisches Gassi-Gehen

16. September 2009
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Die Tragödie geht Gassi und nimmt ihren Lauf

Die Stimmung war gut, nämlich voller Schadenfreude: Man hatte Hauke und Hinnerk, den Aquavit-Zwillingen, weisgemacht, nach dem Endspiel der Frauenfußball-EM würde im Sportfernsehen live das Trikottauschen übertragen, und unsere beiden nordfriesischen Dorftrottel hatten tatsächlich volle neunzig Minuten Stillsitzen durchgehalten, in nervöser Ruhigstellung wie Zappelphillip auf Ritalin, nur um sich dann, düpiert und betrogen, unter schallendem Gelächter des Salons mit Erdnüssen bewerfen lassen zu müssen.

Traurigkeitslehrer Arnold Winterseel, mein verehrter Mentor, warf, wie immer leise und melancholisch in sich hineinhorchend, aber doch perfekt artikulierend, eine Frage in den Raum, die uns alle stutzen machte: Ob der Missverstand der Aquavit-Zwillinge denn nun „tragisch“ zu nennen wäre? Hm. Mehrheitlich drehte man den Kopf nach Sven Aaron Mangold, unserem Einserjuristen und Bescheidwisser, der auch sofort aufstand und, als stünde er vor Jörg Pilawa und würde gleich Millionär, herunterschnarrte:

 „Das Tragische ruht daher ebenso wie das Komische auf einem Kontrast desjenigen, was geschieht (des Ungerechten im Tragischen), mit dem, was eigentlich geschehen sollte. Der wesentliche Unterschied zwischen Tragik und Komik ist, dass das, was geschieht, im Tragischen ein Leiden, im Komischen dagegen nur eine Torheit ist. Da nun – nach der Theorie des Aristoteles – Tragik im wesentlichen durch die Einsicht in diesen Kontrast entsteht, so muss ein gemischter Eindruck entstehen. Das unverdiente Leiden und der Untergang der tragischen Person, der Sieg des Geschicks (oder der „neidischen“ Götter), ist ein Triumph der Ungerechtigkeit und bringt als solcher das Gefühl menschlicher Ohnmacht dem „großen, gigantischen Schicksal“ gegenüber hervor.

Die Kategorie des unheilbar Doofen hat Aristoteles leider nicht untersucht. Unmöglich hätte er, so ließ sich Winterseel vernehmen, voraussehen können, daß der Begriff des Tragischen (ebenso wie übrigens etwa der Begriff „Ikone“) im 21. Jahrhundert endgültig unter die analphabetischen Press-Quatschkindsköpfe gefallen und dort inflationär der völligen semantischen Verwahrlosung anheimgefallen sei bzw. wäre, je nachdem. Jeder Unfall nämlich, jedes tödlich endende Mißgeschick, und sei es noch so lachhaft, albern oder bescheuert, so Winterseel, werde heute „tragisch“ genannt. Heute würde man mit Sicherheit selbst den Tod von „Mama Cass“, der dicken Sängerin der 60er-Jahre-Singsang-Gruppe „Mamas & Papas“ („California Dreamin’“), die im Suff an einem Schinkenbrötchen erstickte, „tragisch“ nennen! Wenn einem Menschen heutzutage versehentlich das Sterben unterläuft, gleichviel, auf welche bestürzend triviale Weidse, muß das ja einfach „tragisch“ sein. „Dumm gelaufen“, „idiotisch“, „unnötig“, „selbst schuld!“ – das sind alles Bezeichnungen, die man da nach sterbepolitischen Korrektheitsmaßgaben keinesfalls verwenden darf.

