The long good-bye (II)


Natürlich hat das Geddo auch schöne Seiten: Zum Beispiel die reiche Kultur!

Wenn bettelarme Dörfler und Dörflerinnen, minimum vier Generationen gemeinsam, sich fern der Heimat, in der verwirrenden Fremde, zusammensetzen, gemeinsam zur Akkordeon- und Fiedelbegleitung inbrünstig pentatonische Volkslieder singen, dazu klatschen, ekstatisch juchzen, bittersüß aufschluchzen und „Aiiiiííí! Hò’pa, hò’pa!“ rufen – ist dagegen irgendetwas einzuwenden? – Aber nein, Iwo! Wieso denn? Ist doch schöön! werdet ihr antworten und damit leider eine gewisse medial vermittelte Kurzatmigkeit im Denken offenbaren: Wenn das spontane Festival im Hinterhof nämlich nachts um halb drei unter eurem Schlafzimmerfenster stattfindet, werdet ihr, das wette ich, eure multikulturelle Begeisterung alsbald zu überdenken und zu zügeln wissen. Vielleicht werdet ihr das Fenster zum Hof aufreißen und mit mühevoll gezügelter Gereiztheit hinab rufen: „Leute! Es ist halb drei!!!“ Aber die Musikanten, tut mir leid, liebe Fremdenfreunde und Xenophilatelisten, werden euch nicht verstehen, und wenn doch, sich über das saturierte Deutschlandparadies wundern, in dem man sogar noch nachts gratis und ungefragt eine Zeitansage erhält. Das inkriminierte Wort „Zigeuner“ verwendet ich übrigens nur zu präzisierenden Diskriminierungszwecken – ich weiß nämlich nicht, ob es sich um Roma oder Sinti handelt. Sinti sind doch die mit der jazzigeren Musik, oder? Dann wärens wohl eher Roma gewesen. Darf man noch „leider“ sagen?

Was ich damit ausdrücken will: Ob das Leben im Geddo immer so lustig ist, wie ich es in Texten manches Mal zu suggerieren trachtete, ist eine Frage des Blickwinkels bzw. des Zeitpunktes, an dem man morgens aufstehen muss. Oder ob das Blut, welches das Hemd durchtränkt, mit dem man sich nach einer langen Nacht als Blauhelm-Magister ins Bett fallen lässt, das eigene ist oder nicht. In meinem Fall war es glücklicherweise Fremdblut, nämlich das von Sportrentner Horst, meinem Nachbarn, der nüchtern ein liebenswerter Mensch und xenophiler Nachbarschaftsengel ist, betrunken sich aber anhört wie ein erzblöder Neo-Nazi. Leider ist er ziemlich selten nüchtern. Wie oft habe ich ihn gewarnt: „Horst! Bitte! Nach elf Uhr resp. 25 Bier bitte nichts mehr über Religion oder Politik!“ Aber der Horst ist ein Argloser, ein Tor mit reinem Herzen, und er kriegt nicht mit, wenn sich anti-deutsche Abneigung und Verachtung im Geddo in blanken Hass verwandeln. Er checkt es einfach nicht, dass man irgendwann die Fresse halten muss, auch und gerade wenn man mit mazedonischen, bosnischen oder kroatischen „Freunden“ zusammen hockt und NOCH mehr Bier trinkt.

Ich war nüchtern genug, den Hass in den Augen des Mazedoniers zu sehen, aber leider, trotz Kampfsportausbildung nicht geistesgegenwärtig genug, zu verhindern, dass er Horst urplötzlich eine volle Flasche Diebels gegen den Schädel knallte. Bier und Blut spritzten auf mein Hemd, ein Scherbenregen ging auf mich nieder, während ich, die Ein-Mann-Friedenstruppe, das Schlimmste zu verhindern suchte, nach meiner Taschenlampe kramte und dem Sportrentner, der aus diversen Gründen nicht mehr recht zu stehen kam und definitiv ausgezählt mit dem blutüberströmten Kopf wackelte, im Funzellicht kreuz und quer Erste-Hilfe-Pflaster auf die Klotzkopfkerbe klebte, um erstmal die Blutung zu stoppen.

