The long good-bye (I)
Faszinierend und wahrscheinlich kein Zufall („Zufall“ ist überhaupt ein unbefriedigendes Konzept, finde ich, alles in allem): Seit Tagen höre ich nur noch Musik, die mit Exil, Exodus und Heimkehr zu tun hat. Erst wars Monteverdis „Il ritono d’Ulisse in patria“, dann, über Pfingsten, Händels Oratorium „Israel in Egypt“ und seit heute früh dreht sich in Kopf und Player unentwegt und mit fast schon enervierender Hartnäckigkeit Dylans „Just like Tom Thumb’s Blues“, allerdings zunächst in der grandiosen, unfassbar larmoyanten Cover-Fassung vom schottischen Alt-Alkoholbarden Frankie Miller (1973) gewinselt, gejammert und geheult; danach vom Meister selbst, staubtrocken, sarkastisch, überdeutlich prononciert, abgründig selbstironisch und immer mit so einem gedehnt höhnischen Unterton, wie es in der Zeit um 1965 („Highway 61 revisited“) halt seine Art war.
In dem Song über den Blues des Däumlings (Literaturprofessoren behaupten, das sei eine Anspielung auf den Däumling-Träumling „petit poucet rêveur“ in Arthur Rimbauds „Ma Bohème“, vielleicht ist aber auch nur die tragisch verblichene Experimental-Dampflokomotive gleichen Namens, nämlich Tom Thumb, gemeint, die einst in Maryland oder wo gegen eine Pferdebahn siegte und trotzdem nicht rüssierte) geht’s um einen Typ, den es in das Grenzkaff Juarez, Chihuahua, Mexico verschlagen hat, unter Dealer, Huren („Saint Annie“, „Sweet Melinda, the goddess of gloom“) und zwielichtige Heilige, korrupte Bullen und fiese Beamte, und die „hungrigen Frauen“ machen ihn fertig, er ist zu schwach, sich einen neuen Schuss zu setzen, er ist total down und am Ende in der „Rue Morgue Avenue“, wo ihm selbst Arroganz und Negativität nicht mehr helfen, und am Schluss heißt es: „I’m going back to New York City / I do believe I’ve had enough.“ Tja, das kenn ich. Hab wohl auch genug, nach drei Jahren Geddo. Der Däumling geht.
Meine Tage sind gezählt. Damit ihr es fast als erste erfahrt – ich komme nach drei Jahren im Geddo nämlich auf Bewährung raus, ich lege den Blauhelm ab, verstehe ab sofort kein Wort Türkisch mehr und wage das Abenteuer, nach zwanzig Ehejahren, mit der Gattin in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen, und zwar in einen bürgerlichen Luxus-Palast mit knapp tausend Quadratmetern, ausgestattet mit mehreren Bädern, privater Tennishalle und Gästefahrrad, in einem gepflegt begrüntem, von der Polizei spezial überwachten Rentner-Reservat voller Rollatorenpiloten und öko-christlicher Mülltrenner.
Wie ich mich kenne, werd ich in der Ruhezone natürlich alsbald wieder zu nörgeln beginnen: Da ist ja nirgends einer auf der Straße! Wo sind die ganzen kurz geschorenen, segelohrigen Schmuddel-Kinder, die schwarzen Dealer, die bulgarischen Eckensteher? Wo das schöne Müllgebirge, die possierlichen Ratten, der ewige Straßenlärm, die keifenden Kopftuchmuttis? Und nachts ist es so still, dass man seinen Herzschlag hört und das monotone Sausen in den Adern! Vor allem aber ist es mit meiner lieb gewonnenen Selbstmystifikation als mönchischem Geddo-Magister vorbei, dem herben Engel der Verwahrlosten, Bescheuerten und displaced persons, deren treuer Tröster und kaiserlicher Türsteher ich war. Circa zum achtzehnten Mal im Leben muss ich mich komplett neu erfinden. Was geht, was hatte ich noch nicht? Was könnte mich noch an mir interessieren? Ich hab keine Ahnung. Aber Juarez, nee, ich glaub, davon hab ich genug.