 Obwohl es Dr. Winterseel in der Regel verschmäht, seine apodiktischen Behauptungen zu belegen, raschelte er diesesmal vernehmlich mit seiner online-Zeitung. Hier, bitte, sprach er und rezitierte eine dpa-Meldung:

 „Tod beim Gassi gehen

 Dogge zieht Frauchen vor heranfahrendes Auto

Im luxemburgischen Esch ist eine Hundehalterin auf tragische Weise ums Leben gekommen. Die 54-Jährige führte ihre Dogge aus, als diese plötzlich mit Macht an der Leine zerrte und die Frau direkt vor ein herannahendes Auto riss.

Esch/Alzette – Eine 54-Jährige ist in Esch in Luxemburg von einem Auto überfahren worden, weil ihr angeleinter Hund sie plötzlich auf die Straße gezogen hatte. Das teilte die Polizei mit. Die Dogge hatte einen Hund angebellt, der auf der anderen Straßenseite lief, und war dann losgestürmt. Die Frau konnte das große Tier nicht zurückhalten und wurde mitgerissen. Ein heranfahrendes Auto konnte nicht mehr bremsen. Die 54-Jährige starb noch an der Unfallstelle. Der Hund überlebte, sagte ein Polizeisprecher.“

Ja, eine Tragödie, oder? Eine dumme Kuh, zu schmächtig, einen Pinscher zu halten, kauft sich eine Dogge und wundert sich jetzt, daß sie tot ist! Besonders tragisch, daß der Hund überlebt hat und nicht die dusselige Kuh! Und schade, daß Aischylos, Euripides, Sophokles & Co. diesen Plot nicht gekannt haben! Was hätten sie für erschütternde und unsterbliche  Tragödien daraus gehäkelt oder gestrickt!

Fredi, also mein schweigsamer Autisten-Freund Fred Asperger, und ich sind nachher mit den Aquavit-Zwillingen noch einen trinken gegangen, um sie wieder aufzumuntern. „Aber bloß EINEN Eierlikör!“, hatte Hinnerk sich erst geziert. Na, es wurden denn doch eine ganze Menge Jubiläums-Aquavit. Wir haben schön gequatscht und viel gelacht. Nur – tragischerweise haben wir dadurch dann die letzte S-Bahn verpasst…

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Winterseels Jour Fixe (VI): Gefühlsbuddhisten verschmähen allzu Gelecktes

17. April 2009
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"Wer vermag es denn ewig zwischen diesen Dingen zu wohnen?" (Yoshida Kenkô)

MÖBELVERBRENNUNGSGESÄNGE IM HASENKOSTÜM

Mann, Leute, ich sag euch – letztens beim Oster-Jour Fixe war vielleicht der Teufel los! Es drängte sich regelrecht in Scharen das erkenntnisdurstige Volk in Traurigkeitslehrer Arnold Winterseels Salon: Oster-Marschierer, Oster-Flüchtlinge, Jünger des Auferstandenen, Suchende, Schüchterne und Süchtige, Schweiger und Scharlatane, schräge Vögel und natürlich die üblichen Kaputtniks wie Sufi-Süffel Enver Konopke, oder die endlich wieder aufgetauchten Aquavit-Zwillinge (siehe das Foto von Hauke und Hinnerk im Artikel über Männer-Imitate!), die, rotwangig und puppenlustig, wie es nur diplomierte Naturburschen sein können,  blanken Auges von der Kieler Windjammer-Parade erzählten. 

Autisten-Freund Fredi Asperger trug noch immer das überdimensionierte Hasenkostüm, in dem er, an den Werktagen der Karwoche, Flyer vor Lidl verteilt hatte; mir – denn zu mir spricht er manchmal – vertraute er an, daß er ernstlich darüber nachdenke, sich als „freier Honorar-Hase“ selbständig zu machen, daß ihn darüber hinaus aber das braune Puschelfell, der weiße Pompom und die riesigen Ohren auch davor bewahrten, „endgültig zu vermenschlichen“, wofür es sich schon einmal lohne, „zu schwitzen wie ein Schwein“. Ich ertappte Miß Cutie dabei, wie sie heimlich zwei oder drei naheliegende anzügliche Wortspiele herunterschluckte und quittierte dies mit einem dankbaren Augenzwinkern, denn leichthin dahergesagte Anspielungen sexuellen Inhalts können bei Fredi stundenlange Katatonien auslösen und an mir bleibt dann wieder alles hängen!