Schon bizarr: Ich, der Feingeist, Bildungshändler und Privatgelehrte, agierte praktisch als Blauhelm vor einer Hinterhofgarage im derbsten und dümmsten aller Religionskriege! Mann, Mann, was MACH ich hier? – so keimte die peinigende Frage in mir.  Übrigens, um keine Vorurteile zum Blühen zu bringen, der brutale Schläger, der seinen „Glauben“ zu verteidigen meinte, war kein Moslem, sondern ein „orthodoxer“ Christ. Er verpisste sich nach vollbrachtem Glaubenskriegertum sofort und ließ seine Verwandten für ihn lügen, sie hätten „gar nichts mitgekriegt“. Wie oft sein Jesus Christus irgendwelchen Feinden eine Bierflasche  auf den wehrlos betrunkenen Schädel gehauen hat, ist ja bekannt. „Orthodox“, ha, klar!

Seltsam: Ich ziehe nur ca. 1000 Meter weiter, aber dort gibt es so etwas nicht. Die schöne, attraktive alte Dame, die bei uns im Haus wohnt, ist evangelisch, wackelt Sonntags am Rollator in die Kirche und sieht insgesamt nicht danach aus, Andersgläubigen Bierflaschen auf den Schädel zu hauen. Auch wenn ich mich eventuell langweilen werde – ich weiß doch Zivilisiertheit zu schätzen.

Wünsche werden einem erfüllt, aber nicht unbedingt dann, wann man es braucht und auch nicht, wie schon Goethe wusste, zu den eigenen Bedingungen, sondern, so Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ weiter, um uns etwas zu lernen zu geben: Endlich hat man die Alk-Fraktion, die unter mir hauste, aus dem Haus klagen können. Ab jetzt keine stinkenden, kläffenden, den Hof voll scheißenden Köter mehr, keine im Vollrausch veranstalteten Parties nachts um drei (mit nur einer einzigen Platte die ganze Zeit: Marius Müller-Westernhagen, „Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz“! Gott! Wie ich diesen Mann im Laufe schlafloser Nächte hassen gelernt habe!), kein Rund-um-die-Uhr-Gegröhle, keine von Wodka beflügelten Prügeleien mehr. Keine mein eigenes Gewissen molestierenden Anrufe bei der Polizei. Heike, die Frau vom Chef-Randalierer, ist ja auch tot. Mit der Obduktion scheint man sich nicht viel Mühe gegeben zu haben. Geddo eben. Der menschlichen Ausschuss interessiert den Staatsanwalt nicht besonders. Dass die 44-jährige Frau nur aus blauen Flecken bestand, als sie starb, fand man forensisch nicht bemerkenswert. Die Realität ist nicht wie im „Tatort“. Nun, jetzt ist das Pack weg. Hinterläßt ca. 12 Kubikmeter Messi-Müll, Schmutz und Drecks-Geraffel und zeigt uns allen den Mittelfinger. Nicht, dass ich ein Ausländerfreund wäre, aber, Leute, die DEUTSCHEN hier, die sind schon das allerletzte…

Ob ich das Geddo vermissen werde? Tja, na ja. Wahrscheinlich erst, wenn ich da raus bin…

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15 Kommentare - “The long good-bye (II)”

  1. /cbx Says:

    Das war deutlich. Ich glaube, das werden die meisten verstehen. Trotzdem habe ich den nicht ganz unbegründeten Verdacht, dass Du Dich schon nach wenigen Wochen größtenteils nur mehr an Deine eigene Variante der Geschichten aus dem Geddo erinnern wirst – und dann wird’s doch irgendwie auch schön gewesen sein.

    • 6kraska6 Says:

      Na klar! Zumal ich von Selbstmystifikation lebe! Was wir brauchen, ist die „Verklärung des Gewöhnlichen“ (Arthur C. Danto)

  2. erinnye Says:

    Na das ist doch fein, dass das Drecks-Geraffel endlich weg ist. Gratulation!


