Ethik-Dilemma im Geddo (The long good-bye IV)
Man darf mich für kapriziös halten, für einen Snob oder gleich für ein voll schwules Weichei, aber neulich saß ich halt im Geddo in der Grün-Oase auf meiner Lieblingsbank, von der ich den schwunghaften Ganja-Handel und den Basketball-Court gleichermaßen im Blick habe, und las Rilke. Sonette an Orpheus, glaub ich. Mir war danach und es ist ja ein freies Land. Manche desillusionierten Kritiker halten Rainer Maria Rilke für einen sprachlichen Parfumeur-Performer, der immer mehr oder minder hart an der Kitschgrenze entlang schrammt. Kann gut sein, aber als obsessiver Olfaktoriker schätze ich erlesene Düfte, auch wenn sie mehr versprechen, als sie je halten können. Ist es denn mit schönen Frauen anders? (Rhetorische Frage, bitte nicht antworten!) Und dennoch verehrt man sie und schaut ihnen traumverloren hinterher. Also bitte, Rilke. Gerade buchstabierte ich halblaut skandierend mein Lieblingssonett mit seinem unnachahmlich buddhistischen Flair:
„Sei allem Abschied voraus, als wäre er hinter / dir, wie der Winter, der eben geht. / Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter, / dass, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.“
Hach, herrlich, oder? Und so tief gedacht, nicht wahr? – „Du scheiß Votze, ich hau dich zu Brei, dich brauch ich nicht, du Drecksnutte, kriegst gleich in die Fresse, du blöde fette Sau!“ – Was ich da hören musste, erzeugte bei mir zusammen mit der Rilke-Lektüre etwas, das der Fachmann mit gewissem Recht eine kognitive Dissonanz nennt. Ich meine, in den Kreisen erlesen edelblütenhafter Gräfinnen, in denen – also den Kreisen! – der zart besaitete Dichter verkehrte, war „Ich ersterbe, wenn ich mit Ihrer gütigen Erlaubnis ihre Hand küssen darf“ ungefähr das Verwegenste, was man einer Dame gegenüber äußern durfte. Wenn überhaupt.
Hier aber hatte ich, keine fünf Meter von meiner Kontemplationsbank entfernt, einen nach Schweiß stinkenden Gorilla mit abschreckender Akne-Fresse, hennagefärbtem Islamisten-Bart und muckibudengestählten Bergen kalten Fetts vor mir, der das bleiche, verhärmte Mädel, das er am Halsband führte, an den dünnen, schweißnassen Haaren zog und Schattenboxhiebe gegen ihre Brüste vollführte, sie unentwegt unflätig bedrohte, drangsalierte und genussvoll demütigte. Man konnte sehen, wie ihm dabei in seiner ballonseidenen Trainingshose fast einer abging. Über seinem Bauch spannte sich ein T-Shirt mit der Aufschrift „Thug life“. Ohne Frage schlug der Schläger-Typ in die Kategorie von Männern, denen ich gern ein finales Anti-Gewalt-Training verabreicht hätte – die nötigen Werkzeuge hatte ich ja immerhin in der Fahrradtasche dabei: einen 80.000-Volt Elektro-Taser, einen CS-Gas-9mm-Beretta-Nachbau, der fast wie echt aussieht, sowie ein rasierklingenscharfes, tückisch gekrümmtes vietnamesisches Krabbenausbeinmesser, mit dem man renitente Bluthochdruckpatienten, wenn man sich beeilt, blitzschnell Erleichterung verschaffen kann. Das übliche Geddo-Besteck halt.
Ehe ich mich versah, befand ich mich aber nun in einem mittelschweren Dilemma, wie man es aus dem Ethik-Unterricht in der Elften kennt: Einerseits kann man ja wohl nicht weiter einfach Rilke lesen, wenn nebenan in der lieblosen Realität eine Frau bedroht wird, andererseits war der gottgefällige Mohammedaner und fromme Frauendompteur mit ca. 30 Jahren eindeutig fitter als ich, bei dem, mit knapp sechzig, die Kampfsportzeiten schon so lange zurückliegen, dass ich mich kaum noch erinnern kann, welche Farbe damals mein Gürtel hatte. Außerdem war noch keine Straftat begangen worden, die wirklich drastische Notwehr gerechtfertigt hätte. Was also tun? Die Bullen rufen? Ha ha. „Die Bullen“ sind in der Geddo-Wache zwei (2) liebenswürdige ältere Herren knapp vor der Pensionsgrenze, deren einzige Waffe in dem Glauben besteht, ihre Uniform könne evtl. irgendwie eine abschreckende Wirkung zeitigen. Bei elfjährigen Roma-Jungen klappt das auch ganz gut. Sie (die Bullen) sind in den Dienstzeiten von 8.30 bis 16.00 Uhr telefonisch erreichbar. Soweit zur Staatsgewalt und ihrem Gewaltmonopol.