Alle waren aber eigentlich nervös und gespannt wie Flitzebogen, weil Winterseel launig ein „fernöstlich-klösterlich-österliches Kontrastostern“ angekündigt hatte, und zwar vornehmlich in Form eines Überraschungsgastvortrages! Der japanische Gast, Professor Owoni Ni’kea, Experte für Gefühlsbuddhismus und Wohlfühlästhetik an der renommierte Kyotoer Universität für interintellektuelle Glaubensfragen, weilte dabei schon längst unter uns, doch die Bescheidenheit, Unauffälligkeit und Zurückhaltung des kleinwüchsigen Asketen hatten diesen bis zur fast totalen Durchsichtigkeit sublimiert, und wir mußten ihn erst durch langanhaltenden Ermutigungsapplaus dazu nötigen, sich in unserer Mitte, sozusagen, zu materialisieren. Lange Zeit war der wechselseitigen Verbeugungen kein Ende. Unmerklich gingen die Höflichkeitsbezeugungen dann aber doch in einen ninjaschwert-scharfzüngigen Vortrag über Wohnkultur über, in dem der Professor, Träger mehrerer Schwarzgurte für Möbelrücken, angewandtes Feng Shui, Heil-Chi usw. u. a. schockierende Fotos aus Prospekten deutscher, dänischer und schwedischer Möbelhäuser herumzeigte, um dann feierlich die Worte des Mönches und Möbel-Asketen Yoshida Kenkô zu rezitieren:

„Es ist nicht nötig, daß alles im neuesten Stil und besonders prunkvoll ist. Wenn die Bäume einen ehrwürdig alten Anblick bieten und in dem gar nicht peinlich gepflegten Garten alles wild durcheinanderwächst, die Veranda und die Hecke am Zaun verträumt daliegen, die umherstehenden Gegenstände ein wenig altertümlich sind und keine besonderen Ansprüche stellen, so wird man in seinem Herzen tief davon bewegt. Sind aber seltene und prachtvolle Geräte nebeneinandergereiht, die von vielen Künstlern aus China und Japan kostbar gefertigt wurden, und sind im Garten die Gräser und Bäume kunstvoll gestutzt, so ist das ein sehr trauriger Anblick. Wer vermag es denn ewig zwischen diesen Dingen zu wohnen? Wenn ich dergleichen sehe, muß ich stets denken: In einem Augenblick kann doch alles wie Rauch vergehn.“

Wir hatten dann mehrheitlich allerdings stattdessen „in Rauch aufgehen“ verstanden und hielten es daher für passend, dem liebenswerten Asiaten als Gastgegengeschenk stehend John Lennons Möbelverbrennungslied „Isn’t it good, Norwegian Wood“ vorzutragen, weil es dem allgemeinen Tenor, allzu geleckte („stylische“) Wohnungsinnenarchitekturen strikt abzulehnen, entgegenzukommen schien. 

Froh, gestärkt und spirituell aufgemöbelt gingen wir auseinander, gezielte häusliche Ordnungs-Verwuschelungen und -Zerzausungen planend. Ich konnte gar nicht schnell genug nach Hause kommen, um sofort auf meinem Balkon alles wild durcheinanderwachsen zu lassen! Meine Hast mußte auf Passanten freilich etwas fremdartig wirken, zumal mir doch ein inkl. Ohren zwei Meter großer Hase keuchend hinterhergehoppelt kam, der es jedoch die ganze Strecke über verstockt verschmähte, mir ein einziges „Nun warte doch mal!“ hinterher zu schnaufen.

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So mags der Wohlfühlbuddhist: Kunstvoll verwuschelte Waldwohnung in Japan