  3. Viel Glück im neuen Heim, Magister 🙂

  4. Lakritze Says:

    Evangelische Rollatorpilotinnen? Also, wenn da keine Geschichten rausspringen, dann weiß ich auch nicht.

  5. haushundhirschblog Says:

    Ach, was soll nur aus der Gesellschaft werden, wenn sich die Philosophen nicht mehr unters Volk mischen … aber 1000 Meter sind nicht die Welt.
    Kann man da überhaupt von Umzug sprechen, oder wäre nicht Umräumen richtiger?

    • Lakritze Says:

      Das sind dann aber diese ganz bourgeoisen Wohnungen, mit zwei Hektar Parkett und Stuck in 300 Metern Höhe? ,)

      • 6kraska6 Says:

        Jawohl, das stimmt. Und wenn ich erzählen würde, wer der Vorbewohner war, würde man mich in Duisburg lynchen. Ich ich bins gewohnt: Ich bin existentiell unbefugt und nie da, wo ich hingehöre. Jetzt also Bourgeois, was ich natürlich auch nicht bin.

    • 6kraska6 Says:

      „Retirieren“ ist, glaube ich, das richtige Wort. In einer Stadt wie Duisburg, wenigstens DAS hat sie mit Chicago, Illinois, gemeinsam, liegen zwischen Geddo und Bürgerpark nur wenige Meter…

  6. Thomas Says:

    Ein paar ungeordnete Gedanken zum wichtigen Ereignis:
    A) Dass „das Leben im Geddo immer so lustig ist, wie ich es in Texten manches Mal zu suggerieren trachtete“, konnte ja eh keiner annehmen, weil die tragikomische Grundierung nicht zu überlesen war.
    Von außen lässt es sich nun natürlich leicht bedauern, dass Du gehst, wohlfeil ist es geradezu. Stimmt. Aber trotzdem: Es war eben zu freudeweckend und zugegebenermaßen auch angenehmst stellvertretend, einen blaubehelmten Helden dort zu haben, der in all der inneren und äußeren Zerstörung der Nachbarschaft Hoffnungsschimmer aufglimmen ließ, indem er die Menschen mal kürzer, mal länger, jedenfalls immer so lange betrachtete, bis ihr humaner Kern hervortrat (und es bei den Kindern um so deutlicher zu sehen war, wie das Bewusstsein vom Sein zwar überwältigt zu werden drohte, aber immer noch frech aufzublitzen wusste).
    B) Blauhelme sind nie für alle Zeiten stationiert und Engel sind ja ein anderes Thema. Darf man sich für den Einsatz fremdbedanken? Oder ist das arroganter Kolonialstil?
    C) Wo immer Du hinziehst, Hauptsache Du berichtest weiter.
    D) Wenn ich weiter ungeordnet weiterschreibe, muss ich doch noch die unsichtbare Grenze zwischen Niederrhein und Ruhrgebiet überschreiten, um den Magister live zu erleben. Aber er ist ja ein Philosoph und davon hab ich keine Ahnung.
    E) Alles erdenklich Gute im RollatorenSunCityBezirk und in der Zweisamkeit.

  7. 6kraska6 Says:

    Herzlichen Dank für Zuspruch, liebe Wünsche und gute Worte!
    @ Thomas: Ich bin gar kein Philosoph! Ich bin bloß Philosophie-Didaktiker, also Dolmetsch für Personen, die von Philosophie (noch) keine Ahnung haben – vielleicht trifft man sich DOCH mal? Ich halte Ausschau nach Männern mit Melonen…

  8. oachkatz Says:

    Tendenziell fürchte ich mich vor alten rollatorenden attraktiven Damen auf dem Weg zur Kirche, aber wers mit Rockers und dem Geddo aufgenommen hat, kennt Angst sowieso nur vom Hörensagen, nehme ich an. Und leise sind sie meistens, die alten Damen, da kann man nichts sagen…

  9. mike-o-rama Says:

    Ja, ich verstehe dich. Ich bin vor vielen Jahren aus Neukölln-City weggezogen, es ging nicht mehr. Nochmal: Alles Gute. Es kommt selten etwas schlechteres nach.


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