Verkompliziert wurde die Situation dadurch, dass das kujonierte Mädchen gegen seine entwürdigende Behandlung nicht etwa protestierte, sondern die ganze Zeit bloß jammerte: „Gib mir wenixens meine Kippen!“ Noch mal: Was jetzt tun?
Rilke riet: „Sei – und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung, / den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung, / daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.“ – Also, eine wirkliche Hilfe war das nun auch nicht!
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Schlagwörter: Anti-Gewalt-Training, Beretta, Bluthochdruck, Buddhismus, Bullen, Dilemma, Ethik, Ethik-Unterricht, Geddo, Gewalt, Gorila, Islamist, Olfaktorik, Parfüm, Polizei, Rainer Maria Rilke, schöne Frauen, Schlager, Sonette an Orpheus, Taser, thug
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9. Juli 2012 um 10:30 AM
In einem englischen, wahlweise französischen Film wäre der Protagonist auf die Bank gestiegen und hätte den Text des toten Dichters laut deklamiert, worauf hin die unterbelichtete Mehrheit in eine Schockstarre verfallen und sich schließlich weinend in die Arme gefallen wäre. Der Protagonist steigt ächzend von der Bank herunter, das Mädchen löst sich aus der Umarmung und kniet vor ihm nieder mit den Worten:
Mach, dass etwas uns geschieht!
Sieh, wie wir nach Leben beben.
Und wir wollen uns erheben
wie ein Glanz und wie ein Lied.
9. Juli 2012 um 1:58 PM
Hm. … Auf DIe Idee bin ich nicht gekommen. Aber ich lebe leider auch nicht in einem französischen Film….
18. Juli 2012 um 5:57 PM
In einem amerikanischen Film hingegen wäre wie ein Blitz aus heiterem Himmel Superman neben den Kombattanten eingeschlagen, hätte dem Mann gezeigt, wo der Hammer hängt, woraufhin das klagende Weib den Verprügelten umstandslos verlassen hätte.
Der Herr auf der Bank, der mit der Lesebrille, hätte unter dem Eindruck des Ganzen Stift und Papier zur Hand genommen und einen aufrüttelnden Artikel über Moral und Verantwortung verfaßt, der der verlotterten Jugend Orientierung gäbe.
Naja. Karus französisches Ende gefällt mir besser.
18. Juli 2012 um 8:03 PM
Wir könnten ja noch ein paar ausprobieren, spanisch, italienisch, russisch…
10. Juli 2012 um 6:50 PM
Es scheint uns wirklich sehr snobistisch, mit 55 Rilke-Sonetten bewaffnet, durch die Grünflächen des Geddos zu ziehen. Natürlich will man sich etwas Schönes gönnen, wenn man draußen, im öffentlichen Grün zum Sitzen kommt … aber … man muss auch auf unangenehme Situationen gefasst sein, die den ganzen Mann, b.z.w. eine Frau, erfordern. Um vorbereitet zu sein, und trotzdem nicht auf die angenehmen Dinge des lesenden Lebens verzichten zu müssen, führen wir bei Besuchen im öffentlichen Raum immer die zweiundneunzigbändige Karl-May-Gesamtausgabe mit uns. Die hat einfach mehr Bumms, wenn es darauf ankommt. Mehr jedenfalls, als ein Rilke-Sonett.
10. Juli 2012 um 7:44 PM
… und weißt Du, warum ich sofort gemerkt hätte, dass Ihr nur blufft? Es GIBT GAR KJEINE 92-bändige Karl-My-Ausgabe! Die hat nur 75 Bände, Angeber. So. Und zack! lägt Ihr in den losen Blättern Euer Groschenhefte, k.o. und kaputt. NächsteMal besser Lexikon.
10. Juli 2012 um 8:36 PM
Ha, von wegen:
„Der Weltbild-Verlag hat eine illustrierte Ausgabe in 92 Bänden veröffentlicht, die als die beste verfügbare, annähernd vollständige Ausgabe gilt.“ sagen wir und Wiki!
Die „grünen“ 75 Bände sind für Anfänger … ätsch!
7. Dezember 2012 um 5:30 PM
ein witziges blog. hoffentlich bleibt ihr intellektuell entgleisten im internet. und auf parkbänken