Heroische Testpersonen probierten übrigens damals, auf der von „Tom Thumb“ gezogenen Dampflokbahn, bei der Wettfahrt 1830 mit der Pferdebahn, ob das menschliche Hirn bei 24Kmh noch in der Lage sei, schriftlich Empfindungen zu protokollieren. Es gelang! Ich werd also wohl weiter schreiben…
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30. Mai 2012 um 11:06 PM
Na dann mal gute Reise, Du mystischer Magister, auf dass Du demnächst auferstehen mögest als König Rollo der Rollatorenrentner, der sich auch im realen Rentnerluxus redliche Renitenz bewahrt.
Geh schon mal voran, nach Ithaka, den Ort, den ich – in Deinem Alter angekommen – wohl nicht mehr erreichen werde.
Gespannt auf den ersten Bericht aus dem Jenseits des Geddos wartend verbleibe ich
mit dem Ausdruck vorzüglichster Hochachtung
Ihr Inschenjör.
30. Mai 2012 um 11:10 PM
Nachtrag: Weil ich es gerade erst sehe. Dein Blog drückt sich wohl in internationaler Kraska-Zeit aus:
„30. Mai 2012 um 11:06 nachmittags“
Eine sehr nette Umschreibung für 23:06 Uhr.
Ich gehe trotzdem zu Bett.
31. Mai 2012 um 5:25 PM
Ah! Guten Umzug. Und gutes Weiterhin!
Und da jedes Viertel irgendwie ein Geddo ist, freue ich mich schon auf Berichte.
31. Mai 2012 um 6:27 PM
Der Blaster verlässt das sinkende Geddo – wo soll das mit Duisburg noch enden ?
Gute Reise – und hau als erstes dem Blockwart eins aufs Maul.
31. Mai 2012 um 9:41 PM
Händels „Israel in Egypt“ kann uns immer wieder umhauen! Zu jeder Zeit!
Für Deinen Weg in etwas ganz Neues wünschen wir Dir .. alles Gute .. und wenn Du mal Sehnsucht nach dem Geddo hast, kannst Du ja mal Euer Gästefahrrad benutzen …
Freuen uns auf „The long good-bye (II)“
2. Juni 2012 um 6:32 AM
Ich könnte mir vorstellen, dass die Umwelteinflüsse im Geddo gelegentlich ein wenig erstickend sind, der Exodus daher Potential hat. Monteverdis „Ulisses“ ist mir lieber als Händel,den zumindest einige Musikhistoriker wegen der reduzierten Polyphonie bereits der Frühklassik zurechnen.
3. Juni 2012 um 10:45 AM
Keine Ahnung zu haben gehört zu den besten Vorraussetzungen für ein 18. und jedes weitere Mal des Metamorphosierens.
3. Juni 2012 um 10:58 AM
Das versteh ich jetzt nicht…
4. Juni 2012 um 2:09 PM
Ich sehe, Magister, du wagst ein Abenteuer! 😉
4. Juni 2012 um 2:12 PM
Das is, was mein Job is: Dangerseeker!
15. Juni 2012 um 9:01 PM
Das kannst du nicht machen! Da gehörst du nicht hin! Du bist der Gossenlyriker, der Rinnsteinpoet, der Ghettogoethe. Ohne Ghetto kein Goethe. Ohne Rinnstein keine Poesie. Und ohne Gosse keine Lyrik. Über was schreibst du in Zukunft? Über Gallensteine? Die Batterie im Papiercontainer? Die Filzpantoffeln, die ein Loch haben? Dein Kampf gegen die Falschparker? Das Loch im Eimer? Karl-Otto?
Alles Quark, Alter, alles Liebe und Gute aus Berlin. Einmal Punkrocker, immer Punkrocker.
15. Juni 2012 um 9:55 PM
Ja klar, Punk rules forever. Sex’n’Drugs’n Rockin‘ Rollator. – Hi, Mikeyyyyyy! Nee keine Sorge, ich zieh sieben-, achthundert Meter weiter. Das Geddo bleibt im Blick und die connections erhalten. In Duisburg ist man nie weit vom Geddo, weil dann ist man schon im anderen. Keep on rockin‘!